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Martelly ist ein Neo-Duvalierist

Lyonel Trouillot über Haiti und seinen neuen Roman
Klaus Jetz

Der 1956 in Port-au-Prince geborene Lyonel Trouillot kommt aus einer der bekanntesten Familien Haitis, die zahlreiche Intellektuelle und KünstlerInnen hervorgebracht hat. Anfang der achtziger Jahre verließ er sein Heimatland und ging ins Exil in die USA. Nach seiner Rückkehr engagierte er sich für die Demokratiebewegung in Haiti. Er ist Lyriker und Romancier, Kritiker und Professor für kreolische und französische Literatur in der haitianischen Hauptstadt. Klaus Jetz sprach mit ihm in Berlin.

Nach „Jahrestag“ (2012) und „Die Straße der verlorenen Schritte“ (2013) ist nun Lyonel Trouillots dritter Roman in deutscher Übersetzung erschienen: „Die schöne Menschenliebe“ ist ebenso wie seine anderen Bücher hoch politisch und zugleich sehr poetisch. Die Lektüre dieses langen Prosagedichtes ist nicht immer einfach, da Trouillot mit Stilmitteln, Metaphern und Bildern arbeitet, die HaitianerInnen vertraut, EuropäerInnen aber eher fremd sind. Allerdings sind Sprache und Handlung transparenter als im Roman „Straße der verlorenen Schritte“, in dem es um Diktatur und staatliche Gewalt geht.

Die Handlung des neuen Romans ist schnell erzählt. Die junge Anaïse kommt aus Europa nach Port-au-Prince und trifft den Chauffeur Thomas, der sie in das entlegene Dorf Anse-à-Fôleur an der Nordküste fährt. Sie sucht nach Spuren ihres Großvaters. Dieser, ein erfolgreicher Geschäftsmann, und sein Freund, der ehemalige Polizeichef des Ortes, verschwanden spurlos, als ein Brand ihre Häuser in Schutt und Asche legte. Im Dorf äußert sich niemand zu dem Vorfall, niemand trauert den beiden nach, und es bleibt ein Rätsel, ob sie einem Racheakt zum Opfer fielen oder selbst das Feuer legten und verschwanden, um ihre kriminellen Machenschaften zu vertuschen.

Der Roman ist dreigeteilt. Im ersten Teil spricht Thomas über Gott und die Welt, ein atemloser, langer Monolog über das chaotische und lärmende Leben in Port-au-Prince, über Haiti, das „Land der Hyperbeln“, über Anse-à-Fôleur, die Fischer und ihre Abenteuer, Dorfbewohner wie seinen blinden Onkel oder den Autodidakten Justin, der sich sinnvolle Gesetze und Verfassungsartikel ausdenkt, über nordamerikanische TouristInnen, die Thomas chauffiert hat und die er mit Spott überzieht, über die Verbrechen und Intrigen des Polizeichefs und des Großvaters von Anaïse.

Im zweiten Teil erzählt Anaïse in einem weiteren Monolog ohne Absätze über ihr Leben in der Stadt und in Europa. Im dritten Teil berichtet der Erzähler über den Tod des blinden Onkels und die volkstümlichen Details seiner Bestattung am Vorabend von Anaïses Rückreise. Hier sind Liedzeilen in kreolischer Sprache eingeflochten.

Trouillots Romane stehen in der Tradition von Jacques-Stéphen Alexis und Jacques Roumain. Auch lateinamerikanische Autoren wie García Márquez, Jorge Amado oder Carlos Fuentes und Dichter wie Pablo Neruda und Octavio Paz hätten ihn beeinflusst, sagt er. Der magische Realismus habe auch in Haiti seine Anhängerschaft, seine AutorInnen seien dort weitaus bekannter als etwa europäische LiteratInnen. Bücher aus Europa seien auch viel zu teuer für die meisten HaitianerInnen. Deshalb handelte Trouillot mit seinem französischen Verlag aus, dass ein Teil der Auflage eines Romans zum reduzierten Preis für den haitianischen Markt zur Verfügung steht.

Trouillot studierte Jura, doch im Haiti Duvaliers waren Juristen überflüssig. Außerdem fühlte er sich zur Literatur und Politik hingezogen. Das Jurastudium diente ihm als Deckmantel für seine Untergrundtätigkeit. Er kämpfte gegen Jean-Claude Duvalier, jenen „jungen, vor Kraft strotzenden Diktator auf Lebenszeit, gegen den nur mit Gewalt anzukommen war“. Später engagierte er sich gegen Jean-Bertrand Aristide, „jenen ehemaligen Hoffnungsträger der Armen, deren Vertrauen er missbrauchte und der in seiner zweiten Amtszeit zum Tyrannen wurde“. Den aktuellen Präsidenten Martelly nennt er einen Neo-Duvalieristen, er arbeite mit dem Ex-Diktator zusammen. Seine Präsidentschaft zeichne sich aus durch Vetternwirtschaft, Verschwendung, Augenwischerei und Inkompetenz. Ein Skandal sei es, dass Duvalier für seine Verbrechen nicht juristisch belangt wurde. Und man müsse sich fragen, welche Rolle Frankreich in diesem Komplott für die Wiederherstellung des Ancien Régime gespielt habe.

Die Kultur bringe keine Rettung, meint Lyonel Trouillot. Auch wenn das immer behauptet werde, sei das Unsinn: Der Kultur gehe es genauso schlecht wie der Gesellschaft. Zudem müsse man unterscheiden zwischen der offiziellen und der popularen Kultur. Erstere werde von der Elite genossen, die alles Kreolische und den Voodoo verachte. Sie imitiere europäische und US-amerikanische Vorbilder, ihre Kultur sei mimetisch. Die populare Kultur hingegen habe subversives Potential und halte Lösungsvorschläge für Haitis Probleme bereit. „Die schöne Menschenliebe“ sei eine Ehrbezeugung vor diesen schöpferischen Kräften in der Volkskultur. Und die liege ihm am Herzen. Deshalb habe er auch eine Anthologie mit Gedichten in kreolischer Sprache zusammengestellt, die Werke von DichterInnen vereint, die zwischen 1986 (Sturz Duvaliers) und heute entstanden.

Wie es in Haiti weitergehen soll, weiß Trouillot auch nicht. Nur: Die notwendigen politischen Entscheidungen müssten getroffen werden, was nicht geschehe. Man wurschtele sich durch, plane nicht, überlasse das Terrain den internationalen Organisationen. Die müssten allesamt des Landes verwiesen werden. Sie hätten sich dort breit gemacht, die wirtschaftliche Macht an sich gerissen und nur ihren Vorteil und ihr eigenes Überleben im Sinn.

Lyonel Trouillot: Die schöne Menschenliebe, Liebeskindverlag, München 2014, 192 Seiten, 16,90 Euro