ila

Vierhundert

Trotz und wegen der Verhältnisse, wie sie sind
Uwe Bennholdt-Thomsen

40 Jahre, 400 Hefte, 24 000 Seiten, 24 000 000 Wörter, 120 000 000 Zeichen, 12 000 Fotos über fast 500 Millionen Menschen in mehr als 20 Ländern – so ungefähr.

Nichts davon beschreibt die dokumentarische, journalistische, redaktionelle, eben die geistige und alltägliche Arbeit, die von der ila, für die ila und alle, die sie lesen wollten, geleistet wurde, um darüber zu berichten, was in Lateinamerika geschah und geschieht.

Zahlen sind leblose Ziffern, die der Statistik dienen und nur scheinbar die Realität widerspiegeln. Vielleicht werden deshalb mit ihnen bei Katastrophen am liebsten die Toten gezählt und nicht die überlebenden Lebenden.

Die ila hielt und hält es für ihre Pflicht, auf Missstände, Ungerechtigkeiten und Verbrechen hinzuweisen, die falschen Versprechen der Regierenden und ihre wahren Beweggründe zu entlarven, die Willkür der Mächtigen gegenüber den Machtlosen und die Schamlosigkeit der Großindustrie und Finanzmächte anzuprangern und gegen die Gewalt und täglichen Gewalttätigkeiten ihre Stimmen und ihren Laptop zu erheben. Wir haben aber auch die Einsicht, dass es uns nicht gelingen konnte und nicht in unserer Macht stand, in die Speichen des  Rades der Geschichte Lateinamerikas einzugreifen und damit ihren Kurs zu ändern und entscheidend zu beeinflussen.

Was die ila immer versucht, ist, durch ehrliche Recherche und eindringliche Analysen auf solche Vorgänge aufmerksam zu machen, die, kaum öffentlich bekannt, vertuscht und verschwiegen werden. Tagtägliches Unrecht, Korruption, Betrug und Hinterlist, direkte und indirekte Unterdrückung, Landraub, Ausbeutung und Vertreibung.

Aber worauf es der ila natürlich vor allem ankam, war, das Leben der Menschen zu beschreiben, nicht nur ihre Geschichte, sondern auch ihre Geschichten, nicht nur da, wo sie schwach und misshandelt, sondern auch, wo sie stark und klug sind, wo sie uns ein Beispiel geben und viel von ihnen zu lernen ist.

Und das gilt nicht nur für ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Musik, Malerei, ihre Filme und Literatur, sondern auch für ihre Ziele und Träume. Für ihre Einsichten, ihr Weltbild, das heißt, wie sie die Welt sehen und deuten und wie sie sich wünschen, dass sie sein oder werden sollte. Den Gedanken vom Guten Leben, vom buen vivir, in dem nicht nur vom guten Leben, sondern davon die Rede ist, wie das Leben der Erde, von der wir leben, gut tun kann, gilt es zum Weltgedankenerbe zu erklären.

Wie und was können wir davon lernen? „Wir können die Welt nur verändern, wenn sie uns als veränderbare entgegenkommt.“ So ähnlich, glaube ich, heißt ein Satz von Habermas, und wir wollen, dass sie uns genau als eine solche entgegentritt. Sonst hätten wir nichts mehr zu sagen und den Glauben verloren, dass die Verhältnisse sich ändern können und müssen.

Das kritische Bewusstsein beim Betrachten der Hintergründe und Zustände der Realität in Lateinamerika steht uns zu, aber auch die Hoffnung und die akribische Suche nach den mutigen Pflänzchen, den beachtenswerten neuen Trieben, der Kraft und Stärke derer, die anders leben wollen, als es ihnen die zerstörerische Macht von Finanzmarkt und Profitsucht aufzwingt. Wie wir die Realität von Lateinamerika begreifen, betrifft das genauso den Rest der Welt.

Im Laufe der Jahrzehnte ist die ila weder linientreu geworden, noch ist sie dem Mainstream eines opportunistischen Liberalismus verfallen, noch hat sie ihr kritisches Bewusstsein aufgegeben, um linken Regierungen und Strömungen nach dem Mund zu reden, auch wenn diese scheinbar die Interessen des Volkes vertraten. Das heißt, sie hat konsequent mit demokratischen, linken Bewegungen sympathisiert und sie zu unterstützen versucht, ohne sich je parteikonform festzulegen oder der Maxime zu folgen: „Die Partei hat immer Recht.“

Das Heft, an dem ich am liebsten mitgearbeitet habe, gab indigenen Dichtern und Dichterinnen Lateinamerikas die Möglichkeit, ihre Werke vorzustellen und davon zu erzählen, wie und  für wen sie schreiben. Mein Ideal wäre es, wenn wir noch mehr und intensiver über das berichten würden, was die Menschen in Lateinamerika in ihrem Alltag bewegt, was sie erreichen wollen, was ihre Ziele sind und wie die sich von unseren unterscheiden, wo ihre Horizonte und Perspektiven über das hinausgehen, was wir sehen und was uns auffällt.

Ja, ich würde mir wünschen, wir könnten mehr ihr Sprachrohr sein, für Indígenas, Mestizos, Schwarze oder Weiße, um noch mehr von ihnen zu erfahren als über sie.

Es wird die ila nicht ewig geben, aber es gibt sie schon ganz schön lange und das ist gut so.