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Portrait einer argentinischen Parallelwelt

Buchbesprechung: „Betibú“ von Claudia Piñeiro
Klaus Jetz

Auch „Betibú“, Claudia Piñeiros fünfter Roman in deutscher Übersetzung, hat es wieder in sich: kurzweilige Spannung bis zum Schluss, bissige Sozialkritik und überzeugende Psychologisierung der Charaktere. Die Autorin fesselt uns, liebt es, falsche Fährten zu legen, setzt alles daran, dass wir ihre ProtagonistInnen mögen. Und dennoch: Auch wenn wir das Buch kaum wieder aus der Hand legen wollen, empfiehlt sich eine ruhige, entspannte Lektüre. Man braucht Muße und immer wieder ruhige Momente, um die Eindrücke sacken zu lassen. Denn eine allzu neugierige Hast durch die fast 350 Seiten des Romans birgt die Gefahr, Anspielungen und Verwicklungen, Stimmungen und Lektionen zu übersehen und zu verpassen.

Die Handlung ist in Buenos Aires und in einer in Argentinien Country genannten Wohnlage für Reiche (La Maravillosa) in der Nähe der argentinischen Hauptstadt angesiedelt. Hier geschieht ein Mord: Trotz aller ghettoisierenden Vorsichtsmaßnahmen durch privates Wachpersonal, trotz Sicherheitsanlagen und Abschottung nach außen wird Pedro Chazarreta in seinem Haus mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Alles deutet auf einen Selbstmord hin, doch ein Journalisten-Trio wittert ein Verbrechen und ruht nicht eher, bis der Fall aufgeklärt ist.

Die Romanautorin Nurit Iscar, Alter ego von Claudia Piñeiro, ist Teil des Trios. Ihr Partner Jaime Brena, ehemals Polizeireporter von El Tribuno, tauft sie in Anspielung auf ihre Lockenpracht nach der Comicfigur Betty Boop Betibú. Dritter im Bunde ist Brenas Nachfolger in der Redaktion, ein namenloser Junge und „Kleiner“ genannter Internetfreak, ein angehender Journalist, den der aufs Altenteil abgeschobene Brena unter seine Fittiche nimmt. So kommt es, dass Aufklärung und Journalismus ein zentrales Thema des Romans sind. Auch wenn am Ende der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird, so doch wenigstens der Wahrheit. Immer wieder nimmt Brena in seinen Lektionen über Journalismus Bezug auf sein Vorbild, den aufklärerischen und revolutionären Autor und Journalisten Rodolfo Walsh.

El Country, dieses argentinische Phänomen eines Staats im Staate, einer exterritorialen Zone mit eigenem Recht und Gesetz, war schon Thema in Piñeiros Bestseller „Die Donnerstagswitwen“ (2010). Die Autorin sprach damals von einem typisch argentinischen Thema, das aber auch universell gedacht werden könne. Sie sagte mir auf der Frankfurter Buchmesse 2010: „Als der Roman „Die Donnerstagswitwen“ erschien, schrieb die spanische Autorin Rosa Montero in El País, dieses Ambiente des abgeschotteten Familienlebens in städtischen Siedlungen oder Ghettos des Wohlstands erinnere sie an die Abschottung Europas gegen Afrika, an die Festung Europa, die krampfhaft versuche, ihren Wohlstand gegen den Ansturm der Elenden zu verteidigen. Natürlich geht es in dem Roman um die argentinische Wirtschaftskrise der 90er-Jahre, den Bankrott von 2001, eine Krise, die Argentinien wahrscheinlich viel schlimmer getroffen hat als die derzeitige weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Die europäischen Leser werden die Folgen der Arbeitslosigkeit und des Wohlstandsverlustes, die ich in meinem Roman beschreibe, heute viel besser nachvollziehen können.“

Dies ist auch Thema in „Betibú“: Der Staat hat sich aus La Maravillosa zurückgezogen, wie übrigens auch aus den Bereichen Bildung, Gesundheit, öffentliche Sicherheit. Der Privatsektor hat übernommen. Morgens stehen die Bediensteten der Reichen Schlange am Seiteneingang und werden vom Wachpersonal schikaniert, erniedrigenden Prozeduren und Kontrollen unterzogen. Ein Fernsehteam kommt ohne Genehmigung nicht auf das Privatgelände, und selbst die Polizei braucht eine richterliche Genehmigung, um im Todesfall Chazarreta zu ermitteln. Betibús Aufgabe in La Maravillosa ist es, im Auftrag von El Tribuno aus dem Wohlstandsghetto zu berichten und Eindrücke für die LeserInnen aus der Welt der Reichen zu liefern. Es kommt zu einem regelrechten Wettlauf der Medien um Nachrichten über Chazarretas Tod, zumal es bald weitere Todesfälle gibt, die alle miteinander in Zusammenhang stehen.

Nur die akribische journalistische Recherche bringt das Trio auf die Spur des Mörders, während eine korrupte Polizei im Dunkeln tappt und von Selbstmorden ausgeht. Doch die Frage nach dem Hergang der Verbrechen und die Motivation, die sich hinter den Morden verbirgt, stehen nicht im Zentrum des Romans. Für Piñeiro sind die Verbrechen und deren Umstände nur das Vehikel, um die argentinische Gesellschaft aufs Korn zu nehmen. Kritik und Schilderung unhaltbarer Zustände, eine Folge der Fehlentwicklung seit den 90er-Jahren, sind die eigentlichen Themen des Romans.

So baut sich en passant vor unseren Augen das Portrait einer argentinischen Parallelwelt auf, die Claudia Piñeiro bestens vertraut ist, wohnt sie doch selbst seit Jahren mit ihrer Familie in einem Country, einer vermeintlich heilen Welt, die sie in ihren Romanen immer wieder hinterfragt.

Claudia Piñeiro, Betibú, Unionsverlag Zürich 2013, 349 Seiten, 21,95 Euro