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Marx dekolonisieren?

Álvaro García Lineras Buch über die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien
Frederik Caselitz

Die bolivianische Regierung wird in Deutschland häufig lediglich mit der Person Evo Morales verknüpft. Doch mindestens genauso viel Bedeutung kommt Alvaro García Linera zu, dem Vizepräsidenten. Viele BolivianerInnen bezeichnen Morales als Gesicht der Regierung und Linera als Kopf. Nicht nur die bewegte Biografie Lineras, der sich vom Guerillero zum Staatsmann wandelte, ist von Interesse. Denn Linera ist einer der wichtigsten radikalen Theoretiker Boliviens. Früher noch der marxistischen akademischen Gruppe La Comuna zugehörig, ist er nun Teil der Regierung und widmet sich der Dekolonisierung Boliviens. Mit seinen alten akademischen Mitstreitern hat er sich inzwischen überworfen, da sie an dem neuen Staatsprojekt mitunter auch Kritik äußern. 

Endlich liegt auch auf Deutsch ein Buch von Linera vor, das eine gute Einführung bietet in das, was den Theoretiker des plurinationalen Staates antreibt. Das Buch besteht aus fünf Essays, die zwischen den Jahren 2001 und 2010 entstanden sind, was insofern interessant ist, als sie genau die Zeitspanne abdecken, in der Linera vom sozialen Aktivisten zum Vizepräsidenten wurde. Linera erklärt in einem vorangestellten Interview mit Jean Ziegler, dass er Marx' Theorie auf den bolivianischen Kontext anwenden will, obwohl Marx die Kolonien auf ihre Rückständigkeit reduziert habe. Dennoch hält Linera viel von den grundlegenden Konzepten von Marx und möchte sie erhalten. 

Sein Ziel ist es also, Marx zu dekolonisieren und insbesondere für Bolivien nutzbar zu machen. Gerade die älteren Essays des Buches schaffen hierfür eine interessante Grundlage. Linera beschreibt zunächst die Reproduktion der bolivianischen Gesellschaft und welche Rolle dabei der indigenen Bevölkerung zukommt. Danach kritisiert er den Ausschluss des Indigenen aus dem allgemeinen Denken und den staatlichen Strukturen. Um diesen Prozess der Leugnung zu überwinden, fordert Linera einen „multinationalen und multizivilisatorischen Staat“, der in seinen Strukturen allen Ethnien, Gruppen und Völkern Boliviens gerecht wird. Dies soll dadurch passieren, dass sich auch in den Institutionen des Staates Organisationsmechanismen aus den ayllus, den traditionellen Dorfgemeinschaften der Anden, finden sollen. Zentral dafür ist auch die Anerkennung von kollektiven Rechten der kulturellen Identitäten. In den weiteren Essays behandelt er die Krise des alten bolivianischen Staates und die Unterschiede zwischen Indigenismus und Marxismus als politischen Ideologien.

Der aktuellste Essay von Linera verdient besondere Aufmerksamkeit, da hier nicht mehr nur der Soziologe Linera schreibt, sondern vor allem der Politiker. Sind seine Analysen im ersten Teil des Buches noch kritisch auch gegenüber dem Multikulturalismus und enthalten die Warnung vor „einer generellen Kooptation der indigenen Führungskader durch den Staat“, so denkt er nun, die herrschende (neue) Elite sei identisch mit den Volksmassen. Linera schreibt wörtlich: „Das, was heute in Bolivien passiert, ist deshalb nicht eine einfache Veränderung der machthabenden Eliten, sondern ein tatsächlicher Austausch der Klassenzusammensetzung der Macht im Staat.“ Mit anderen Worten, das regierende Personal ist nun identisch mit den Klassen, die es vertritt. Hier zeigt sich, dass es für ihn nur zwei Bewegungen gibt: diejenigen, die der Macht und damit der Regierung nahestehen und diejenigen, die dagegen sind. Dass sich auch in den sozialen Bewegungen erhebliche Unterschiede zwischen z.B. traditionell indigenen und gewerkschaftlich organisierten Kokabauern finden, ist nun nicht mehr relevant.

Schon hier deutet sich das heutige Freund-Feind-Denken der Regierung Morales an. Sprachlich sehr weit hergeholt spricht García Linera von einem „Bifurkationspunkt“, ab dem sich ein Staatsmodell stabilisiert und ein Wechsel im Staatsmodell abgeschlossen ist. Dieser Punkt ist für ihn 2008 eingetreten, weswegen er fast schon messianisch in die Zukunft blickt und von blühenden Landschaften spricht. Letztlich unterscheidet sich das Wirtschaftsprogramm, das er beschreibt, nicht so sehr von den grundlegenden Zielen der Dependenztheorie: Der Staat stellt sich in den Mittelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung und fördert dadurch nationale Produzenten. Der Unterschied bei Linera ist, dass nun nicht mehr große Unternehmen gefördert werden sollen, sondern letztlich die Kleinbauern, die damit Gemeinden und andere Strukturen erhalten. Unbeachtet bleibt von Linera, dass derartige Staatsprojekte nach wie vor an den Weltmarkt gekoppelt sind. Das heißt, so lange die Preise für Erdgas hoch sind, bleibt auch das Staatsmodell erfolgreich, andernfalls nicht. Insbesondere im letzten Essay merkt man den Unterschied zwischen dem Soziologen Linera und dem Vizepräsidenten. Hatte er zuvor noch detailliert jede kleinste Abspaltung der Bewegungen erklärt, so ist für ihn nun ein homogener Staat entstanden, der trotz ähnlicher Strukturen wie in vorangegangenen Staatskapitalismen nun etwas gänzlich Neues entstehen lässt. Von der Dekolonisierung ist hier nicht mehr viel zu finden.

Álvaro García Linera, Vom Rand ins Zentrum: Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien, Rotpunktverlag Zürich, Januar 2012, 300 Seiten, 28,- Euro