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Was der Stummfilm mit Edgar Hoover zu tun hat

Der Erstlingsroman des Mexikaners Augusto Cruz mischt gekonnt Realität und Fiktion
Gaby Küppers

Der Roman „Um Mitternacht“ ist das Debüt von einem, dessen Geschichtslehrer angeblich kein Geringerer als Subcomandante Marcos war, der in Los Angeles szenisches Schreiben lernte, sich im Fernstudium zum Privatdetektiv ausbilden ließ und heute, zurück in seiner Heimatstadt Tampico im Norden Mexikos, mit seinem Bruder eine Bäckerei betreibt. So jedenfalls steht es im Klappentext der gerade erschienenen deutschen Ausgabe. Ob wahr oder nicht, ein solcher Lebenslauf spricht ein zumindest unkonventionelles, Subversivem nicht abholdes Publikum an, für das bare Münze nicht unbedingt ein Wert ist. Die andere Sorte LeserInnen wäre ohnehin nach den ersten Romanseiten abgesprungen. Denn dort grüßt sogleich ein wahrhaftiges Gruselkabinett von Monstern und Vampiren. Forrest J. Ackerman sitzt mitten in diesen schauerlichen Requisiten und erteilt dem ehemaligen FBI-Agenten McKenzie den Auftrag, eine Kopie des verschollenen Films „Um Mitter- nacht“ ausfindig zu machen, damit er ihn vor seinem Tod noch einmal sehen könnte. Eine merkwürdige Detektivgeschichte bahnt sich da an.

Nun gab es Forrest J. Ackerman, von Freunden „Ackermonster“, „Forry“ oder auch „Dr. Acula“ genannt, wirklich. Als Agent, Autor, Verleger und Sammler war der 1916 geborene US-Amerikaner der Spezialist des Gruselkinos überhaupt. Vor seinem Tod 2008 habe er, so Augusto Cruz (Jg. 1971), die Idee zu dem Buch, in dem er eine Hauptrolle spielt, noch mit ihm durchgesprochen. Ein Foto dieser Begegnung findet sich tatsächlich im Internet.

Aber auch sonst wimmelt es in dem Roman von echten Personen oder zumindest Leuten, die die Namen realer Persönlichkeiten tragen. Zum Beispiel: Im Zuge seiner Suche besucht McKenzie David J. Skal (Jg. 1952), auch er ein wirklicher Spezialist für Terrorfilme, was man in Wikipedia und anderswo nachlesen kann. Später findet McKenzie im mexikanischen Urwald das Schloss von Edward James, der exzentrische und superreiche surrealistische Dichter (1907-1984) könnte es tatsächlich gebaut haben. Dann wieder trifft McKenzie auf Menschen, die Dashiell Hammett oder Kandinsky heißen. Und er ist nicht zuletzt ein ehedem enger Vertrauter von J. Edgar Hoover (1895-1972), dem langjährigen Leiter des FBI, dessen Privatsekretärin wie in der Realität auch im Roman Helen Gandy heißt.

Womit wir bei einem ersten von mehreren Romanthemen wären, nämlich der verschwimmenden Grenze zwischen Realität und Fiktion. Schon der Romantitel „Um Mitternacht“ klingt nach Geisterstunde. Dann versteckt sich die Romanstruktur in seitenlangen Texten ohne Absatz und Übergang zwischen Aussageformen. Erst im Kopf der Lesenden filtert sich die mögliche wörtliche Rede heraus und ordnet sie Personen zu – interessanterweise und dank Cruz’ meisterlichem Schreiben gelingt dies übrigens. Auch sprengt der Roman Gattungsgrenzen und ist alles zugleich: Roadmovie, Action Thriller, Detektivroman, Pulp Fiction, Gothic Novel und Traumprotokoll. Und schließlich ist auch das Objekt, das den Plot in Gang bringt, kaum fixierbar, ist doch ein Film, und mehr noch ein Stummfilm, nichts als ein Zelloloidstreifen, dem mithilfe von Licht eine Bedeutung zugeschrieben wird.

Wie Monsterfilmsammler Ackerman gab es auch „Um Mitternacht“ wirklich. Der Film gilt als eins der größten Geheimnisse der Filmgeschichte. Gedreht wurde er 1927 von Tod Browning in den MGM Studios, in der Hauptrolle der legendäre Lon Chaney, der mysteriöserweise kurz darauf starb. „London after Midnight“, so der englische Originalname, war der erste US-Vampirfilm. Er löste bei Kritikern ein geteiltes Echo aus. Und auch der Nachwelt blieb der von Chaney verkörperte Vampir weniger in Erinnerung als Dracula oder Nosferatu. Sicher aber war es der erste Film, der direkt ein Verbrechen provozierte. Ein Zuschauer ermordete nämlich nach der Kinovorstellung in London seine Freundin und gab an, das Gesicht von Lon Chaney habe ihn dazu gezwungen. Nach der Einführung des Tonfilms verschwand „Um Mitternacht“ in der Versenkung, wie wohl 85 Prozent der bis dahin produzierten Stummfilme. 1967 soll die letzte Kopie verbrannt sein, falls der pensionierte Polizist McKenzie keine findet, was hier nicht verraten wird.

Diesen McKenzie gab es aber wohl nicht. Den kontrollwahnsinnigen FBI-Chef Edward Hoover schon. Der Roman-Hoover schenkt McKenzie volles Vertrauen. Nicht zuletzt, weil er als Agent gleichsam unsichtbar ist. Man erfährt nichts über sein Aussehen und so gut wie nichts über seine Familie, außer dass Ehefrau und Tochter vor 30 Jahren auf einer Autofahrt verschollen sind. Trotz des Namens scheint er mexikanische Wurzeln zu haben und spricht Spanisch. Genau das gibt Augusto Cruz die Möglichkeit, ein zweites Thema einzuschmuggeln, das nur scheinbar hinter die Auseinandersetzung mit Kino, Stumm- und Tonfilm und das Vampir- und Monsterkino im Besonderen zurücktritt. Im Zuge seiner Ermittlungen trifft McKenzie auf legale und illegale mexikanische Communities in den USA sowie auf Tampico in Mexiko und den nordmexikanischen Urwald. Kein Nichtmexikaner könnte die angetroffene Mentalität so urkomisch und gleichzeitig grausam-tragisch beschreiben wie jener McKenzie, der vorgibt, lediglich nüchtern, aber lückenlos zu betrachten. Unter den Bösewichten sticht ein gewisser Señor Martínez hervor, steinreich, mächtig, von dem man wenig weiß, bereit und in der Lage, jeden zu vernichten, der sich seinen Wünschen und Maximen widersetzt. Eine jener Maximen ist, dass die Auflösung von Geheimnissen und Rätseln zwar einen kurzen Glücksmoment beschert, aber nur deren Wahrung die Menschheit beflügelt und ihre Phantasie nährt. Genau deswegen macht McKenzie ihn sich mit seiner Suche nach dem verlorenen Film zum Feind.

KritikerInnen haben in Señor Martínez wegen seiner Allmacht eine Verkörperung von Charles Foster Kane, dem legendären Presseverleger, gesehen. Man kann ihn aber auch als Platzhalter für die obige, durchaus spannende Maxime sehen oder in dieser Figur des rücksichtslosen Strippenziehers und Herrn über Leben und Tod eine Parabel über mexikanische Drogenhändler lesen und damit Augusto Cruz’ Roman über Monster und Vampire auch als Roman über die mexikanische Wirklichkeit. Wie auch soll man sie heute anders beschreiben denn als Gruselfilm?

Anders als Señor Martínez war Edgar Hoover ein realer Tyrann, der acht US-Präsidenten im Amt überlebte und Zehntausende (nicht nur) US-AmerikanerInnen als potenzielle Kriminelle und KommunistInnen penibelst ausspähte und durchaus auch vor Gericht brachte. „Um Mitternacht“ ist sicherlich keine Rehabilitation dieser Figur oder auch nur Relativierung der NSA-Aktivitäten heute. An Hoover wird vielmehr einerseits erzählt, was seine selbst vorbereitete Hinterlassenschaft ist, und andererseits exemplifiziert, was Kreativität, falsch verstanden, auch sein kann und wohin sie führt.

Für alle sprechenden Figuren im Roman spielen Gedächtnis und Erinnerung eine besondere Rolle, womit vielleicht das wichtigste Thema des Buchs umrissen ist. Sei es Ackerman, der den als 11-Jähriger einmal gesehenen Film wiedersehen will und tragischerweise am Ende des Romans sein Gedächtnis verliert und damit auch seinen Auftrag vergisst, seien es die vielen, die McKenzie auf seiner Filmsuche trifft. Immer geht es um Erinnerung jenseits von Google. Im Zeitalter scheinbar unendlich verfügbaren abrufbaren Wissens wird nur das dem Vergessen entrissen, was sich im Kopf realisiert und zu Sinn zusammenfügt.

Alle Männer des Films sind am Ende tot oder sehr lädiert. Die Frauen nicht, aber dafür spielen sie durchgängig Neben- und dienende Rollen, als Stummfilmschauspielerinnen, als Sekretärinnen, Köchin, Haushälterin, als Journalistin und Biografin. Nur eine kann am Ende unversehrt, wenn auch nicht ungefährdet entschwinden. Sie hat, wenn man ihr glauben darf, eine Ausbildung als israelische Soldatin und einen falschen Namen. Darauf mache sich jedeR sebst einen Reim.