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Soldat der Weltrevolution in Lateinamerika

Eine Biographie von Jan Andries Jolles alias Manuel Cazón
Reiner Tosstorff

Literaturwissenschaftler werden mit dem Namen Jolles das Buch „Einfache Formen“ von 1930 assoziieren. Solche einfache (und ursprünglich mündliche) Formen der Erzählung sind z. B. Sagen und Legenden. Der Autor dieses Buchs, André Jolles, war der Vater des hier vorzustellenden Jan Andries Jolles. Die Geschichte beider ist nur vor dem Hintergrund der Wendungen des zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen, und speziell dessen, was der italienisch-französische Historiker Enzo Traverso noch jüngst den europäischen Bürgerkrieg genannt hat, der allerdings auch auf die ganze Welt ausstrahlte, wie sich hier zeigt.

André Jolles (1874-1946) war ein niederländischer Wissenschaftler mit breiten Interessen, der sich von der antiken Kunst zur Literaturwissenschaft vorarbeitete. Deutschland-begeistert studierte er im wilhelminischen Reich und wurde schließlich Privatdozent an der Berliner Universität. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig auf deutscher Seite, was ihm die Staatsbürgerschaft einbrachte. Ein weiteres Ergebnis war eine Professur an der von der deutschen Besatzungsmacht zwecks Beförderung des Separatismus eingerichteten „Flämischen Hochschule“ in Gent, wofür er nach der Befreiung des Landes in Abwesenheit verurteilt wurde, denn er war mit Kriegsende nach Deutschland zurückgekehrt. Dort erhielt er dann eine Professur in Leipzig. Hatte er nach 1918 vorübergehend Sympathien für die neugegründete KPD gehegt, wurde er schließlich im Jahre 1933 Mitglied der NSDAP. Auch mit diesem Deutschland identifizierte er sich und wurde entsprechend geehrt. Einer Inhaftierung im Jahre 1945 entging der inzwischen emeritierte Professor nur aufgrund seines Alters, um im darauf folgenden Jahr Selbstmord zu begehen.

Ganz anders dagegen der Lebenslauf seines 1906 geborenen Sohns. Über seiner Jugend lag zunächst als Schatten die Trennung der Eltern nach Kriegsende. Er entschied sich, zu seinem Vater zu ziehen, während die Mutter – Tochter des langjährigen Hamburger Bürgermeisters Johann Georg Mönckeberg – nach Hamburg zurückkehrte. Doch der Vater stellte sich für den Sohn als zwar bewunderter, aber auch unnahbarer Patriarch dar. Zwar inspirierte ihn die von seinem Vater für einige Zeit beanspruchte linke Einstellung. Er brach seine Schulausbildung ab und entschied sich schließlich zu einer Lehre als Buchbinder, um sich dem „revolutionären Proletariat“ anzuschließen. Das dürfte aber auch eine Art Rebellion gegen seinen Vater ausgedrückt haben, und entsprechend seinem Alter und seiner Herkunft war er mehr jugendbewegt („Wandervogel“ – wie er später schrieb) aktiv denn als jungkommunistischer Kader. Das deutete sich auch darin an, dass er sich mit 18 Jahren entschloss, aus Deutschland fortzugehen. In Europa konnte er jedoch nicht richtig Fuß fassen und entschied sich schließlich für Lateinamerika, was sein weiteres Leben bestimmen sollte.

Nach ersten Versuchen in Uruguay und Brasilien war er in Argentinien erfolgreicher. Dazu gehörte auch die Mitgliedschaft in der argentinischen KP – bedeutender als die kommunistische Bewegung im übrigen Lateinamerika –, wo er schnell „Karriere machte“. Den Einstieg hatte ihm offensichtlich erleichtert, dass er, wohl schon zuvor in Uruguay, den Eindruck eines Art Abgesandten der niederländischen KP-Jugend, und wer weiß, vielleicht sogar auch aus Moskau, erweckt hatte.

Argentinien hatte in den Jahrzehnten zuvor eine starke Einwanderung erlebt und kannte die – am europäischen Modell gemessen – am stärksten entwickelte Arbeiterbewegung. Sie war sehr differenziert, mit einer bedeutenden anarchistisch-syndikalistischen Bewegung, aber auch einer Sozialistischen Partei, beide stark von den Vorbildern in Spanien und Italien geprägt – den Ursprungsländern der meisten EinwandererInnen. Dazu kam auch noch eine umfangreiche jüdische Immigration aus dem alten Zarenreich, die ideologisch noch zersplitterter war. In einer so nach allen Kriterien heterogenen Linken zeichnete sich auch die KP, entstanden aus einer Linksabspaltung der Sozialisten, zu der dann noch Gruppierungen aus dem Anarchismus und Syndikalismus hinzustießen, durch starke Fraktionierung aus.

In diesem von inneren Auseinandersetzungen bestimmten Milieu, mit dem ihn ja eigentlich nichts direkt verbunden hatte, nahm er gleich die Möglichkeit wahr, sich zu profilieren. In jenem Jahr 1925 hieß das, sich gegen die alte Parteiführung zu stellen und sich nach den Signalen aus Moskau zu richten. Diese waren ganz von dem Kampf gegen den „Trotzkismus“ bestimmt. Er nahm das mit Artikeln in der Parteipresse auf und wurde schnell mit Führungsaufgaben betraut, während die Partei mehrere Abspaltungen erlebte. Zum schnellen Aufstieg gehörte eine Beförderung in das ZK der KP Argentiniens und auch zum Delegierten der Partei auf der Konferenz der lateinamerikanischen kommunistischen Parteien im Juni 1929. Politisch erfolgte das unter dem Vorzeichen der damaligen ultralinken Linie des Kommunismus: Ablehnung jeglicher Bündnisse, da alle Gegner nur Varianten des Faschismus darstellten (z. B. „Sozial-“ oder „Anarchofaschismus“), Spaltung der Gewerkschaften durch die Bildung exklusiver kommunistischer Verbände, antiimperialistischer Kampf ausschließlich unter kommunistischer Führung usw. Organisatorisch war damit die Herausbildung der stalinistischen Apparate nach den erfolgten Parteisäuberungen abgeschlossen. Diese Politik fand ihren tragischen Höhepunkt aber nicht in Lateinamerika, sondern in Deutschland 1933, wo der Faschismus über die gespaltene Arbeiterbewegung siegte.

Dieses Ergebnis konnte Jolles hautnah erleben. Denn unter dem 1930 nach einem Putsch unter Führung des Generals Uriburu zustande gekommenen Militärregime wurde er verhaftet. Das war zwar nicht das erste Mal gewesen. Schließlich war er nicht legal eingewandert, benutzte zwar Pseudonyme, aber trat oft auch unter seinem Nachnamen Jolles auf. Doch in der veränderten politischen Situation war es diesmal ernster. Nach über einem Jahr Haft wurde er nach Deutschland abgeschoben, wo er im April 1933 ankam. Ihn rettete, dass die deutschen Behörden nicht über die Abschiebungsgründe informiert waren. So konnte er als freier Mann in Hamburg von Bord gehen. Dort fand er die Unterstützung seiner Mutter, mit der er über die Jahre Kontakte gepflegt hatte. Sie wiederum kümmerte sich von Hamburg aus mehr als er um die Unterstützung seiner zurückgebliebenen argentinischen Frau und Kinder. Während seine Mutter unpolitisch war, musste er feststellen, dass es in der Familie inzwischen eine Reihe erklärter Nazis gab.

Nach Versuchen einer Kontaktaufnahme mit der illegalen KPD, die darauf erwartbar misstrauisch reagierte, reiste er nach Moskau, wo er, ebenfalls zunächst kritisch überprüft, regelrecht „befördert“ wurde. Inzwischen auch mit einer neuen Identität als Manuel Cazón versehen, wurde er als „Instrukteur“ der Komintern1 zur Unterstützung eines Revolutionsversuchs in Brasilien zurückgeschickt. Dieser scheiterte 1935, die Geheimpolizei der Diktatur von Getúlio Vargas war den Vorbereitungen auf die Spur gekommen.2 Doch Jolles hatte schon vorher Brasilien verlassen müssen aufgrund von Auseinandersetzungen mit einem Führer der argentinischen KP, ein Echo der alten Fraktionskämpfe in der Partei. Er wurde über den Umweg Chile, wo er einige Monate in die Führungskämpfe der dortigen KP verwickelt war, nach Ecuador geschickt. Dort gab es zwar schon seit den Zwanzigern eine kleine KP, und das Land war von einer Reihe von sozialen und politischen Kämpfen erschüttert. Doch zweifellos stellte es für Jolles eine politische Marginalisierung dar.

Und es war auch nur der Auftakt zum Ausschluss. Denn in der Sowjetunion begann der Stalinsche Terror, verharmlosend „Säuberungen“ genannt, der auch die Komintern erfasste. Alle Parteikader wurden auf ehemalige Abweichungen von der Parteilinie untersucht. Wer früher mal an einem Fraktionskampf beteiligt gewesen war und dabei am Ende nicht auf der Seite der Sieger gestanden, also nicht die „richtige Parteilinie“ vertreten hatte, war vielleicht auch in Zukunft nicht zuverlässig. Darüber hinaus sollte die Biographie „einwandfrei“ sein. Jolles dagegen hatte sich in der argentinischen Partei nicht immer mit den „Richtigen“ eingelassen. Sein Leben ähnelte mehr dem eines Abenteurers, als dass es einer klaren „proletarischen Biographie“ entsprach. Die Umstände seines Anschlusses an den lateinamerikanischen Kommunismus waren nicht eindeutig. Und zu alledem hatte er noch Naziverwandte. Er wurde als Naziagent denunziert und aus der Komintern ausgeschlossen.

Seine weiteren Spuren in Ecuador verlieren sich. Er scheint Kontakte in linke Kreise gehabt zu haben. Schließlich verfügte er mit seinen Erfahrungen über ein großes Wissen in dem doch am Rande der (politischen) Welt liegenden Land. Die Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt scheint ihn erschüttert und endgültig zum Bruch mit dem Stalinismus geführt zu haben. 1941 kam er noch einmal für kurze Zeit nach Chile und ist dann nach der Rückkehr im darauf folgenden Jahr an den Folgen einer Operation gestorben, wie verschiedene glaubwürdige Quellen bezeugen. Aber auch zahlreiche Gerüchte umrankten dieses Ende. Angeblich habe er den Tod nur vorgetäuscht, um sich Moskaus Agenten zu entziehen. Er sei Anhänger Trotzkis geworden. Andere behaupteten, die Operation mit Todesfolge sei unter dubiosen Umständen erfolgt, womit dann wieder die Agenten Stalins ins Spiel gebracht wurden. Doch wirkliche Anzeichen für all das gibt es nicht.

Dieser Lebenslauf eines „Agenten der Weltrevolution“ könnte romanhafter nicht sein. Sie ist aber nicht untypisch im Zeitraum des „europäischen Bürgerkriegs“. Man findet sie in den unterschiedlichsten Varianten bei so verschiedenen Personen wie Victor Serge, Manès Sperber, dem in Deutschland kaum bekannten Belgier Charles Plisnier oder bei Richard Krebs, besser bekannt als Jan Valtin. Dabei handelte es sich durchaus um gegensätzliche Persönlichkeiten. Die einen hatten gegen das Aufkommen des Stalinismus opponiert. Die anderen waren in ihn verstrickt, bis es durch äußere Umstände oder Rivalitäten zum Bruch kam. Die einen blieben unbequeme Häretiker, und die anderen wurden zu Renegaten und Kronzeugen des Kalten Krieges. Sie und viele andere wurden bekannt durch ihre literarische Verarbeitung ihrer Erfahrungen, die aber durchaus von höchst unterschiedlicher Qualität waren.

Auch Jolles hatte sich an einer Autobiographie versucht. Aber er starb, ohne das Manuskript zum Abschluss bringen zu können. Insofern lässt sich auch nur spekulieren, wie er sich mit solch einer Erinnerung als ehemaliger Komintern-Vertreter in den Zeiten des Kalten Kriegs hätte darstellen können. Im wesentlichen war er ein Mann des Parteiapparats gewesen. Darüber hinaus hatte er sich nicht durch besondere Beiträge zur politischen Theorie oder Strategie ausgezeichnet. Somit wäre das ein weiterer Einblick in die Intrigenwelt der kommunistischen Apparate geworden, in das Scheitern der Versuche einer „Weltrevolution“ als bürokratische Veranstaltung.3

Der Herausgeber Walter Thys präsentiert hier die Biographie durch eine chronologisch geordnete Zusammenstellung verschiedenster Dokumente: Briefe von Jolles an Familienangehörige, Informationen seiner Nachkommen, Unterlagen aus dem Komintern-Archiv in Moskau und ergänzende Materialien zu seinen politischen Aktivitäten, Auszüge aus Arbeiten einiger Historiker des lateinamerikanischen Kommunismus. Somit reicht das dadurch entstehende Bild von den privatesten Äußerungen für den engsten Familienkreis über interne Materialien der kommunistischen Bewegung bis hin zu politischen Erklärungen. Gelegentlich muss der Herausgeber Lücken in der Dokumentation mit erklärenden Einschüben überspringen. Schließlich finden sich noch ein Abschnitt mit verschiedenen Texten, die in einer Chronologie nicht hätten untergebracht werden können, wie z. B. der Auszug aus dem erwähnten autobiographischen Manuskript oder Passagen aus den Memoiren des langjährigen Führers der chilenischen KP, Luis Corvalán, worin er Jolles' Auftreten in Chile erwähnt und hinzufügt, bei ihm habe es sich um einen später enttarnten Nazi-Spion gehandelt. Fotos und Faksimiles von Briefen oder Publikationen runden das Bild ab.

Der Herausgeber war bis zu seiner Emeritierung Literaturwissenschaftler an der Universität Gent und hatte sich lange mit der Biographie von André Jolles befasst. Das wies ihm auch den Weg zu dessen Familienangehörigen und damit zu Jan Andries, dessen so ganz andersartiges Schicksal ihn offensichtlich faszinierte, zumal es nur vor dem Hintergrund der spezifischen familiären Konstellation zu verstehen ist. Angesichts von Jolles' Weg nach Lateinamerika waren damit jahrelange Recherchen verbunden. Über die ganze Welt verstreut waren Familienangehörige aufzufinden, nicht nur Jolles eigene Kinder in Argentinien oder Ecuador. Viele Forschungsbibliotheken stellten Materialien zur Verfügung, wobei sicher ohne die Öffnung der Moskauer Archive die wesentlichen Eckpunkte der Biographie kaum hätten geklärt werden können.

Dem Buch lag nicht der Anspruch einer historischen oder politisch-theoretischen Analyse des lateinamerikanischen oder gar internationalen Kommunismus zugrunde. Sieht man einmal von den Einblicken in die Zusammenhänge einer bildungsbürgerlichen Familie in Deutschland der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts und speziell zum Hintergrund von André Jolles ab, schildert es einen sehr spezifischen Lebensweg, der aber vieles über die Art und Weise dieser Bewegung in einer sehr entscheidenden Zeit aussagt, über die Erwartungen, mit der sich ihr Menschen, in diesem Fall mit einem eher bürgerlichen oder besser bildungsbürgerlichen Hintergrund, anschlossen und von der sie eine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft erwarteten. (Ein Halbbruder kam übrigens fast zur selben Zeit wie Jan Andries zu Tode – als deutscher Soldat in Stalingrad.)

Jolles war nicht der typische Aktivist der Arbeiterbewegung mit langer „Klassenkampfpraxis“. Er kam mehr durch Zufall schnell in Funktionärspositionen, was allerdings auch einiges über die Struktur der kommunistischen Parteien aussagte. Jolles hatte keine zentrale Bedeutung für die Geschichte des Kommunismus, weder in Europa noch in Lateinamerika, doch lässt sich sein Lebensweg exemplarisch verstehen. Diese biographisch ausgerichtete Dokumentensammlung zeigt Zusammenhänge und Bedingungen auf, unter denen diese zunächst als revolutionär angetretene Bewegung zu einer bürokratisch beherrschten Parteimaschine wurde. Sie ist spannend zu lesen, wenn auch aufgrund der Struktur nicht ganz mühelos, doch insgesamt ein interessantes Buch.

Walter Thys (Hg.), Vom Wandervogel zum „Compañero“. Jan Andries Jolles (1906-1942). Soldat der Weltrevolution. Dokumente zu einer Biographie, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2012, ISBN 978-3-86583-532-4, 393 S. (geb.), 34 Euro.

  • 1. Komintern = Abkürzung für Kommunistische Internationale, den internationalen Zusammenschluss der kommunistischen Parteien 1919 bis 1943.
  • 2. Eine Darstellung dieses Aufstandsversuchs unter Führung des ehemaligen Militärs Luis Carlos Prestes, die auch auf Jolles eingeht, findet sich bei dem brasilianischen Journalisten William Waack, Die vergessene Revolution. Olga Benario und die deutsche Revolte in Rio, Berlin 1994.
  • 3. Das autobiographische Fragment, von dem in dem Buch einige Auszüge abgedruckt sind (S. 280-294), trägt den Titel: „Verlorene Generation“.