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Ein Widerspruch?

Unterschiedliche Einschätzungen zu Jorge Bergoglio
Gert Eisenbürger

Während sich argentinische Menschenrechtsgruppen wie die Madres de la Plaza de Mayo oder das Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) sehr kritisch zur Wahl Jorge Bergoglios zum Papst geäußert haben, wurde sie von Befreiungstheologen wie Leonardo Boff, dem aus Österreich stammenden brasilianischen Bischof Erwin Kräutler oder Pa'í Oliva (siehe Interview in dieser ila) begrüßt. Diese gegensätzlichen Stellungnahmen überraschen zunächst, denn auch die genannten Theologen sind seit Jahrzehnten engagierte Kämpfer für politische und soziale Menschenrechte. Berücksichtigt man jedoch den jeweiligen Rahmen, in dem die Organisationen und Personen agieren, klärt sich der vermeintliche Widerspruch.

Die Menschenrechtsgruppen wurden während der argentinischen Militärdiktatur meist von Angehörigen der Opfer des Staatsterrorismus gegründet, um sich gegenseitig bei der Suche nach ihren verschleppten Kindern, Männern und Frauen zu unterstützen. Seit dem Ende der Diktatur kämpfen sie für Wahrheit und Gerechtigkeit. Das heißt für die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen sowie die juristische Verfolgung der Verantwortlichen der Diktatur und der Institutionen und Unternehmen, die sie unterstützt und von ihr profitiert haben. Dazu gehörten auch große Teile der Katholischen Kirche. Wenn sich die Menschenrechtsgruppen also heute zu Jorge Bergoglio äußern, beziehen sie sich auf seine – vorsichtig ausgedrückt – unklare Haltung während der Diktatur und seine klare Haltung danach. Letztere bestand nämlich darin, eine Aufarbeitung der Rolle der Kirche in der Diktatur zu vermeiden und die Kleriker zu schützen, die die Repression aktiv unterstützt haben. Dass Menschenrechtsorganisationen die Wahl Bergoglios kritisch sehen, kann daher kaum überraschen.

Dagegen agieren die Befreiungstheologen weiterhin in der Institution Kirche. Nach dem politisch-theologischen Aufbruch mit der Bischofskonferenz von Medellín im Jahr 1968 erlebten sie, dass die Befreiungstheologie und die „Option für die Armen“ spätestens mit der Wahl Karol Wojtilas zum Papst 1978 sowie der Ernennung Josef Ratzingers zum Präfekten der Glaubenskongregation 1981 und seiner späteren Wahl zum Nachfolger Wojtilas systematisch zurückgedrängt wurden. Das geschah ideologisch in entsprechenden Verlautbarungen, aber vor allem durch die vatikanische Personalpolitik, die schlicht darin bestand, einen fortschrittlichen Bischof, der aus Altersgründen sein Amt aufgab, durch einen konservativen Nachfolger zu ersetzen – zumindest überall dort, wo das möglich war. Darauf folgte dann stets die Säuberung der theologischen Ausbildungsstätten. Das führte letztlich dazu, dass die Befreiungstheologie weitgehend marginalisiert wurde.

Die verbliebenen Befreiungstheologen hoffen nun, dass nach Karol Wojtila und Josef Ratzinger, für die die soziale Frage kein Thema war, ihr der neue Papst mehr Bedeutung zumisst, Das könnte der Befreiungstheologie möglicherweise neue Räume eröffnen, auch wenn Bergoglio selbst bisher wenig Sympathien für sie gezeigt hat.