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Der Mythos von der Gleichheit in Deutschland

Der Blick einer Lateinamerikanerin

„In Deutschland ist es viel einfacher, Kinder zu haben und zu arbeiten, denn die Bedingungen für die Elternzeit sind sehr gut, selbst Väter können sie in Anspruch nehmen; Kindergärten und Schulen sind kostenlos und der Staat bietet einige hervorragende Unterstützungsleistungen an.“ Soweit die Legende, die in Lateinamerika die Runde macht. Doch diese farbenfrohe Fantasie hat so manche Graustufen. Oder, wie meine Großmutter zu sagen pflegte: „Nur wer es erlebt hat, kann davon erzählen.“ Wie Hunderte andere Latinas auch kam ich nach Deutschland mit der Illusion, dass ich mich nun im Paradies der Gleichberechtigung befinden würde. Doch ich bin auf eine ganz andere Realität gestoßen. Natürlich haben Gewalt und Frauenfeindlichkeit in Deutschland eine andere Gestalt als in Lateinamerika, aber auch hier gibt es schwerwiegende Probleme im Hinblick auf die Gleichberechtigung für Frauen. Deshalb ist Deutschland meiner Meinung nach weit davon entfernt, ein Vorbild für andere sein zu können.

Carmen Ibáñez

Beim Thema Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika könnten wir stundenlang tragische Geschichten zusammentragen. Da gibt es zum einen die häusliche Gewalt, unter der Frauen und Mädchen leiden und die häufig als vollkommen normal betrachtet wird, wenn beispielsweise einige Medien heutzutage Morde an Frauen als „Verbrechen aus Leidenschaft“ bezeichnen. Zum anderen gibt es die stetig ansteigenden feminicidios1 – Gewalt, die die Gesellschaft gewissermaßen rechtfertigt mit Fragen wie „Was für Frauen sind das? Sind es Prostituierte?“, womit das Opfer einen zweifelhaften Ruf bekommt, statt den Täter genauer zu betrachten. Oder auch die Diskussionen über die Abtreibung und ganz zu schweigen von den spöttischen und lasziven Kommentaren, die frau nicht nur von Seiten der Chefs oder der Kollegen in den Bildungseinrichtungen ertragen muss, sondern sogar von Seiten einiger Staatschefs (wie zum Beispiel vom bolivianischen Präsidenten Evo Morales).

Die physische und symbolische Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika ist eine offene Wunde; die politischen Maßnahmen, um diesen Missstand zu beseitigen, greifen viel zu langsam. Hinzufügen müssen wir auch noch die Art und Weise, wie wir in jenem Teil der Welt unsere Mädchen erziehen, indem stets betont wird, „dass sie Mütter sein müssen, um vollständig Frau zu sein“, was wiederum bei der Ehepartnerwahl eine Rolle spielt. So finden es viele Gringos, die Lateinamerika zum ersten Mal besuchen, etwas befremdlich, wenn sie nach ihrem Namen direkt als nächstes danach befragt werden, ob sie denn einen Freund (bzw. eine Freundin) hätten? Ich selbst wiederum fand es etwas sonderbar, als ich in Deutschland nach der Frage nach dem Namen als zweites direkt befragt wurde, was ich denn beruflich machen würde?

Meine Mutter und meine Grundschule (eine öffentliche Schule, die von Nonnen geführt wurde) versuchten mir beizubringen, wie man webt, näht, kocht, dem zukünftigen Ehemann Essen am Tisch serviert – ohne Erfolg. Ich sperrte mich dagegen, diese Fertigkeiten zu erlernen, denn wenn ich mich darin – getreu meiner rebellischen Logik – als unfähig erweisen würde, wäre es weniger wahrscheinlich, dass mich ein Mann deswegen aussucht, um ihm diese Dienste zu erweisen. Zugleich musste ich in der siebten Klasse, mit zwölf Jahren, einmal wöchentlich einen Kurs in Kinderpflege belegen. Dort lernte ich nicht nur, woraus die Erstausstattung meines zukünftigen Babys besteht, sondern bekam auch gute Ratschläge zu der Frage, wie ich eine gute Ehefrau sein kann, nämlich beispielsweise „zu versuchen, die Haushaltsprobleme eigenständig zu lösen und nur in Extremfällen den Ehemann um Rat zu bitten, denn (so meine Lehrerin) er würde schon mit zu vielen Problemen von der Arbeit nach Hause kommen und ich wäre ja dafür da, ihm das Leben zu erleichtern und es nicht auch noch komplizierter zu machen“ (sic).

Vor diesem Hintergrund stellen Deutschland bzw. die nordischen Länder in der Vorstellungswelt Tausender lateinamerikanischer Frauen ein „Paradies“ dar. Sicherlich sind die oben dargestellten Probleme in Deutschland schon seit vielen Jahren überwunden. Aber wahrscheinlich ist es genau dieses billige und fast schon arrogante Argument, dass „so etwas hier nicht passieren würde“ oder dass es „dort ja viel schlimmer ist“, das uns die Augen verschließt vor dem, was hier passiert, so dass wir zu keiner Selbstkritik mehr fähig sind.

Als Soziologiestudentin in Bolivien kam ich mit der Welt der Freiwilligendienste und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Berührung. Während meiner Praktika waren meine Kolleginnen und ich total beeindruckt von diesen ausländischen Mädels, die mit gerade mal 18 Jahren alleine auf einen anderen Kontinent reisten; wie benommen hörten wir uns den Diskurs des europäischen Feminismus an, der von den Kooperationspartnern und den Nichtregierungsorganisationen (NRO) ausging. Diese Geschichten brachten uns zum Träumen. Als ich mich für ein Auslandsstipendium bewerben wollte, war für mich deshalb sofort klar, wo ich hinwollte. Dort konnte man – so dachten ich und meine Freundinnen, (überwiegend Aymara) – „jemand im Leben sein“ (was soviel bedeutet wie „eine Arbeit zu haben, die nicht nur informell ist“) und außerdem wawas (Babys) mit einem verantwortungsbewussten Vater haben, und das auch noch mit Hilfe des Staates (letzteres beeindruckte uns am meisten).

Als meine erste Tochter in Köln zur Welt kam, zerbröselte mein Traum von der Gleichheit ziemlich schnell. Auch ohne Wörterbuch lernte ich schnell den Begriff „Rabenmutter“ kennen. Ich habe gehört, dass es dieses Wort nur im Deutschen geben soll. Da es für mich als Kind normal gewesen war, dass die Frauen um mich herum arbeiteten – schließlich war die Integration der lateinamerikanischen Frauen in den Arbeitsmarkt seit den 1980er Jahren eine Überlebensfrage –, war es keine Option für mich, zu Hause zu bleiben. Und dann hörte ich direkt die Frage, ohne Vorwarnung (was einem Latino zufolge typisch für die Deutschen ist): „Warum willst du arbeiten, wenn das Geld, das du beisteuerst, nicht wesentlich für das Familieneinkommen wie in deinem Land ist?“ Das fragte mich eine andere Mutter auf dem Spielplatz. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nie die Frage gestellt, ob mir das, was ich machte, Spaß machte – eine Frage, die mir typisch für multioptionale Welten wie der deutschen erschien. Meine weise Großmutter sagte einmal zu mir: „Deshalb heißt es Arbeit, denn es geht darum zu arbeiten; wenn es darum gehen würden, eine gute Zeit zu haben, dann hätten sie es sicherlich anders genannt“. Und sie gab mir den Ratschlag, mir nicht weiter solche Art von Fragen zu stellen. Ohne ihren Rat zu befolgen, fand ich heraus, dass mir nicht nur meine Arbeit gefiel, sondern dass sie es ja gewesen war, die mich nach Deutschland gebracht hatte. So versuchte ich die Strategien von Tausenden von Frauen zu übernehmen, die in Lateinamerika angewandt werden, um arbeiten gehen zu können. Doch nur wenige taugten hier etwas. Im Folgenden werden ich nur einige davon – aus Platzgründen – vorstellen.

Als ich hier ankam, hatte mich kein Überlebenskurs in Deutschland auf das Kita-System vorbereitet, etwa dass ich die Anmeldeformulare verschicken musste, sobald das Baby geboren war. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie eine Elterninitiative eine „Bewerbung“ von mir verlangte, in der ich auch die Persönlichkeit und den Charakter meines neun Monate alten Babys beschreiben sollte, um die Chance auf einen Platz zu verbessern. Nachdem ich ein Dutzend Anmeldungen losgeschickt hatte, bekam ich dann glücklicherweise doch noch eine positive Antwort, als meine Tochter zweieinhalb Jahre alt war.

Mittlerweile bin ich geneigt zu sagen, dass der Begriff „Karriere“ in Deutschland eine andere Konnotation hat. Hier haben es alle eilig; mit 27 Jahren bist du fast schon zu alt dafür. In Lateinamerika hingegen gibt es nicht so viel Druck hinsichtlich des Alters, mit einem Job oder einer Karriere zu beginnen.

Gleichzeitig gibt es in Lateinamerika oft noch den Vorteil der Großfamilie, die natürlich auch viele Nachteile mit sich bringt, aber im Hinblick auf die Kinderbetreuung kann das Problem wortwörtlich zu Hause gelöst werden. Die Kernfamilie hingegen, die in Deutschland vorherrschend ist, benötigt Hilfe von außen, die weder der Staat noch die Arbeitgeber angemessen bereitstellen. Mit anderen Worten: Die sozialen Netzwerke (die echten, nicht die virtuellen) funktionieren in Lateinamerika besser als in Deutschland. Außerdem ist die hiesige Gesellschaft intolerant gegenüber Kindern, bis hin zu einem regelrechten Kampf mittels Gesetzen und einer merkwürdigen moralischen Disziplin.

Es ist mir mehrere Male passiert, dass ich in einem Restaurant oder auf dem Rückweg nach 19 Uhr kritisch beobachtet wurde, weil ich noch mit meinen Kindern unterwegs war. Außerdem stelle ich eine seltsame Moral fest für eine Gesellschaft, die sonst so offen mit Nacktheit umgeht (mit FKK-Stränden und gemischten Saunen, in denen die Leute problemlos miteinander reden), denn zum Beispiel in der Öffentlichkeit zu stillen, ist immer noch ein Tabu.

Bemerkenswert finde ich auch die „Hausordnungen“, die besagen, dass Kinder ab 19 Uhr keinen Lärm mehr machen oder draußen spielen dürfen – wie soll ich das bloß einem zweijährigen Kind erklären, das kaum nachvollziehen kann, dass im Sommer, wenn uns die Sonne noch hell ins Gesicht scheint, 19 Uhr Zeit zum Schlafengehen bedeutet. Die Hausordnung bei uns zu Hause geht sogar noch weiter und weist mich darauf hin, dass meine Kinder, wenn sie Fußball spielen möchten, dies doch in einem Fußballverein tun können, aber bitte nicht draußen vor dem Haus. So gibt es einen ganzen Haufen weiterer Regeln fürs Zusammenleben, stets mit schlechten Nachrichten für uns Eltern. Disziplin und soziale Kontrolle von Seiten der NachbarInnen nehmen fast schon paranoide Ausmaße an und lassen mich zu der Überzeugung gelangen, dass das Problem der niedrigen Geburtenrate in Deutschland nicht nur wirtschaftliche Ursachen hat, sondern auch soziale – hauptsächlich die Intoleranz gegenüber Kindern und das dürftige Verständnis für diejenigen unter uns, die sich für Kinder entschieden haben.

Ein anderes Beispiel sind die Schlangen (z.B. vor den Behörden, den Kassen oder beim Einsteigen in die U-Bahn), wo schwangere Frauen oder Mütter mit Babys nicht nur nicht vorgelassen werden, sondern denen gegenüber die Leute ohne Kinder einen Vorteil herauszuschlagen versuchen, da sich erstere nicht so behände bewegen können und letztere sich einfach vordrängeln – in Lateinamerika (und laut Erfahrungsberichten meiner FreundInnen aus anderen Kontinenten auch fast auf der ganzen restlichen Welt) wäre so etwas undenkbar. In diesen Schlangen, in denen ich mit meinem weinenden, gelangweilten oder hungrigen Baby stand, fühlte ich mich fast bestraft dafür, hier in Deutschland Kinder zu haben. Einige Male musste ich auch meine Kinder zu Seminaren oder anderen Veranstaltungen mitnehmen – was in Lateinamerika gang und gäbe ist, auch wenn es dort nicht den Luxus einer „Spielecke“ gibt – und die Leute waren so überrascht oder unangenehm berührt davon, dass sie sich gar nicht mehr darauf konzentrieren konnten, was ich sagte. Viele Leute hatten mich davor gewarnt, denn mit Kindern würde eine Frau „wenig seriös“ wirken, oder schlicht und ergreifend deswegen, weil „hier so etwas nicht gemacht wird“.

Bis zu einem bestimmten Alter scheinen Männer und Frauen in Deutschland die gleichen Möglichkeiten zu haben, aber ab dem Zeitpunkt der Entscheidung, eine Familie zu gründen, fallen alle Lasten normalerweise der Frau zu. Fast immer ist sie es, die sich entscheiden muss, ob sie ihre Karriere weiterverfolgt oder ob sie sich einen Teilzeitjob sucht. Hinzu kommt diese soziale Maßregelung, dass es „besser für die Kinder ist, wenn sie von der Mutter selbst betreut werden“ (vom Vater ist dabei nur selten die Rede), so etwas hatte ich noch nicht einmal in Bolivien gehört.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das wohl auch aus Lateinamerika stammen könnte: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ In Deutschland lässt die Gesellschaft die Mütter mit dieser Aufgabe weitgehend allein oder macht es ihnen zusätzlich schwer. So muss die angebliche Chancengleichheit für Männer und Frauen, mit dem sich Länder wie Deutschland in Lateinamerika präsentieren, trotz aller staatlichen Hilfen für Familien und Kinder wohl noch lange ein Trugbild bleiben.

  • 1. Bis Mitte 2014 tauchte das Wort feminicidio noch nicht in der Real Academia Española auf. Die Feministin Marcela Lagarde schreibt in der argentinischen Tageszeitung Página 12 über den feminicidio, dass er „nicht nur die Feminisierung der Tötung (span.: homicidio) ist, sondern ein Verbrechen, das vor dem Hintergrund der Ungleichheit, der Diskriminierung und der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern entstanden ist. (Es sind) misogyne Verbrechen gegen die Frauen, zentral ist dabei vor allem die enorme Toleranz von Gesellschaft und Staat gegenüber der Gewalt gegen Frauen und Mädchen – die Folge sind Straffreiheit und Ungerechtigkeit“.