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Medienmacht und Demokratie

Ein Sammelband über die lateinamerikanische Medienlandschaft und die deutsche Berichterstattung
David Nax

Vorwürfe der Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit durch lateinamerikanische (Mitte-Links-) Regierungen gehören inzwischen zum Standardrepertoire vieler deutscher Medienorgane. Dabei wird „Pressefreiheit“ zu einem „leeren Signifikanten“, welcher mit Bedeutungen aufgeladen wird, die wenig mit der Intention dieses politischen Ideals im Sinne der Aufklärung zu tun haben. Die Vorwürfe bleiben ahistorisch und stellen nicht die besondere Ausgangssituation Lateinamerikas in Rechnung, die als postkoloniale Gesellschaften durch eine Phase von Militärdiktatur und unmittelbar daran anschließender neoliberaler demokratischer Öffnung geprägt sind. In diesen Gesellschaften gibt es starke Oligarchien, welche ihre Interessen mittels einer in ihren Händen liegenden Medienkonzentration durchsetzen und damit als politische Opposition fungieren. Der Sammelband „Medien und Demokratie in Lateinamerika“, herausgegeben von der Lateinamerikagruppe Marburg, unternimmt diese notwendige Kontextualisierung und zeigt auf, dass anstelle eines „Verlusts der Pressefreiheit“ sich weitaus komplexere und durchaus progressive Prozesse vollziehen.

Der Band gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst werden einige allgemeine Charakteristika lateinamerikanischer Medienlandschaften herausgearbeitet. So wird das Ausmaß der Vormachtstellung einzelner privater, international vernetzter Medienkonzerne und der hierdurch beförderte Nutzen für die ökonomischen Eliten analysiert, deren Ausmaße aus bundesdeutscher Perspektive schwer nachvollziehbar sind. Ein hierzulande selbstverständlicher öffentlich-rechtlicher Mediensektor, der jenseits staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen fungiert (davon merke ich in ARD und ZDF aber eher wenig – d. Säz.) und durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen gestaltet wird, war über lange Zeit in Lateinamerika kaum existent. Somit kann die Entmachtung des Medienmonopols zugunsten einer unabhängigen, alternativen Medienkultur sowie lokaler, kommunitärer Kräfte neue diskursive Räume eröffnen und zu einer nachhaltigen Demokratisierung der Gesellschaften führen. Ob die verabschiedeten Mediengesetzte tatsächlich eine solche Entwicklung befördern, muss sich allerdings noch zeigen. Innerhalb der Mitte-Links-Regierungen gibt es eine Tendenz zu Populismus und Zentralisierungen, welche in manchen Fällen quer zu den Interessen sozialer Bewegungen liegt.

Im zweiten Teil des Bandes finden sich ausführliche Länderbeispiele, welche die Medienstrukturen und neuen Mediengesetze in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Argentinien behandeln. In weiteren Beiträgen fächert sich die Themenpalette auf. So erläutert eine Studie die ideologische Funktionsweise von Meldungen zu Gewaltverbrechen in Zentralamerika, ein weiterer Artikel rekonstruiert Gegenöffentlichkeit und Repression in Honduras nach dem Putsch. Interessant ist auch ein Beitrag zur Bedeutung des Internets für indigene Gemeinschaften in Brasilien. Viele indigene Gruppen haben eigene Praxisformen entwickelt, welche ihnen extrem beschleunigte Kommunikationswege und eine eigenständige Artikulation ihrer Interessen gegenüber der Außenwelt ermöglichen. 

Im dritten Teil setzt sich der Band mit der Berichterstattung deutschsprachiger Medien auseinander. Deren Meldungen und Reportagen bilden Geschehnisse in Lateinamerika häufig hochgradig selektiv ab und arbeiten mit dramatisierenden Zuspitzungen auf dünner empirischer Grundlage. AuslandskorrespondentInnen greifen routinemäßig auf Berichte privater lateinamerikanischer Medienkonzerne zurück, die in vielen der fortschrittlicheren Länder der Opposition nahe stehen. Somit sind alternative Informationsmedien wichtig. Als Bespiele dafür werden am Ende des Bandes die „Lateinamerika-Nachrichten“ sowie das Online-Projekt „Nachrichtenpool Lateinamerika“ vorgestellt.

Die Analyse des Machtkomplexes von Oligarchie, Medien und politischer Instrumentalisierung wird von den Beiträgen des Sammelbandes sehr gut ausgeleuchtet. Es zeigt sich deutlich, dass die in Teilen Lateinamerikas politisch erkämpften Mediengesetze eine demokratische Errungenschaft darstellen. Der Band bietet zudem eine interessante Mischung verschiedener Textgattungen an, so kommen neben politikwissenschaftlichen Analysen auch Dokumentationen wie ein Interview mit einem Basisradio in El Salvador und eine Bilanz des Begründers des Fernsehsenders Telesur zur Geltung.

Lateinamerikagruppe Marburg (Hrsg.), Medien und Demokratie in Lateinamerika. Manuskripte 95, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dietz-Verlag, Berlin 2012, ISBN: 978-3-320-02281-5, 16,90 EUR. Auch online erhältlich unter /www.rosalux.de/publication/38498/medien-und-demokratie-in-lateinamerika.html