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Eine unverwechselbare Stimme ist verstummt

Abschied von Graciela Salsamendi
Britt Weyde

Am 16. Oktober 1998 wurde Augusto Pinochet in London festgenommen. Der spanische Richter Baltasar Garzón hatte mit seinen Ermittlungen gegen den ehemaligen Diktator erreicht, dass Spanien ein Auslieferungsbegehren stellte. Dieser Vorgang war bahnbrechend, setzte er doch neue internationale rechtliche Maßstäbe im Umgang mit Folterknechten. MenschenrechtsaktivistInnen auf aller Welt, vor allem in den lateinamerikanischen Ländern, die in den 70er- und 80er-Jahren unter den Militärdiktaturen gelitten hatten, diskutierten dieses Ereignis freudig erregt. Sie wollten diesen Präzedenzfall aktivistisch und publizistisch begleiten. So kam es, dass ich im uruguayischen Frühling des Jahres 1998 mit einer Gruppe von anarchistischen AktivistInnen unterwegs war, um die Wände Montevideos mit passenden Parolen zu versehen. Pinochet Asesino (Pinochet Mörder) passte auf jeden Fall, doch vielleicht hätte sich die Gruppe in ihrem Überschwang vorher besser beraten sollen, wo genau dieser Spruch hingepinselt werden sollte. Oder wo auch nicht, denn etwa auf der Mauer der chilenischen Botschaft machte er sich zwar gut, doch solche Gebäude sind bekanntlich hochgradig gesichert. Binnen weniger Minuten wurde der ganze aktivistische Trupp festgesetzt und auf eine Polizeiwache gebracht. „Ich möchte meinen Anwalt sprechen“, sagte Graciela Salsamendi, die ich kurz zuvor beim Radiokollektiv Testimonios kennengelernt hatte, zu dem mit den Personalien beschäftigten Polizeibeamten. „Ihr guckt zu viele Krimis im Fernsehen”, erwiderte er trocken. Die Frauen kamen alle in eine kleine Zelle. Wir verbrachten die Nacht auf dem nackten Boden, redend, scherzend, rauchend, um die Anspannung zu vertreiben. Am nächsten Morgen wurden wir wieder freigelassen. Die Knochen schmerzten zwar, aber es gab keine weiteren juristischen Nachspiele.

Dies war eine meiner ersten und irgendwie auch typischen Begegnungen mit Graciela, die ihr furchtloses und entschiedenes Wirken dem Kampf gegen die verschiedensten Ungerechtigkeiten dieser Welt widmete. Ihr Leben spielte sich vor allem in Monte-video und Köln ab, aber ihre Reisen als leidenschaftliche Radiojournalistin und Aktivistin führten sie unter anderem auch nach Mexiko, El Salvador, Venezuela, Brasilien und Argentinien.

Der große uruguayische Liedermacher Daniel Viglietti, der mit ihr eng befreundet war, erinnert sich in seiner Radiosendung Tímpano an Graciela: „Wer sie kennengelernt hatte, kannte ihre Leidenschaft für das Leben, die Gerechtigkeit und die Wahrheit. Sie war eine Forscherin, keine akademische, dafür aber umso lebensnaher.“

Ja, sie erforschte die Menschen und ihre Beziehungen untereinander und sie war gerade aufgrund ihrer zutiefst menschlichen und stets solidarischen Herangehensweise hochpolitisch. Und parteiisch. Sie hasste die Militärs, sie prangerte mir ihrer journalistischen Arbeit alle Formen von Ungerechtigkeit an. Und sie war eine harsche Kritikerin der Frente-Amplio-Regierung, etwa wegen deren Blockade bei der Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen oder der ungenügenden Sozialpolitik, die selbst in den vergleichsweise prosperierenden späten 2000er-Jahren immer noch Armut und Chancenlosigkeit für bestimmte Bevölkerungsschichten in Uruguay zuließ.

Zusammen mit ihrem Mann César Salsamendi, der im staatlichen uruguayischen Radio Sodre stellvertretender Programmdirektor gewesen war, ging Graciela in der von Krisen und Repression geprägten Zeit vor der endgültigen Institutionalisierung der Militärdiktatur (im Juni 1973) nach Deutschland, wo die beiden bei der Deutschen Welle arbeiteten.

Im Rheinland war Graciela neben ihrer Radioarbeit vor allem bekannt als dezidierte Streiterin im Rahmen der El-Salvador-Solidaritätsszene, konkret der „Kinderhilfe Lateinamerika“. Die El-Salvador-Solidarität war damals sehr breit und unternahm etwa so gewagte Aktionen wie die Besetzung des Kölner Doms (im September 1980). Ila-Redaktionsmitglied Ulf Baumgärtner erinnert sich: „Als ich im Rahmen der sogenannten Mittelamerika-Solidarität öfter ins Rheinland kam, waren die Frauen von der ‚Kinderhilfe Lateinamerika‘ eine Referenz, eine Orientierung und ein Anlaufpunkt für mich. Die Wohnung in der Luxemburger Straße, wo Graciela damals wohnte, war ein gern besuchter Ort. Auf einem der zahllosen Treffen entstand die Idee einer gemeinsamen Reise mit Graciela und ihrem damaligen mexikanischen Partner Héctor nach Mexiko-Stadt zu einem Solidaritätskongress. Diese Reise mit Graciela war sehr abwechslungs- und lehrreich.“

Nach der Diktatur ging Graciela 1985 wieder in ihr geliebtes Montevideo zurück und widmete sich der Radioarbeit vor Ort. Sie interviewte unzählige unbekannte und bekanntere Persönlichkeiten, zu letzteren zählen etwa Padre Cacho, ein sozialer Kämpfer in Uruguays Cantegriles (Elendsvierteln), Sara Mendes, die jahrelang nach ihrem von den Militärs geraubten Sohn Simon suchte, die Schriftsteller Mario Benedetti, Eduardo Galeano, Osvaldo Bayer und José Saramago, den antifaschistischen Widerstandskämpfer und Gewerkschafter Ernesto Kroch, die Schauspielerin Liv Ullmann, den Sänger Atahualpa Yupanqui, den Befreiungstheologen Leonardo Boff. Aber auch immens viele Menschen, die eben keine Celebrities waren, sondern die von ihren Kämpfen und Schicksalen berichteten: Angehörige von Verschwundenen, von Sojamonokulturen umzingelte Kleinbauern in Argentinien, verarmte alleinerziehende Mütter, MüllsammlerInnen, von häuslicher Gewalt betroffene Frauen, AktivistInnen, die für die Legalisierung der Abtreibung oder gegen Zellstofffabriken kämpfen oder die Nachkommen von Holocaust-Opfern, die sich auf eine Begegnung mit den Nachkommen der Mörder ihrer Eltern einließen. Und Graciela brachte sie alle zum Erzählen.

Zusammen mit den anderen Mitgliedern des Radio-Kollektivs Testimonios – im Laufe der Jahre waren dies Estela Peri, Raúl Zibechi, Juan-Pablo Mirza, Ruben Bouza, José Carlos Cavalla und der unvergessliche Tontechniker Gustavo Martínez – entwarfen und bauten sie gemeinsam ihre wöchentliche Sendung zusammen, wobei Graciela äußerst minuziös und recht streng den Ton angab. Prägendes Element dieser Sendungen war zweifellos auch ihre unverwechselbare, tiefe und zugleich sehr sinnliche Stimme.

Immer wieder kam sie aber auch nach Köln zurück, um ihre Tochter Soledad und ihre EnkelInnen Bruno und Ana zu besuchen und um im Kölner Allerweltshaus den einen oder anderen Radiokurs für „Alle-Welt-On-Air“ zu geben und die RadioaktivistInnen beim Zusammenbauen ihrer Beiträge zu unterstützen. „Einige Leute haben leider überhaupt keine Ahnung von Dramaturgie“, stöhnte sie bisweilen und ihr strenges Ohr legte sie auch im Studio des Freien Lokalrundfunks an. Die Redaktion der ila hatte zuletzt im Rahmen des Schwerpunkts „Anarchismus“ (ila 354, April 2012) näher mit Graciela zu tun. Sie stellte uns dankenswerterweise einen langen Beitrag zu der uruguayischen Anarchistenföderation FAU zur Verfügung.

Am 12. Februar 2017 ist diese Stimme verstummt. Graciela Salsamendi schlief nach monatelanger Krankheit im Kreis ihrer Familie und engsten FreundInnen in Köln ein. Ich bin dankbar dafür, sie kennengelernt zu haben.

Website und Archiv (inklusive vieler Podcasts von Sendungen): www.testimonios.org