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Im Schatten der riesigen Laurel-Bäume

Die Zona Colonial von Santo Domingo

Santo Domingo de Guzmán ist die erste koloniale Niederlassung Spaniens in der „Neuen Welt“. Das alte Zentrum der an einem Freitag gegründeten Stadt mit dem religiösen Namen des „Heiligen Sonntags“ hat sich trotz pauschaler Besichtigungstouren und Reisegruppen den kolonialen und antiquierten Charme bewahrt.

Hans-Ulrich Dillmann

Langsam verfärben die Sonnenstrahlen das an der Strandpromenade Malecón nicht immer türkisfarbene Karibikmeer. Noch intensiver werden die Rottöne der Bougainvillea auf der bepflanzten Dachterrasse. Ruhe, eine vor allem tagsüber unbekannte Ruhe, so beginnt der Tag im kolonialen Stadtzentrum von Santo Domingo de Guzmán, manchmal unterbrochen von einem kurzzeitigen Motorradknattern und dem Klatschen der Zeitung, das die Austräger verursachen, wenn sie ihre druckfrischen Produkte auf die Balkone oder in die Hauseingänge werfen.

An der Ecke Calle Hostos Calle Arzobispo Nouel stinkt die Fritteuse eines „fliegenden Händlers“ nach ausgebackener Salami und platt geklopften frittierten Kochbananen gen Dachterrasse. Zwei Straßenecken weiter bilden sich erste Pfützen. Aus undichten Rohrleitungen fließt das Wasser die zu den Ruinen des ehemaligen Monasterio de San Francisco führende Calle Hostos herab. Für ein bis zwei Stunden gibt es wieder Wasser im Zentrum – die ersten Pumpen beginnen zu surren, um das kostbare Nass in die Wasserreservoire auf den Dächern zu pumpen.

„Die Zona Colonial ist für mich das Herz der Stadt und eine einzige Inspiration für meine Bilder“, sagt José Cestero, kurz nach acht Uhr morgens auf der Terrasse des Café Colón. Überschattet werden die Tische von einem der riesigen Laurel-Bäume, die den Parque Colón an allen vier Ecken begrenzen. „Noch immer habe ich das Bild des Zentrums aus den 50er-Jahren vor Augen“, sagt der 76-jährige Maler – und deshalb reproduziert er es in seinen Ölgemälden immer wieder. Gemächlich rührend zermalmt er die drei gehäuften Löffel Zucker in seiner Espressotasse. Erst nach endlosem Rühren probiert er den Kaffee. „Um diese Zeit spielen die Menschen noch nicht verrückt. Diese Besinnlichkeit brauche ich, bevor ich mich in meinem Atelier an die Arbeit mache.“

Ein Mal klopft Schuhputzer Fabio Guzmán auf seine Holzkiste, auf die der Polizist der Stadtverwaltung seinen schwarzen Lederschuh gestellt hat, damit er beim Dienstantritt glänzt und die Sonne spiegeln kann. Fußwechsel, bürsten, Reinigungsmilch, Säuberung des Übergangs von Schuhsohle zum -leder mit einer alten Zahnbürste, eincremen, wieder bürsten, blank polieren, zwei Mal klopfen, 25 dominikanische Pesos wechseln den Besitzer – seit zehn Jahren sitzt der 50-Jährige schon hier. Tag für Tag. Nur am Sonntag macht er frei.

Es ist diese Morgenstimmung, die einen in ihren Bann zieht, jener Moment, wenn die TouristInnen sich noch nicht zum kollektiven Fotoshooting vor dem Kolumbusdenkmal mit der Kathedrale im Hintergrund gruppiert haben. Der Admiral und Entdecker einer „Neuen Welt“, die gar nicht so neu und vor allem längst schon von den Taínos bevölkert war, weist mit ausholender Geste gen Westen. José Cesteros weist ähnlich ausholend auf das ehemalige Rathaus mit dem Glockenturm. Seine Bilder finden sich in an den Wänden von fast allen Kneipen, Cafés und kleinen Mittagsrestaurants der historischen Innenstadt. „So begleiche ich meine Rechnung in der Stadt“, sagt der Maler.

Den „DomRep“-Besuchern aus den All-Inclusive-Beach-Resorts bleibt dieses Santo Domingo jedoch weitgehend verborgen. Sie werden aus den Bussen in die Kathedrale getrieben, in der einst die Gebeine des Karibik-„Entdeckers“ Kolumbus eingemauert waren. Sie hetzen durch die Fußgängerpassage El Conde vom Parque Colón zum westlich gelegen Parque Independencia, wo sie sich zwischen hupenden Autos, fliegenden Händlern und dröhnender Merengue-Musik verlieren – und wo die „Väter des Vaterlandes“ begraben sind: Juan Pablo Duarte, Ramón Mella und Francisco Sánchez. Von dem Chaos sichtlich eingeschüchtert, machen sie sich bald wieder auf den Rückweg in den sicheren Bus.

Oder sie suchen Schutz vor der Sonne unter den schattigen Kronen der Laurel-Bäume, wo inzwischen zwei bierbäuchige, mindestens 50 Lenze zählende Deutsche sitzen und mit zwei jungen, vermutlich kaum 18 Jahre alten dunkelhäutigen Dominikanerinnen sprachlos Händchen halten, jede und jeder in Gedanken versunken. Die Herren denken vermutlich an Sex, die Frauen an das Geld, das sie dafür bekommen. Vielleicht denken sie auch an die Chance, sich durch eine Heirat mit einem „Gringo“ aus dem sozialen Elend der Armutsviertel ins abgefederte Sozialversicherungsdeutschland zu retten.

Ein Touristenführer hilft, die historischen Stationen des Ortes abzuklappern, in dem die Vizekönige residierten, die im Namen ihrer Katholischen Majestäten die spanischen Länder in der „Neuen Welt“ regierten, und gibt an, wann das erste Hospital, der erste Abwasserkanal, die erste Universität – die erste was weiß ich noch alles – gegründet wurden.

Vom Fortaleza Ozama, wo noch bis in die 60er-Jahre die politischen Gefangenen des Landes zusammengepfercht und gefoltert wurden, schweift der Blick des Besuchers über die Mündung des Río Ozama hinüber zu den hohen Silos, auf denen sich 1965 die US-Scharfschützen verschanzt hatten, als sich die Dominikaner gegen die Militärdiktatur erhoben hatten und die einstige herrschaftliche Stadt der spanischen Konquistadoren für fast ein halbes Jahr „befreite Zone“ war und die Menschen sich kaum auf die Straßen trauten, aus Angst vor den hinterhältigen Todesschützen mit den Zielfernrohren.

Die Calle Las Damas wird rechts und links von den ehemaligen Wohnhäusern jener gesäumt, die sich mit blutigem Schwert in der Eroberungsgeschichte des amerikanischen Kontinents verewigt haben. Die Namen der Herren sprechen Bände: Nicolás de Ovando, Rodrigo de Bastida, Francisco Dávila, Hernán Cortés. Durch diese Straße flanierten einst die feinen weißen spanischen Señoras y Señoritas, sorgsam die Schattenseite ausnutzend bei ihrem Weg. Heute lassen sich auch ausländische Bewohner des Landes so schnell ausmachen: Auch sie folgen dem bizarren Schattenspiel der Gebäude, um der sengenden Sonne zu entgehen.

Die große, fast baumlose Plaza España liegt unter der gleißenden Mittagsonne verlassen da. Erst abends kommen die Touristen, um mit Blick auf den ehemaligen Palast des Kolumbus-Sohnes Diego zu Bier oder Wein Serranoschinken zu bestellen. „Hier hat man die Sklaven hochgetrieben“, sagt Pedro, der kundige Begleiter. Er zeigt auf die zum Hafen hin abfallende Calle Atarazana, wo einst die Lagerhäuser und Verwaltungsgebäude lagen und heute ein derzeit wegen Renovierung geschlossenes Museum untergebracht ist, das die Schätze aus Schiffen präsentiert, die vor der Küste der Dominikanischen Republik gesunken sind.

Atarazana haben Susanne und Bernie auch ihr kleines Hotel genannt. In keinem anderen Stadtteil der knapp drei Millionen Einwohner zählenden Stadt Santo Domingo hätten sie sich niedergelassen. Das „soziale Leben ist uns wichtig“, sagt Susanne. Zwei Ecken weiter finden sich noch alte Wandmalereien an den Häusern rund um die kleine Kirche Santa Barbara. Hier wohnten die Bohemiens der Stadt und versuchten neue künstlerische Ausdrucksformen. Aber auch hier lassen sich die ersten Boten der Gentrifizierung in Form von Baugerüsten oder innen modernisierter Kolonialgebäude ausmachen, sofern sich der Besucher denn in diesen Teil der Innenstadt verirrt.
JournalistInnen, EntwicklungshelferInnen, KünstlerInnen, Geschäftsleute und einen anderen Tourismus suchende Reisende treffen sich in dem kleinen Hotel-Patio mit dem winzigen Wasserbecken, in das man sich zur Abkühlung auch mal kurz setzen kann. Zimtstangen und Fruchtkerne sind auf dem Boden des Hausflurs verteilt und finden sich jeden Morgen in neuen Konstellationen, nachdem die Putzfrau sauber gemacht hat.

Sechs Häuserblocks und eine Parallelstraße weiter liegt die Casa de Teatro in der Calle Arzobispo Meriño – eine künstlerische Institution seit 32 Jahren. Nachmittags trifft der Besucher dort Freddy Ginebra. Genüsslich öffnet der Musiker eine Weinflasche und genießt die Ruhe dieser Tageszeit – bevor aus den Lautsprechern Merengue und Bachata dröhnen und sich vor den kleinen Eck-Colmados die Männer treffen, um sich einen Trago, einen Feierabendschluck, zu genehmigen. „Hier treten jene auf, die noch keinen Namen, aber Talent haben, und jene, die sich einen Namen gemacht haben und kommen, damit das Zentrum überlebt für die nachwachsenden Talente.“

Juan Luis Guerra hat hier die ersten selbstgeschriebenen Lieder präsentiert. Aber seit der Pop-Merenguero mehr und mehr seine Lieder mit protestantischem Missionierungseifer verkündet, lässt er sich nicht mehr sehen. Er ist einer der wenigen, die bei Freddy Ginebra „fliegen gelernt haben“, aber ihre Wurzeln in der Stunde des Triumphes vergessen haben. Es liegt aber kein Bedauern in der Stimme des Inhabers einer Werbeagentur, schließlich gastieren hier ständig Silvio Rodriguez und Pablo Milanés aus Cuba, um sich bei freiem Eintritt als Dank an Freddy und die Casa de Teatro zum textsicheren Publikum begleitend besingen zu lassen.

Legendär sind die Abende, an denen arrivierte und junge Musiker nach der Vorstellung mit ihren lederbezogenen und ausgehöhlten Baumstämmen samt Publikum trommelnd durch die Straßen der Altstadt ziehen. In der Casa de Teatro kann man immer die neuesten Werke von dominikanischen Malerinnen, Bildhauern und Experimentalfotografen bewundern. Und auf der kleinen Bühne im Patio kann der Besucher fast jeden Abend Livemusik genießen.

Einen Steinwurf entfernt auf der Plaza Duarte haben sich inzwischen die ersten Jugendlichen zusammengefunden. Plastiktische werden zusammengerückt, Liebespärchen turteln auf den Eisenbänken, Dominosteine klackern. Bier und Rum liefert eine kleine Bude in einem Hauseingang.

Noch immer ein kleines Wagnis für diejenigen, die hierher kommen, denn der alternative Treffpunkt von Gelegenheitskiffern und fanatischen Dominospielern, Rum- und Biertrinkern, Schwulen und Lesben, unambitionierten Freizeit-Poetinnen und Poeten, Gitarristen und Trommelmusikern ist der Polizei, aber vor allem dem prüden Kardinal Nicolás de Jesús López Rodríguez ein Dorn im Auge – dabei sind sie das Salz im dominikanischen „Kultur“-Sancocho, dem pikanten Eintopf mit sieben Fleischsorten und den verschiedenen Wurzelgemüsen, den die Menschen gerne genießen, wenn es tagsüber winterlich kühl wird und die Temperatur auf knapp 20 Grad sinkt, so wie im Morgengrauen eines Sommertages. Als die Letzten sich zum Gehen entschließen, erscheint die Sonne schon wieder am Horizont, um in der Zona Colonial die Ersten zu wecken.