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Da gibt es kein Zurück

Out of the Absurdity of Life. Globale Musik von Norient
Britt Weyde

Mit kritischem Geist und Liebe zur Nische“, so steht es im Aufmacher zum ersten Buch des Online-Netzwerks Norient. Das macht Appetit. Das Vorwort klärt über den kryptischen Titel auf, der eine Erklärung des serbischen Musiker Shonegrad O'Connor aufgreift: „Unser Hauptbezugspunkt ist die Absurdität des Alltags“. Wobei eben jener Alltag ganz konkret und sehr lokal ist – Globalisierung hin oder her – und für viele der in diesem Band vorgestellten Musikstile eine wesentliche Rolle spielt. Denn der Alltag wird umso absurder, je näher man ihn unter die Lupe nimmt.

In Reportagen, Interviews und wissenschaftlichen Aufsätzen auf Deutsch und Englisch begibt sich das Buch auf eine Reise von der Schweiz über den Balkan, den nahen Osten, nach Indonesien, Ghana, Kamerun, Brasilien, die USA, die Karibik und schließlich in alle lateinamerikanischen Länder, in denen die Cumbia groß geworden ist. Für eine gewisse Luftigkeit zwischen den Texten sorgen eingestreute Zitate, Notizen von Feldstudien, Fotoreihen, Abbildungen von Plattencovern oder Konzertplakaten sowie Songtexte.

Um welche „globale Musik“ geht es nun im Norient-Buch? Herausgeber Thomas Burkhalter sorgt in seinem Aufsatz „Weltmusik 2.0 – Musikalische Positionen zwischen Spaß- und Protestkultur“ für Hintergrundinfos und Definitionen. Und beginnt mit einer These, die den ganzen Band durchzieht: Das alte Modell vom Zentrum und der Peripherie ist nicht mehr gültig. Für die Musik bedeutet das: „Moderne und Zeitgeist entstehen heute polyzentrisch im Austausch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden.“ Im Anschluss wird der Begriff „Weltmusik 2.0“ erläutert, die Musik der weltweiten Urbanisierung und der interaktiven Internetplattformen: Aufgrund der vereinfachten Produktions- und Distributionsbedingungen haben MusikerInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika viel mehr Möglichkeiten als vor etwa 20 Jahren; verbreitet und konsumiert wird diese Musik jedoch auch in den USA und Europa – gewisse Asymmetrien, was Macht, Ressourcen, Deutungshoheit etc. betrifft, bestehen zum Teil nach wie vor fort. Exotische Themen oder Settings kommen teilweise explizit, mitunter in überzogener Form in dieser Musik vor, quasi als ironisches Selbstzitat. Das ist aber kein Muss, häufig sind auch schlicht Gewalt, Krieg und Sex die dominierenden Inhalte. Es fehlt auch nicht an neuen, marktschreierischen Etiketten, etwa „Global Ghettotech“, „Worldtronica“ oder „Tropical Bass“.

Ein weiterer Beitrag auf übergeordneter Ebene stammt von Olaf Karnik, der in „Retromania“ die wichtigsten Thesen aus Simon Reynolds stark rezipiertem Buch Retromania. Pop Culture's Addiction to Ist Own Past skizziert. Seit Anfang des Jahrtausends befindet sich die Musikwelt im Nostalgiemodus: Band-Reunions, Revivals und Retromoden sind allgegenwärtig, Archivgräber haben Konjunktur; letztlich wird damit jedoch Innovation verhindert. Reynolds stellt nachdenkenswerte Analogien her: Sowohl postindustrielle Gesellschaft als auch postmoderner Pop seien von Postproduktion und Rekombination geprägt. Und verweist die Retrokultur letztlich nicht auf die ökonomische Rezession? Auf jeden Fall habe sich die Popkultur „an ihr Ende erneuert“, musikalischer Fortschritt sei nur von Ländern der „Dritten Welt“, von Indien oder China zu erwarten.

Der recht akademische Aufsatz „MP3 Blogging and the Urban Soundscape“ von Portia Seddon hat eine vielversprechende Themenstellung und wirft u.a. die für ethnografische Studien relevante Frage auf, wie eine bestimmte „Gemeinschaft“ untersucht werden kann, deren Mitglieder geografisch zerstreut sind und deren soziale Interaktion online stattfindet. Welche Rolle spielt die Positionierung des Forschenden, wenn sie/er digitale Communities untersucht? Wie sieht es überhaupt mit Machtstrukturen im „globalen Ghetto“ aus? Die DJs und Blogger, die afrikanische oder karibische Sounds ausgraben, remixen und online verbreiten, sind meist weiße, heterosexuelle, männliche Metropolenbewohner. Inwiefern wiederholen diese Blogger mit ihrer Praxis die alte Konstruktion vom exotischen „Anderen“, den sie gleichzeitig auf beste neokoloniale Manier ausplündern? Leider wirft der Beitrag mehr Fragen auf, als er Antworten bereit hält.

Glasklar hingegen der Essay „Oh wie schön ist Panama – Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Musikethnologie in der heutigen Welt“ von Ila-Autor Julio Mendívil, der auf gerade mal 14 Seiten die Geschichte der Musikethnologie – samt ihrer Irrungen und Wirrungen – erzählt, die vor etwa 100 Jahren im deutschsprachigen Raum entstand. Zunächst waren auch hier eurozentristische Wahnvorstellungen vorherrschend, etwa die evolutionistische Annahme der frühen Musikethnologie, dass alle Kulturen dieselbe musikalische Entwicklung durchlaufen würden, allerdings in unterschiedlichem Tempo. Differenzen zwischen den Musikkulturen seien demzufolge auf unterschiedliche Entwicklungsstadien zurückzuführen, wobei natürlich die westliche Musikkultur an der Spitze stehe. 100 Jahre später und nach erfolgreicher Intervention der postkolonialen Kritik, in „einer Welt, in der alles zur Collage wird, fragt sich die erstaunte Musikethnologin oder der verzweifelte Musikethnologe, wie die Differenz erfasst und dargestellt werden kann und wo sie hingehört.“ Mendívils Antwort: Nicht das „notwendige Verschwinden der Musikethnologie“, wie es Martin Greve einfordert, sei angesagt, sondern aus der Not eine Tugend zu machen: „dem Anderen im eigenen Haus auf die Spur zu kommen sowie die Ähnlichkeiten mit den Anderen im fernen Panama er- und zu vermitteln“.

Neben diesen erhellenden Beiträgen auf der Metaebene bietet der Band eine Menge lokaler Einblicke, so etwa in „Voodoozauber hinterm Wolkenkratzer“ von Milena Krstic: Die Reportage erzählt von karnevalesken, exzessiven Voodoohop-Parties in leerstehenden Häusern in São Paulo. Die Namensgebung bezieht sich auf die Trance, die im Voodoo und eben jenen Parties zum Tragen kommt. „Und ‚hop', ja, das klingt halt einfach gut“, so der Deutsche Thomas Haferlach, Mitveranstalter der Reihe.

Der australische DJ, Produzent und Autor Moses Iten gibt in „Insider's Perspectives on New Wave Cumbia“ einen guten Überblick über die Entstehung der Cumbia digital (zu Ursprung, und Weiterentwicklung der Cumbia siehe auch ila Nr. 253 „Cumbia. Soundtrack Lateinamerikas“). „Cumbia ist eine Bombe mit einer Jahrhunderte langen Zündschnur“, zitiert Moses Iten den US-amerikanischen DJ, Produzenten und Musikjournalisten Jace Clayton. Und in der Tat schien vor wenigen Jahren die Maschine heißzulaufen. Doch die digitale Cumbia war der Ausgangspunkt für neue Genres wie Tribal Guarachero oder Moombahton; diese Weiterentwicklung hat der Cumbia selbst eine Atempause verschafft. Und sie macht weiter. Durch den Boom der digitalen Cumbia ist gleichzeitig eine Welle von Neuveröffentlichung von klassischer Cumbia ausgelöst worden. „Cumbia ist die Zukunft ist die Vergangenheit“ heißt es zum Abschluss des Beitrags so lapidar wie zutreffend.

Jenseits der Phänomene, die sich in Lateinamerika abspielen, stößt die vielseitig interessierte Musikliebhaberin auf so Manches, das den Horizont erweitert: zum Beispiel auf ein schönes Interview über die Erfahrungen als Auflegerin, das die Herausgeberin Theresa Beyer mit DJ Marcelle aus Amsterdam führt. Herausragendes Bonmot: „Die Behauptung, dass früher alles besser war, kann ich nicht mehr hören. Es wird immer tolle und spannende Musik gemacht, dafür sollte man offen sein!“

Der Elektronikfrickler Filastine aus Barcelona meint, dass die „meiste globale elektronische Musik nach Exotismus oder Oberflächlichkeit stinkt oder auf einen so einfachen Nenner runtergebrochen ist, um mehr Leute anzusprechen.“ Allerdings hätten die neuen Werkzeuge und schnellen Verbindungen alle Kulturen in polyglotten Städten zusammengeworfen, die als Schmelztiegel für neue Pidgin-Hybridisierungen von Sprachen, Kultur und Musik fungieren. „Da gibt es kein Zurück“.

Auch die Reportage „Zwischen Hiplife und Afrofunk“ von Stefan Franzen lotet das Spannungsverhältnis zwischen „alter“ Weltmusik und Weltmusik 2.0 aus und erklärt sehr überzeugend die historischen und soziopolitischen Hintergründe. „Hiplife wurde als Teil eines Anti-World-Music-Zyklus geboren, der sich in vielleicht 20 Jahren vollenden wird. Bassekou Kouyate oder Amadou & Mariam, die Weltmusikstars bei euch, haben und hatten keine gesamtafrikanische Relevanz – niemand spielt ihre Musik auf der Straße“, zitiert der Autor den Hiplife-Produzenten Panji Anoff aus Ghana. Exotische Welten eröffnen sich für die Rezensentin in den Beiträgen „Neue Volksmusik in der Schweiz“ oder „Die Alpfahrt“. Im letzten Textbeitrag, der Reportage „Once upon a grime in London“, stellt Philipp Rhensius den Zusammenhang zwischen Grime-Musik, repressiver Politik und Jugendunruhen in London her. Da wird es noch mal hochpolitisch, wenn der Autor das Formular 696, die polizeiliche Richtlinie der Metropolitan Police vorstellt, die es ihr ermöglicht Grime-Partys aufzulösen oder im Vorhinein zu verbieten: „Die Polizei kann immer noch entscheiden, welche Ethnie und welche Szenen Events veranstalten dürfen.“

Out of the Absurdity of Life ist eine Gratwanderung: Dieses Buch, per se ein analoges Medium, ist aus der Blogsphäre heraus entstanden, was sich zum Einen am Seitenlayout festmachen lässt (Zwischenüberschriften, die wie Hyperlinks aussehen), an der Länge der Texte (überraschend kurz, ohne dabei flach zu sein), an den Sujets (die immer wieder um den Quantensprung kreisen, den Digitalisierung, Internet und vereinfachter Zugang zu Produktions- und Distributionstechniken ausgelöst haben) und an der Tatsache, dass einige der Texte auch auf dem Norient-Blog versammelt sind, eingebunden in themenspezifische Dossiers. Diese Grätsche zwischen analog und digital gelingt durchaus: Der Sammelband bereitet ein haptisches, optisches und intellektuell anregendes Vergnügen, und wer sich auf den dazugehörigen Blog begibt, kann sich durch die passenden Videos zappen oder weitere Texte aufstöbern. Auch sehr hübsch: Im Pappumschlag sind wie in einem Lexikon Stichworte aus dem Buch zum Nachschlagen aufgelistet. In der schwindelerregenden globalen Musikwelt bietet dieser Band Hintergründe, Denkanstöße und Orientierung. Und immer wieder griffige Schlussfolgerungen. So etwa vom brasilianischen Wissenschaftler Ronaldo Lemos: „Die Musikszenen flammen überall dort auf, wo es einen Computer, Kreativität und Leute gibt, die tanzen wollen“. Danke, Norient.

Theresa Beyer, Thomas Burkhalter (Hrsg.), Out of the Absurdity of Life. Globale Musik, Traversion, Deitingen 2012, Broschur, vierfarbig, 328 S., 28,- Euro

Die Blogseite zum Buch (u.a. mit Videos von im Buch besprochenen KünstlerInnen): http://norient.com/de/academic/norientbook012/