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Bolivien geht neue Wege

Statt Kinderarbeit zu verbieten, werden die Rechte arbeitender Kinder geschützt

Seit dem 4. August 2014 ist in Bolivien ein Kinder- und Jugendgesetz in Kraft, das neue Maßstäbe für das Verständnis und die Umsetzung der Kinderrechte setzt. Es ist weltweit das erste Gesetz, das unter maßgeblicher Beteiligung von Kindern zustande kam. Es interpretiert die Kinderrechte im Geiste der Traditionen indigener Gemeinschaften und unter Beachtung der sozialen und kulturellen Realität des Landes. Dies gilt namentlich für die Bestimmungen, die sich auf die sogenannte Kinderarbeit beziehen. Für die arbeitenden Kinder wurden erstmals in einem Gesetz Regelungen festgeschrieben, die ihnen nicht pauschal die Arbeit verbieten. Stattdessen werden ihnen Rechte und Schutzmechanismen zugebilligt, die sie vor Ausbeutung und Machtmissbrauch schützen und ihnen zugleich ermöglichen sollen, in Würde zu leben.

Manfred Liebel

Das Kinder- und Jugendgesetz (Ley 548 Código Niño, Niña y Adolescente) wurde am 3. Juli 2014 von der Gesetzgebenden Versammlung des Plurinationalen Staates Bolivien einstimmig verabschiedet, am 17. Juli 2014 in einer öffentlichen Zeremonie im Präsidentenpalast vom Vizepräsidenten Álvaro García Linera in Vertretung des Präsidenten Evo Morales verkündet und trat am 4. August 2014 in Kraft. Es bezieht sich auf alle Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (im Gesetz werden junge Personen bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres als Kinder und vom 12. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres als Jugendliche bezeichnet). Es garantiert allen in Bolivien lebenden Kindern und Jugendlichen (ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit) die volle und effektive Ausübung ihrer Rechte und verpflichtet alle staatlichen Organe und erwachsenen Personen, die für die Kinder Verantwortung tragen, das „beste Interesse“1 und alle im Gesetz festgelegten Rechte der Kinder zur Richtschnur ihres Handelns zu machen. Das Gesetz bezieht sich auf alle Bereiche und Fragen, die Kinder betreffen, indem es zum Beispiel jegliche physische und psychische Gewalt gegen Kinder in der Familie, in der Schule und anderen staatlichen Institutionen sowie in der Öffentlichkeit untersagt und die Gesellschaft verpflichtet, für die bestmöglichen Lebens- und Entwicklungsbedingungen zu sorgen. Den Kindern wird zugesichert, dass ihre Belange „absolute Priorität“ haben; dass sie frei und gleich sowie mit Würde und Rechten ausgestattet sind und aus keinerlei Grund diskriminiert werden dürfen; dass sie insbesondere nicht aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt werden dürfen; dass sie sich frei, aktiv und ohne Einschränkung am familiären, kommunalen, sozialen, schulischen, wissenschaftlichen, kulturellen, sportlichen und rekreativen Leben beteiligen können; dass sie in allen Lebensbereichen angehört und respektiert werden und ihre Meinung in allen sie betreffenden Angelegenheiten frei äußern können; dass in Anerkennung der kulturellen Vielfalt des Landes ihre Identität und Zugehörigkeit zu einer Kultur anzuerkennen und zu respektieren ist; dass sie in harmonischer Weise ihre körperlichen, kognitiven, affektiven, emotionalen, geistigen und sozialen Fähigkeiten entwickeln können, wobei deren vielfache und wechselseitige Beziehung zu den jeweiligen Lebensumständen zu beachten sei; dass sie ihre Rechte gemäß der Entwicklung ihrer Fähigkeiten selbst ausüben können, aber auch ihren damit wachsenden Pflichten nachkommen müssen.

Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass der Familie für den Schutz, die Bildung und Entwicklung der Kinder besondere Bedeutung zukomme und der Staat durch entsprechende Programme und Maßnahmen dafür sorgen müsse, dass sie ihre Aufgaben erfüllen kann.  

Für den Schutz der Rechte der Kinder wird den bereits in den meisten Kommunen bestehenden Ombudsstellen (Defensorías de la Niñez y Adolescencia) besondere Bedeutung beigemessen. Sie sind als integraler Teil der kommunalen Behörden konzipiert, die für den Schutz der Kinderrechte verantwortlich sind. Sie sollen sich aus Anwälten, Sozialarbeitern, Psychologen und anderen Professionellen zusammensetzen. In der Praxis sind die Teams aufgrund des begrenzten Budgets jedoch zumeist unvollständig. Zu ihren vielfältigen Aufgaben zählen die regelmäßige Überprüfung staatlichen Handelns (Monitoring) in Bezug auf die Kinderrechte, die Intervention im Falle ihrer Verletzung sowie die Aufklärung über Kinderrechte und die Prävention von Verletzungen. Ebenso können sie als Beschwerdestelle von Kindern und anderen Personen in Anspruch genommen werden. Sie können die beschwerdeführenden Kinder gegenüber Behörden und vor Gerichten vertreten.

Weiterhin sind nun auf allen politischen Ebenen Kinder- und Jugendkomitees (Comités de Niñas, Niños y Adolescentes) als Instanzen der sozialen Partizipation vorgesehen, denen vonseiten der Behörden die nötige technische und finanzielle Unterstützung bereitzustellen ist. Ihnen sollen Repräsentanten von Schüler- und anderen Kinder- und Jugendorganisationen im Alter von 10 bis 18 Jahren angehören, davon mindestens 50 Prozent Mädchen. Ihre Aufgabe soll darin bestehen, auf der jeweiligen politischen Ebene an der Ausarbeitung kinderpolitischer Programme und Maßnahmen mitzuwirken und ihre Umsetzung zu kontrollieren. Das Kinder- und Jugendkomitee auf nationaler Ebene hat die Aufgabe, die Komitees auf kommunaler und Departementsebene zu unterstützen und die Ministerien zu beraten.

Neben Ausführungen zum integralen Schutz der Kinderrechte enthält das Kinder- und Jugendgesetz einen Teil zur Jugendgerichtsbarkeit, einschließlich des Umgangs mit straffällig gewordenen Jugendlichen, soweit diese noch nicht 18 Jahre alt sind. Anders als derzeit in anderen lateinamerikanischen Staaten wurde das Alter für die Strafmündigkeit in Bolivien nicht herabgesetzt, sondern von 12 auf 14 Jahre angehoben. Für die 14 bis 18-Jährigen gilt eine verminderte Strafmündigkeit; spezielle Betreuungseinrichtungen sollen für sie geschaffen werden. Allerdings gibt es bisher kaum solche Alternativangebote.

Zum ersten Mal wird in einem Kinder- und Jugendgesetz ausdrücklich auf arbeitende Kinder Bezug genommen. Ihnen wird zugesichert, ein Recht auf Schutz bei der Arbeit zu haben. Dies ist insofern bemerkenswert, weil in bisherigen rechtlichen Regelungen und Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der einzige „Schutz“ darin gesehen wird, Kinder bis zu einem bestimmten Alter von Arbeitsprozessen fernzuhalten oder zu entfernen, indem ihnen die Arbeit verboten wird. Diese Verbote haben bisher, wie in verschiedenen Untersuchungen nachgewiesen wurde, die Kinder eher schutzlos gemacht, weil sie sich bei der Arbeit auf keinerlei Rechte mehr berufen konnten.

In dem neuen Gesetz wird betont, dass alle arbeitenden Kinder das Recht haben, durch den Staat auf allen seinen Ebenen, durch die Familie und durch die Gesellschaft vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor jeglicher Arbeit geschützt zu werden, die Gefahren mit sich bringt und insbesondere ihr Recht auf Bildung, ihre Gesundheit, ihre Würde und ihre integrale Entwicklung gefährdet. Der Staat verpflichtet sich, auf allen politischen Ebenen Vorsorge- und Schutzprogramme für arbeitende Kinder unter 14 Jahren durchzuführen und insbesondere die Familien zu unterstützen, die in extremer Armut leben.   

Internationales Aufsehen hat erregt, dass in dem neuen Gesetz erstmals kein generelles Verbot der Erwerbstätigkeit von Kindern (also von „Kinderarbeit“) unter 14 Jahren vorgesehen ist, sondern eine Regelung gewählt wird, die nach Art der Arbeit und Alter der Kinder differenziert. Kindern im Alter von 10 bis 14 Jahren wird „in Ausnahmefällen“ und unter besonderen Voraussetzungen die Arbeit gestattet und ihnen werden entsprechende Arbeitsrechte und Schutz vor Gewalt und Ausbeutung garantiert. Die Arbeit von Jugendlichen unter 18 Jahren ist im Regelfall erlaubt, unterliegt aber bestimmten Bedingungen und muss ebenso wie die Arbeit der jüngeren Jugendlichen und der Kinder bei den Ombudsstellen und dem Arbeitsministerium registriert werden.

Das Gesetz differenziert zwischen verschiedenen Formen von Arbeit. Arbeit, die die Kinder in der familiären und kommunitären Gemeinschaft ausüben, wird ungeachtet des Alters als legitim anerkannt. Darunter werden häusliche und landwirtschaftliche Tätigkeiten verstanden, die im Rahmen der familiären Subsistenzwirtschaft oder als kollektive Arbeitsvorhaben der Gemeinde ausgeübt werden. Im Gesetz wird diese Art von Arbeit ausdrücklich in den historischen und kulturellen Zusammenhängen des Landes verortet.2

Diesen Arbeiten wird im Gesetz (ähnlich wie in der Verfassung) ausdrücklich eine positive Funktion für die Sozialisation der Kinder und ihre Heranbildung zu aktiven und verantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern beigemessen. Es wird allerdings in dem Gesetz auch betont, dass diese Arbeiten in keiner Weise die Rechte der Kinder verletzen, sie ihrer Würde berauben sowie in ihrer integralen Entwicklung und Schulbildung behindern dürfen. Besondere Schutzmaßnahmen werden nicht für erforderlich gehalten, da man offensichtlich davon ausgeht, dass die Familie und die jeweilige Gemeinschaft darauf achten, die Kinder nicht zu überfordern oder gar auszubeuten.

Von dieser Art von Arbeit werden im Gesetz Arbeiten unterschieden, die mit der städtischen Geldwirtschaft oder der kapitalistischen Wirtschaftsweise entstanden sind und in der Regel zum Erwerb von Einkommen verrichtet werden. Dazu werden zum einen Arbeiten gezählt, die unabhängig beziehungsweise „auf eigene Rechnung“ ausgeübt werden, zum anderen Arbeiten, die in Abhängigkeit von einem „Arbeitgeber“ stattfinden und in der Regel mit Geld entlohnt werden. Diese Formen von Arbeit bleiben laut Gesetz zwar Kindern unter 14 Jahren prinzipiell untersagt, aber ab bestimmten Altersgrenzen sind „Ausnahmen“ vorgesehen. Demnach können Kinder ab dem 10. Lebensjahr Arbeiten auf eigene Rechnung und ab dem 12. Lebensjahr abhängige Arbeiten ausüben unter der Voraussetzung, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sind und die jeweilige Arbeit von der zuständigen örtlichen Ombudsstelle genehmigt wurde. Die Genehmigung kann nur (soll aber auch) erteilt werden, wenn die Arbeit nicht das Recht auf Bildung beeinträchtigt und nicht die Gesundheit, Würde und integrale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gefährdet. Für Jugendliche ab 14 Jahren ist eine Arbeitserlaubnis des Arbeitsministeriums erforderlich. Für alle Arbeiten, die in der Altersspanne von 10 bis 18 Jahren verrichtet werden, gilt als grundlegend, dass sie dem freien Willen der Kinder und Jugendlichen entsprechen und ihre ausdrückliche Zustimmung finden müssen. Zudem werden alle arbeitenden Kinder und Jugendlichen in einem Kinder- und Jugendregister beim Arbeitsministerium erfasst und unterliegen damit besonderer Aufsicht. Gefährliche Arbeiten, die Kindern schaden können, werden in einer Liste aufgeführt, die alle fünf Jahre aktualisiert werden soll. Für sie darf unter keinen Umständen eine Erlaubnis erteilt werden und sie ist für alle Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs tabu.

Um eine „gerechte Entlohnung“ sicherzustellen, darf bei Jugendlichen ab 14 Jahren die Bezahlung nicht geringer sein, als sie ein Erwachsener für die gleiche Arbeit erhält, und sie darf nicht die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns unterschreiten.3 Der Lohn muss immer den Jugendlichen zur Verfügung stehen und soll ihnen eine „bessere Lebensqualität“ ermöglichen. Die Arbeitgeber müssen die notwendigen Bedingungen für die Sicherheit der Jugendlichen gewährleisten und ihnen täglich zwei bezahlte Stunden für das eigene Studium gewähren. Sie dürfen auch die gewerkschaftliche Betätigung nicht behindern. Die Arbeitszeit darf 8 Stunden am Tag und 40 Stunden in der Woche nicht überschreiten und muss bis 22 Uhr beendet sein. Für Jugendliche unter 14 Jahren wird eine Höchstarbeitszeit von 6 Stunden täglich und 30 Stunden wöchentlich vorgeschrieben. Aussagen über die persönliche Verfügbarkeit des Lohns, den Mindestlohn und die Bezahlung von Stunden für das Selbststudium werden für diese Altersgruppe nicht gemacht. Es geht auch aus dem Gesetz nicht eindeutig hervor, ob für sie dieselben Vorschriften zur gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit und dem Mindestlohn gelten wie für Jugendliche ab 14 Jahre.

Für die Arbeiten auf eigene Rechnung, die ab dem Alter von 10 Jahren genehmigt werden können, werden die Eltern oder andere Sorgeberechtigte verpflichtet, den Schulbesuch zu ermöglichen und für Arbeitsbedingungen zu sorgen, die es dem Kind gestatten, sich zu erholen und an kulturellen und anderen Freizeittätigkeiten teilzunehmen. Die Arbeiten dürfen nur bis längstens 22 Uhr ausgeübt werden. Nähere Angaben zur Arbeitszeit werden nicht gemacht. In keinem Fall dürfen Arbeiten ausgeführt werden, die das Leben, die Gesundheit, die Integrität oder das Ansehendes Kindes gefährden.
Ein besonderer Artikel ist den Arbeiten in fremden Haushalten gewidmet, die entlohnt werden. Sie dürfen laut Gesetz nur von Jugendlichen ab 14 Jahren ausgeübt werden. In der Arbeitsvereinbarung muss im Einzelnen bestimmt werden, welche Arbeiten ausgeführt werden, zum Beispiel Kochen, Wäsche waschen, Saubermachen oder die Betreuung von Kindern.

Die Liste der verbotenen Arbeiten unterscheidet zwischen solchen Arbeiten, die aufgrund ihrer immanenten Eigenschaften, und solchen, die unter bestimmten Bedingungen für das Kind oder den Jugendlichen als schädlich und unzumutbar gelten. Zur ersten Gruppe werden gezählt: Zuckerrohr- und Kastanienernte, Arbeit innerhalb von Bergwerken (sie werden im Einzelnen benannt), Fischerei (soweit sie nicht im familiären beziehungsweise kommunitären Rahmen stattfindet), Ziegelherstellung, Alkoholausschank, Sammeln von Müll (soweit dieser die Gesundheit gefährdet), Reinigungsarbeiten in Krankenhäusern, Sicherheitsdienste, Arbeit in fremden Haushalten (wenn sie mit Unterkunft gekoppelt ist) und in Gipsbrennereien. Zu den Arbeiten, die unter bestimmten Bedingungen untersagt sind, werden gezählt: landwirtschaftliche Arbeiten, die Aufzucht großer Tiere und Bauarbeiten (soweit sie nicht im familiären oder kommunitären Rahmen stattfinden), Arbeit in Steinbrüchen oder als Steinmetz, Arbeit als Model (insoweit sie in erotisierender Weise erfolgt) sowie generell alle Arbeiten, die in der Nacht (nach 22 Uhr) ausgeführt werden. Die Liste muss regelmäßig, mindestens alle fünf Jahre, unter Mitwirkung der „betroffenen Akteure“ (also auch der arbeitenden Kinder und Jugendlichen) aktualisiert werden.

Allen Kindern und Jugendlichen (ab 12 Jahren), die bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, wird das Recht auf Sozialversicherung zugesichert, zu der die Arbeitgeber die gesetzlich vorgeschriebenen Anteile des Lohns abführen müssen. Die Jugendlichen dürfen nicht gegenüber Erwachsenen benachteiligt werden. Jugendliche, die auf eigene Rechnung arbeiten, können der Sozialversicherung auf freiwilliger Basis beitreten, indem sie eine ihrem Einkommen entsprechende Quote entrichten.

Zwar wurde den arbeitenden Kindern nicht, wie in einem UNATSBO-Gesetzentwurf4 gefordert, ein Recht zu arbeiten zugebilligt, aber auch die Perspektive, die Arbeit von Kindern ab dem 10. beziehungsweise  von Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr „in Ausnahmefällen“ zu legalisieren, stellt das bisherige „offizielle“ Denken und internationale Vereinbarungen zum Verbot und zur „Abschaffung der Kinderarbeit“ infrage. Der darin angelegte Konflikt kommt in den Worten des Vizepräsidenten García Linera zum Ausdruck, mit denen er die Verkündung des Gesetzes am 17. Juli 2014 begleitete: „Es war nicht einfach, [dieses Gesetz] auszuarbeiten, denn es existieren zahlreiche internationale Vereinbarungen, die der Staat in Bezug auf die Rechte der Kinder und Jugendlichen unterzeichnet hat. Allerdings besteht auch eine bolivianische Realität, eine eigene Form dessen, was die Arbeit und die Situation der Jungen und Mädchen in unserem Land ausmacht.“5

Im Gesetz wird versucht, den Spagat zwischen den ILO-Konventionen zur Kinderarbeit, die auf eine extensive Verbotspraxis abzielen, und der Tatsache, dass die Arbeit Hunderttausender Kinder in den verschiedensten Formen und Zusammenhängen zur bolivianischen Realität gehört, auf zweierlei Weise zu überbrücken. Zum einen wird die Arbeit der Kinder differenziert nach ihren jeweiligen Bedingungen und Kontexten betrachtet und ein weiter Bereich aus dem von den ILO-Konventionen vorgeschriebenen Verständnis von Kinderarbeit herausgenommen. Dies entspricht weitgehend den Vorstellungen, die im UNATSBO-Gesetzentwurf enthalten waren. Zum zweiten wird die Legalisierung von Arbeiten, die sich im Umkreis der ILO-Konventionen bewegen, zur „Ausnahme“ erklärt und an deutliche Voraussetzungen geknüpft. Auf diese Weise wird unterstrichen, dass den ILO-Konventionen zur „Kinderarbeit“ Genüge getan wird. Zugleich wird es möglich, den Fokus auf die Probleme zu richten, denen sich viele arbeitende Kinder tatsächlich gegenübersehen: der wirtschaftlichen Ausbeutung und dem Machtmissbrauch, die in vielen Arbeitsverhältnissen der Kinder zum Alltag gehören. Hierbei ist besonders wichtig, dass das Gesetz Schutzmechanismen und Unterstützungsmaßnahmen für arbeitende Kinder und ihre Eltern vorsieht, zu denen die Behörden ausdrücklich verpflichtet werden. Bei einem generellen Verbot wäre das nicht möglich gewesen. 

Allerdings bleibt zu bedenken, dass die defensive Logik, die der Ausnahmeregelung zugrunde liegt, manche Fallstricke bereithält und die Gefahr der Bürokratisierung und des Missbrauchs mit sich bringt. So ist davon auszugehen, dass internationale Organisationen wie UNICEF und ILO bei den derzeitigen Verhandlungen um die Umsetzungsbestimmungen im Rahmen ihrer jeweiligen institutionellen Mandate und aus Sorge um eine Verwässerung internationaler Normen auf eine restriktive Auslegung drängen. Dagegen haben die arbeitenden Kinder bisher nur wenige Möglichkeiten, auf die Praxis der Ombudsstellen Einfluss auszuüben. Da die Kinder in diesen nicht mit Sitz und Stimme vertreten sind, sind sie darauf angewiesen, gegen die Ablehnung von Ausnahmen Beschwerde einzulegen, und müssen darauf hoffen, dass die Ombudsstellen ihren Argumenten folgen und die gesetzlich vorgeschriebenen Fristen einhalten.

Das Gesetz ist ein politischer Kompromiss, der gegen viele Widerstände – auch in der Regierung, bei Abgeordneten und in der Öffentlichkeit – erkämpft werden musste. Ohne den beharrlichen Druck und die Überzeugungsarbeit der Kinder und Jugendlichen von UNATSBO wäre er vermutlich nicht zustande gekommen. Aus Stellungnahmen von UNATSBO (siehe: www.pronats.de) und einzelner Kinder und Jugendlicher geht denn auch hervor, dass sich die Kinder erstmals als arbeitende Kinder respektiert sehen und sich von dem Gesetz einen besseren Schutz bei der Arbeit, ein Ende der Diskriminierung und eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhoffen. Aber erst wenn das Gesetz offensiv „getestet“ wird, kann sich erweisen, inwieweit es den arbeitenden Kindern tatsächlich nutzt. Dabei kommt der Inanspruchnahme der Ombudsstellen entscheidende Bedeutung zu. Sie werden vermutlich nur dann den ihnen übertragenen Aufgaben gerecht werden können, wenn sie in ausreichendem Maße ausgestattet werden und über ein qualifiziertes Personal verfügen, das sich in die Situation arbeitender Kinder hineinzuversetzen versteht und sie zu unterstützen bereit ist. Außerdem müsste gewährleistet werden, dass Kinder und Jugendliche auf ihre Arbeit Einfluss nehmen können.

Neue Perspektiven könnten sich aus den erstmals im Gesetz vorgesehenen Kinder- und Jugendkomitees ergeben. Diese Komitees existieren bisher zwar weitgehend nur auf dem Papier, aber in einigen Kommunen sind sie – teils auf Initiative und unter Beteiligung arbeitender Kinder und Jugendlicher – bereits entstanden und weitere sind gerade im Entstehen. In der nächsten Zeit wird es darauf ankommen, wie die Kinder- und Jugendkomitees gestärkt werden und auch auf nationaler Ebene Einfluss ausüben können. Dazu bedarf es einer gesellschaftlichen Entwicklung und letztlich auch entsprechender rechtlicher Regelungen, die Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren ermöglichen, an politischen Entscheidungen auf allen Ebenen direkt mitzuwirken.

Nicht minder wichtig ist es, Arbeits- und Ausbildungsalternativen für Kinder und Jugendliche zu schaffen, die den Kriterien des Kinder- und Jugendgesetzes für „legale“ Arbeit entsprechen und ihnen über den Schulbesuch hinaus bessere Entwicklungsmöglichkeiten bieten, beziehungsweise bestehende Arbeitssituationen im Sinne der Erfüllung der Kinderrechte umzugestalten. Die in dem Gesetz erfolgte Anwendung der Arbeitsnormen für Kinder und Jugendliche (zum Beispiel Mindestlohn, Arbeitszeiten) und die Schutzgarantien sind ein erster Schritt. Das Kinder- und Jugendgesetz sollte allerdings nicht nur als pragmatische Notlösung verstanden werden, um Kindern und ihren Familien die Bewältigung der Armut zu erleichtern. Es enthält vielmehr das Versprechen und fordert dazu heraus, den Menschen, die in Bolivien noch immer in großer Armut leben müssen, ein würdiges und befriedigendes Leben zu ermöglichen.

Die besondere Bedeutung des Gesetzes, auch für andere Länder, liegt darin, dass es die arbeitenden Kinder nicht wie bisher üblich nur als Sozialfälle betrachtet, sondern als soziale Subjekte anerkennt, die zu den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen aktiv beitragen können. Diese werden freilich nur in dem Maße gelingen, wie sich das Land auch aus der wirtschaftlichen internationalen Abhängigkeit befreit sowie Wirtschaftsformen und Arbeitsverhältnisse hervorbringt, die den in der Verfassung verankerten Prinzipien des „guten Lebens“ entsprechen.

  • 1. Das „beste Interesse des Kindes“ (best interest of the child), auf Spanisch interés superior, ist eines der leitenden Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. In der offiziellen deutschen Übersetzung ist missverständlich von „Kindeswohl“ die Rede.
  • 2. In den indigenen Sprachen Aymara und Quechua werden diese Tätigkeiten nicht als „Arbeit“ bezeichnet.
  • 3. Der monatliche Mindestlohn beträgt heute in Bolivien umgerechnet 152 Euro, 2005 betrug er noch 46 Euro.
  • 4. Um das Gesetz zu begründen, hätte sich der Vizepräsident durchaus auch auf die UN-Kinderrechtskonvention berufen können, in der kein „Verbot der Kinderarbeit“ vorgeschrieben ist, sondern Kindern das Recht zugesichert wird, vor „wirtschaftlicher Ausbeutung“ geschützt zu werden (Art. 32).
  • 5. Die „Union der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Boliviens“ hatte mit Unterstützung von NRO einen eigenen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der im Dezember 2010 veröffentlicht wurde. Einige Gedanken und sogar Formulierungen konnten bei den Verhandlungen über das neue Kinder- und Jugendgesetz durchgesetzt werden.