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Die neuen Flüchtlinge

El Salvador: Bericht über interne Vertriebene aufgrund von Mara-Gewalt

Viele soziale Organisationen betreuen die Menschen, die von der Gewalt in El Salvador betroffen sind, neuerdings auch die Menschen, die unter Zwangsvertreibung durch Gewalt, Drohungen, Erpressungen und Verfolgungen leiden. Nun liegt ein aktueller Bericht über dieses recht neue Phänomen vor, das wir im Folgenden dokumentieren. 

Lena Voigtländer
Ulf Baumgärtner

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von 1992 hat El Salvador eine Reihe von sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen erlebt, doch die strukturellen Probleme, die dem Bürgerkrieg zugrunde lagen, sind nicht gelöst worden. Armut, Ungleichheit, fehlende Möglichkeiten und die Korruption der staatlichen Institutionen lassen das soziale Gefüge immer weiter erodieren und haben neue soziale Dynamiken geschaffen. Eine der vielen Konsequenzen dieser gesellschaftlichen Spaltung ist das Phänomen der maras bzw. der pandillas und anderer krimineller Gruppen, die morden, entführen, vergewaltigen, erpressen, mit Drogen, Diebesgut, Waffen und Menschen handeln. Im Jahr 2015 hat der „Nationale Rat für die Sicherheit der Bürger und das Zusammenleben“, eine Initiative der Regierung, den Plan El Salvador Seguro („Sicheres El Salvador“) vorgestellt, der versucht, eine umfassende Antwort auf die Gewalt im Land zu geben, die neben repressiven Maßnahmen auch Prävention, Resozialisierung und Betreuung der Opfer beinhaltet.

Im Verlauf des Jahres 2015 ist die Gewalt weiter angestiegen und der August endete mit 911 Morden, nach Angaben der Gerichtsmedizin und der Polizei mit einem neuen Höchststand. Den offiziellen Daten zufolge wurden zwischen dem 1. Januar und dem 31. August 4246 Morde registriert. Die Maßnahmen der aktuellen Regierung haben bisher nicht die erhofften Resultate gebracht. Statt Prävention, Rehabilitierung, Begleitung und Betreuung der Opfer genügend Platz einzuräumen, wird in den Munizipien im Großraum San Salvadors, wo die Mordrate am höchsten ist, vor allem auf Konfrontation gesetzt. Die soziale Gewalt vertreibt Einzelne und ganze Familien aus ihren Heimatorten. Sie fliehen aus Angst vor den pandillas, die ihre Gebiete beherrschen. Die maras verlangen Kooperation bei ihren Straftaten, sie fordern die Töchter als sexuelle Objekte ein oder wollen die jugendlichen Söhne rekrutieren. Wenn das Leben direkt bedroht ist, ist es den Betroffenen letztlich egal, ob die Drohung nun von pandillas, Drogenhändlern oder Killerkommandos kommt. Hunderte von salvadorianischen Familien fliehen von ihrem Zuhause, um ihr Leben zu schützen. Viele von ihnen suchen auch Schutz außerhalb des Landes, weil sie von den salvadorianischen Institutionen unzureichend betreut und geschützt werden.

Der salvadorianische Staat erkennt offiziell nicht an, dass es ein Problem mit den internen Geflüchteten, den Verfolgten der um sich greifenden Gewalt gibt. Das Phänomen wird unsichtbar gemacht, heruntergespielt, vertuscht. Es gibt kein offizielles Register über die Anzahl der aufgrund von Gewalt Geflohenen im Land; die konkreten Fälle von Personen, die die öffentlichen Instanzen um Hilfe ersuchen, werden nicht registriert.

Der Runde Tisch „Zivilgesellschaft gegen die erzwungene Vertreibung in El Salvador“ setzt sich aus 13 Organisationen zusammen und versucht, neben der Betreuung in Einzelfällen, Aufmerksamkeit und Einfluss bei der Regierung und internationalen Instanzen zu bekommen, um das Thema sichtbar zu machen und eine bessere Betreuungsstruktur zu schaffen, um so das Leiden der Menschen zu mindern.

Im Jahresbericht 2015 des norwegischen Rates für Flüchtlinge über interne Vertriebene auf Grund von Konflikten und Gewalt, erscheint El Salvador zum ersten Mal als eines der Länder mit Binnenflüchtlingen, mit geschätzten 288 900 Menschen im Jahr 2014, die sich in einer Situation der erzwungenen Vertreibung befanden.

El Salvador hat etwas mehr als 20 000 Quadratkilometer – ein zu kleines Territorium, um die Strukturen der organisierten Kriminalität oder der pandillas zu verstecken, die in fast allen Teilen des Landes territoriale Kontrolle ausüben. Die Personen und Familien, die durch diese Strukturen bedroht werden, sehen sich gezwungen, sich zu verstecken und ständig umzuziehen. Ihre zivilen und politischen Rechte werden stark beschnitten, wie auch ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte, wenn sie fliehen und sich verstecken, nicht zur Arbeit gehen können, wenn Kinder, Jugendliche und junge Menschen ihre Schulen verlassen müssen und alte Menschen ihre medizinische Versorgung nicht bekommen können.

Dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) zufolge wurde zwischen 2009 und 2014 45 526 SalvadorianerInnen der Status als Flüchtling zugesprochen. Der Anstieg von Anträgen ist offensichtlich, wenn man sich anschaut, dass im Jahr 2009 von dieser Anzahl 5051 Flüchtlinge ihren Status erhielten, im selben Jahr gab es aber 9751 anhängige Fälle. Im Jahr 2014 wurde 10 969 SalvadorianerInnen der Status zugesprochen und es gab 18 037 noch offene Anträge. Zwischen beiden Jahren gab es also einen Anstieg von 117 Prozent bei den anerkannten Flüchtlingen und von 85 Prozent bei SalvadorianerInnen, deren Antrag auf Zuflucht noch anhängig ist.

Diese durch den UNHCR registrierte Zahl könnte noch viel höher ausfallen, wenn sich alle, die vor der Gewalt außer Landes fliehen, als Flüchtlinge registrieren ließen. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich nicht alle SalvadorianerInnen, die das Land aufgrund der Gewalt verlassen, an die internationalen Schutzsysteme wenden; oder sie werden von den Migrationsbehörden davon abgehalten, diese einzufordern, oder gar aufgefordert, bereits begonnene Prozesse abzubrechen, wie es in den USA und in Mexiko passiert. Die Asylanträge werden vorwiegend in Ländern wie USA, Kanada und Mexiko gestellt, dennoch haben Länder wie Nicaragua, Costa Rica und Panama ebenfalls einen Anstieg von Anträgen für internationalen Schutz verzeichnet.

Die Organisationen des Runden Tisches „Zivilgesellschaft gegen die erzwungene Vertreibung in El Salvador“ bietet diesen Opfern Hilfe, Begleitung und Unterstützung an. Dies schließt juristische Beratung, Unterkunft und psychologische Hilfe ein. In diesem Zusammenschluss von 13 Organisationen werden drei bis fünf Fälle pro Woche bekannt. Zumeist werden diese Leute an den Runden Tisch für Hilfe verwiesen, obwohl staatliche Instanzen, besonders das Ombudsbüro für Menschenrechte, eigentlich zuständig wären.

Es ist wichtig aufzuzeigen, dass in 92 Prozent der Fälle interner Vertreibung die Täter die pandillas sind. In 8 Prozent der Fälle waren es andere Akteure (die sich in einigen Fällen als pandilleros ausgaben), etwa Drogenhändler, Polizei oder die organisierte Kriminalität, die nicht mit den pandillas in Verbindung steht. Diese anderen Gewaltakteure sind bekannt dafür, dass sie unter anderem Drohungen machen und die Opfer bedrängen. In einem dieser Fälle ist die Polizei als Aggressor angezeigt worden. Die registrierten Vertreibungen wurden in 32 Prozent der Fälle durch die Ermordung eines Familienmitgliedes verursacht, in weiteren 30 Prozent aufgrund von Drohungen, bei 14 Prozent aufgrund unterschiedlicher Ursachen, bei 9 Prozent wegen versuchten Mordes und die restlichen 15 Prozent werden mit anderen Gewalttaten verbunden.

Der Runde Tisch fordert den salvadorianischen Staat auf, die Situation der internen Zwangsvertriebenen anzuerkennen und Gesetzes- oder andere Maßnahmen zum Schutz der Opfer zu ergreifen. Dieser Bericht wurde vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) in der thematischen Anhörung am 19. Oktober 2015 in Washington vorgestellt.1 Während der Veranstaltung sprachen die Regierungsvertreter von Anerkennung, konkrete Handlungen müssen nun folgen.