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Kurze Momentaufnahmen

Helge Buttkereit auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt in Venezuela
Michael Karrer

Mit dem Amtsantritt des Präsidenten Hugo Chávez Frías vor knapp 14 Jahren rückte Venezuela auf einen Schlag in das grelle Licht der „Weltöffentlichkeit“. Während die Mainstreammedien die politischen Umbrüche mit großer Sorge betrachten, sehen Teile der internationalistischen Linken gespannt auf den sogenannten „bolivarianischen Prozess“. Doch auch hier gehen die Einschätzungen über das emanzipatorische Potential des Transformationsprozesses weit auseinander. Diese Polarisierung hat mit den realen Widersprüchen zu tun: autoritäre und militaristische Tendenzen, klientelistische Praktiken sowie inakzeptable außenpolitische Bündnisse konterkarieren die bemerkenswerten Demokratisierungsprozesse, die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und den direkten Anschluss an das Erbe jahrzehntealter sozialer Kämpfe. Chávez erscheint zugleich als Usurpator der sozialen Bewegungen und Hoffungsträger der ökonomisch Marginalisierten.

Seither hat sich die Literatur rund um die Entwicklung in Venezuela multipliziert. Es mangelte weder an entschiedener Zurückweisung, noch an euphorischer bis blinder Bejahung der Regierungspolitik. Vereinzelt meldeten sich Stimmen, die sich jenseits dieser Polarität zu verorten suchten und nachdrücklich für einen Perspektivwechsel eintraten: Solidarische Kritik sollte an die Forderungen der sozialen Kämpfe selbst anknüpfen. Selten jedoch kamen die ProtagonistInnen dieser Kämpfe, die alltäglich an der gesellschaftlichen Basis ausgefochten werden, zu Wort. Die FürsprecherInnen machten allzu oft das Sprechen derer unmöglich, um deren Belange es geht.

Helge Buttkereits „Wir haben keine Angst mehr“ eröffnet dem deutschsprachigen Publikum die Möglichkeit, die Sicht jener BasisaktivistInnen, die sich dem „bolivarianischen Prozess“ verschrieben haben, in sieben ausführlichen Interviews nachzulesen. Dabei kommen u.a. AktivistInnen der Stadtteilorganisationen, Fabrik- und HäuserbesetzerInnen, ein Beamter sowie ein Politiker der Kommunistischen Partei zu Wort. Diese Interviews sind Kern des Buches und füllen zweifellos eine Leerstelle der hiesigen Debatten. Sie bringen die sozialen und politischen Fortschritte der Basis- und Regierungsinitiativen ebenso zum Ausdruck wie die Konflikte mit dem bürokratischen Apparat und Enttäuschungen über verfehlte Regierungsversprechen. Im Zentrum der Gespräche stehen die aktuellen Schwerpunkte des Transformationsprozesses – die Organisation der Stadtteile und Gemeinden in Kommunalen Räten und die Kämpfe um Aneignung von Produktionsmitteln durch Fabrikbesetzungen und den Aufbau von Arbeiterräten.

Hier knüpft der Autor mit zwei Reportagen an, welche die beiden großen Baustellen des „bolivarianischen Prozesses“ an Einzelfällen verdeutlichen sollen. Er besucht den Aktivisten Yoel Capriles im legendären barrio 23 de enero, einem der Stadtteile in Caracas mit der längsten Organisationsgeschichte. Seit die Armensiedlungen unter der Diktatur von Pérez Jiménez 1954 durch eine Wohnanlage für Staatsfunktionäre verdrängt werden sollten, gilt der Stadtteil als Hochburg des Widerstands. Capriles, einst Aktivist der marxistischen Gruppe „Ruptura“, ist der lebende Beweis dafür, dass „die Mobilisierung an der Basis in Venezuela zwar in ihrer Breite erst ein Produkt der Protektion durch die Regierung Chávez ist, aber sie hat Vorgänger und eine lange Tradition.“ Der Aktivist führt den Autor durch das Viertel, um die Errungenschaften des Kommunalen Rates zu veranschaulichen: Die neue Treppe, ausgebesserte Wege und das Kommunale Haus, in dem sich die Nachbarschaft wöchentlich versammelt, seien stille Zeugen der sozialen Verbesserungen. Von der politischen Funktion der lokalen Stadtteilverwaltungen ist leider keine Rede, eine kritische Einschätzung der Kommunalen Räte und deren Zusammenschlüsse zu sogenannten Sozialistischen Kommunen bleibt der Autor uns schuldig.

Hingegen zeigt die Besetzungsgeschichte der Autoglasfabrik Vivex in Barcelona deutlicher die Reibungsflächen und Widersprüche des „bolivarianischen Prozesses“ auf. Nach der Übernahme des hochverschuldeten Unternehmens durch die Belegschaft dauerte der Kampf gegen die bürokratischen Windmühlen zweieinhalb Jahre, bis der Betrieb schließlich verstaatlicht und die Produktion wieder aufgenommen werden konnte.

Die zentrale Frage besteht für den Autor in der Verbindung der beiden veranschaulichten Felder: Die Organisation in den Stadtteilen muss nach seiner Meinung dringlichst mit der Produktionssphäre verbunden werden. Im Anspruch der Sozialistischen Kommunen, die auf eine solche Verbindung abzielen, sieht er einen Schritt in die richtige Richtung. Konkrete Vorschläge, wie eine solche Form der „sozialen Produktion“ umzusetzen wäre, lassen die abschließenden Analysen offen. Allenfalls ist es unerlässlich, der spezifischen, aus dem rentistischen Kapitalismus (dem fast ausschließlich auf den Öleinnahmen basierenden ökonomischen Modell –die Red.) hervorgehenden Klassenzusammensetzung Rechnung zu tragen. So öffnet der Autor den Blick für eine Neubestimmung der revolutionären Subjekte, die aus den Kämpfen gegen die neoliberale Politik des ausgehenden 20. Jahrhunderts hervorgehen: „Generell sind es also die Ausgeschlossenen der neuen neoliberalen Gesellschaften, die sich in den comunidades organisieren.“ Nur durch die Anknüpfung der Kämpfe „in den besetzten Betrieben und in Betrieben unter Arbeiterverwaltung“ an die organisierten Stadtteile und Gemeinden und vice versa, ist ein „Protagonismus als Selbsttätigkeit der Massen“ möglich.

Helge Buttkereit, „Wir haben keine Angst mehr“. Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela, Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2011, 170 Seiten, 14,90 Euro