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Von Vietnam nach Mexiko

Das TPP-Tribunal zu Menschenrechtsverletzungen in Mexiko steht in einer langen Tradition

Im November endeten in Mexiko-Stadt die Anhörungen zur letzten Sitzung des ständigen Tribunals der Völker, Kapitel Mexiko. Mit acht KommilitonInnen und unserer Dozentin Prof. Dr. Cornelia Giebeler von der Fachhochschule Bielefeld konnten wir daran teilhaben. Wir verbrachten zehn Tage in Mexiko, um im Rahmen unseres Studiums der Sozialen Arbeit/ Pädagogik der Kindheit die Zukunft der Jugend, soziale und politische Verhältnisse von Migration und die weltweiten Zusammenhänge von Drogenkartellen, Staat und Menschenrechten in Mexiko zu dokumentieren. Die Anhörungen in Mexiko zeigten die aktuellste Arbeit des Tribunals, doch seine Geschichte reicht bereits bis in die 60er-Jahre zurück.

Elena Richard
Sarah Wollweber

Angesichts der US-amerikanischen Aggressionen während des Vietnamkriegs beschloss der britische Philosoph Bertrand Russell Anfang der 60er-Jahre gemeinsam mit politischen Freunden, eine Stiftung zu gründen, mit deren Hilfe sie „das Gewissen der Welt wecken wollen“, so Russell. Es ging darum, Kriegsverbrechen öffentlich zu machen und die Menschen aufzuklären. 1963 wurde die Bertrand Russell Peace Foundation offiziell ins Leben gerufen und erlangte durch die Ausrichtung ihrer beiden ersten Tribunale Berühmtheit. Thematisch ging es dabei um die Kriegsverbrechen der USA während des Vietnamkrieges und Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika.1
Als ideelles Vorbild dienten die Nürnberger Prozesse. Vor ihrer ersten und einzigen Durchführung (bei denen die Siegermächte die Politiker, wirtschaftliche Führungskräfte, Ärzte und Juristen der nationalsozialistischen Diktatur verurteilten) gab es zwar internationale Verträge, aber kein Organ, welches die Durchsetzung dieser Richtlinien überwacht hätte. Daher kam es 1945 zu einem Wendepunkt. Mit dem Nürnberger Gerichtshof entstand der erste internationale Gerichtshof der Geschichte. Als jedoch die Verhandlungen über die deutschen Nationalsozialisten beendet worden waren, löste er sich wieder auf. Da aber weiterhin Kriegsverbrechen und Völkermorde stattfanden, war die Existenz eines unabhängigen Tribunals weiterhin vonnöten.
Das Russell-Tribunal ist ein ethisches Tribunal ohne Vollstreckungsmacht. Es repräsentiert somit auch keine Staatsmacht und ist imstande, unabhängige Untersuchungen frei von Staatsinteressen durchzuführen. Russell sah in den Beschränkungen des Gerichts also nicht zwingend einen Schwachpunkt, sondern erkannte auch die Vorteile, die mit ihnen einhergingen. Die Prinzipien für die Arbeit des Tribunals lauten: Objektivität, Öffentlichkeit, Universalität und Unabhängigkeit. Langfristig wurde jedoch das Ziel verfolgt, eine rechtsverbindliche Institution zu etablieren.

Die Ergebnisse der Untersuchungen zum Vietnamkrieg und den Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika wurden dann vor einer Jury vorgestellt und es wurden Zeugen angehört. Die Jury setzte sich aus Privatpersonen zusammen, die aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Berufsgruppen gewählt wurden. Sie waren bekannt für ihre moralische Integrität und ihr Engagement für Frieden und Demokratie. So saßen zum Beispiel neben dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre auch der italienische Journalist Lelio Basso und weitere AnwältInnen, SchriftstellerInnen und ProfessorInnen in der Jury.
Somit ist das Russell-Tribunal ein Gericht ohne Richter und ohne Staatsanwaltschaft. Aufgrund dessen wurde seine Legitimation auch durch die Öffentlichkeit infrage gestellt. Trotz der Kritik an Kompetenz und Urteilsfähigkeit der Jury muss dem Tribunal zugute gehalten werden, dass seine Ergebnisse, Zeugenaussagen und Gutachten in der Welt Beachtung fanden. Nach den Worten des obersten Juristen der Demokratischen Republik Vietnam war das Tribunal ein ganz entscheidender Beitrag zum Sieg des vietnamesischen Volkes. Den Abzug der US-Amerikaner erzwingen konnte es nicht, allerdings ließen sich die Kriegsverbrechen in Südostasien nicht länger totschweigen, denn das Tribunal rüttelte das Gewissen der Weltöffentlichkeit wach.
Auf Initiative von Lelio Basso, einem der Jurymitglieder, wurde 1979 in Anlehnung an das Russell-Tribunal das ständige Tribunal der Völker (spanisch: Tribunal Permanente de los Pueblos, TPP) als Teil der Lelio and Lesli Basso Foundation gegründet.
Es steht somit in der Tradition des Russell-Tribunals und bietet Menschen und Völkern ein Forum, deren Rechte von staatlichen Mächten verletzt wurden und die von den zuständigen juristischen Instanzen keine Anerkennung erhalten haben. Auf der Basis der UN-Menschenrechtscharta aus dem Jahre 1948 geht es weiterhin um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Seit der Gründung vor 36 Jahren wurde zu 37 Themenkomplexen weltweit gearbeitet. Es gab beispielsweise Tribunale zu der Politik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank (Berlin 1988/Madrid 1994), Rechtsverletzungen der Arbeiter in der Textilindustrie (Brüssel 1998) oder zum Genozid an den Indigenen und Verletzungen multinationaler Unternehmen an den Rechten der Völker in Kolumbien (Bogotá 2006).
Das bislang letzte Tribunal widmete sich von 2012 bis 2014 dem Thema „Strukturelle Menschenrechtsverletzungen in sieben Bereichen in Mexiko“.2 Die Abschlussanhörungen wurden vom 12.-15. November 2014 in Mexiko-Stadt durchgeführt. Während unseres zehntägigen Aufenthaltes in Mexiko konnten wir daran teilnehmen. Wir haben Interviews geführt, Film- und Tonaufnahmen gemacht und die Anhörungen schriftlich protokolliert, alles im Hinblick darauf, unsere Erfahrungen weiterzugeben. Einige Artikel dieser ila-Ausgabe gründen somit auf unseren Dokumentationen vor Ort.

Für das Kapitel Mexiko wurde zu sieben Themenschwerpunkten gearbeitet:
1. Der Schmutzige Krieg
2. Migration, Flucht und  Vertreibung
3. Feminizid und Gendergewalt
4. Gewalt gegen die ArbeiterInnen
5. Die Zerstörung des Mais, Ernährungssouveränität und Autonomie
6. Zerstörung der Umwelt und die Rechte der Völker
7. Informationsmangel, Zensur und die gewaltsame Einschränkung der Pressefreiheit
Zu diesen Themen gab es im Vorfeld über 50 einzelne Voranhörungen, zu denen Organisationen oder Einzelpersonen eingeladen wurden, um Zeugenaussagen zu machen.

Die Themen Schmutziger Krieg und Feminizid meinen die Entführung und Tötung von EinwohnerInen Mexikos durch Polizei und Militär sowie Morde speziell an jungen Frauen (mehr Informationen hierzu im Artikel „Feminizid und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ auf den Seiten 9-10). Bei diesen Themenkomplexen stand vor allem die Straflosigkeit der TäterInnen stark in der Kritik. Der Begriff meint hier, dass keine ordentlichen Untersuchungen dieser Vorfälle durchgeführt wurden und selbst, wenn der oder die Schuldige bekannt war, keine Verurteilungen und Strafen folgten.
Bei dem Thema Gewalt gegen die ArbeiterInen geht es um die Missachtungen von Arbeitnehmerschutzgesetzen und die Bestechung von Gewerkschaften. Im Bereich Migration wurde u. a. die unterlassene Hilfeleistung des Staates für MexikanerInnen, die im Ausland unter gefährlichen Bedingungen arbeiten und kriminalisiert werden, kritisiert. Näheres zum Thema Migration wird in diesem Heft in den Artikeln „Migrationsströme durch Mexiko aus Guatemala, El Salvador und dem afrikanischen Raum“ (S. 11) und „Interview mit Fray Tomás“ (Padre Albergue 72 in Tenosique) über Menschenrechte und den plan frontera sur (S. 18) erläutert.

Im Bereich Mais und Ernährungssouveränität wurde von Monopolbildung gesprochen, ebenso über die Kontaminierung der einheimischen Maissorten durch genmodifizierten Mais aus dem Ausland und den Verlust von Arbeitsplätzen im landwirtschaftlichen Sektor. Zur Umweltzerstörung wurde die Verschmutzung von Flüssen durch Chemieabwässer und Verlust von Biodiversität u. a. durch Abholzung und Auslaufen von Öl genannt.
Mit Desinformation ist der Zustand der Medien in Mexiko gemeint; in Mexiko kontrollieren nur zwei Firmen das Fernsehen und große Teile des Radios. Somit haben diese Unternehmen Einfluss darauf, welche Informationen der Bevölkerung zukommen. Widersetzt man sich dem und deckt beispielsweise geheimgehaltene Vorgänge auf, muss man mit Bedrohungen oder Erpressungen rechnen. Unter anderem deshalb gilt der Beruf des Journalisten/der Journalistin in Mexiko als einer der gefährlichsten, denn viele wurden bereits bedroht, entführt oder ermordet.
Während der Anhörungen haben uns die persönlichen Schilderungen der Zeugen und die große Bandbreite der Vorfälle sehr betroffen gemacht. Zahlen, Statistiken und anonymisierte Artikel haben so ein Gesicht bekommen.

Die Jury betonte in ihrem Abschlussurteil nochmals, dass es in allen Themenbereichen um den Zusammenhang von Menschenrechtsverletzungen, den Freihandel, Straflosigkeit und Gewalt geht. Es wurden 20 Empfehlungen an den mexikanischen Staat und die internationale Gemeinschaft ausgesprochen.
Der mexikanische Staat wird als hauptverantwortlicher Akteur für die derzeitige miserable Menschenrechtslage im Land benannt. Aber mindestens genauso bedeutend sei die Rolle der transnationalen Großkonzerne sowie die damit einhergehende Verantwortung der Länder ihrer Hauptfirmensitze. Ihnen wird vorgeworfen, ökonomische und soziale Rechte zu missachten. Während im eigenen Land Menschenrechte geachtet würden, werde sich in Mexiko den dort herrschenden Praktiken angepasst. Dies geht meist einher mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Auch deutsche Unternehmen und deren GeschäftspartnerInnen zählen zu diesen Akteuren. Nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) ist Deutschland derzeit mit über 1200 Unternehmen in Mexiko vertreten. Besonders in den Branchen Automobil, Zulieferer, Pharmaindustrie, Chemie und Elektronik haben deutsche Firmen, wie zum Beispiel die Siemens AG, VW oder die Bayer AG, Niederlassungen in Mexikos Bundesstaaten.

Die Jury kam auch zu dem Ergebnis, dass internationale Organisationen wie die Weltbank, die Welthandelsorganisation und der Internationale Währungsfonds für die Kriminalisierung der mexikanischen Wirtschaft mitverantwortlich sind.
Nach Ansicht der Jurymitglieder sollte eine Neugründung des Staates Mexiko erfolgen. Konsequenzen daraus wären unter anderem eine Abwendung vom neoliberalen Wirtschaftssystem, das Ende der Straflosigkeit, Neuauflagen der Freihandelsabkommen mit fairen Bedingungen, Verstärkung des Umweltschutzes, das Eintreten für soziale und öffentliche Sicherheit. Eng verbunden mit all diesen Zielen ist die Bekämpfung der Korruption auf allen nationalen Ebenen.

  • 1. Das 2. Russell-Tribunal über Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika fand 1973-76 in Rom und Brüssel statt. Um die Menschenrechts- und Solidaritätsarbeit nach Ende des Tribunals weiterführen zu können, gründeten Mitglieder der deutschen Unterstützungsgruppe des Tribunals im Sommer 1975 in Bonn die ila (die Red.)
  • 2. Zum TPP Kapitel Mexiko vgl. auch die Beiträge von Gerold Schmidt in der ila 351 (Dez. 2011) und ila 381 (Dez. 2014)

Elena Richter und Sarah Wollweber sind Studierende im Projekt „Global social work: Lebenswelten in Lateinamerika“ an der FH Bielefeld.