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Nenn es bitte nicht Sozialismus!

Rezension: „The Last Day of Oppression, and the First Day of the Same” von Jeffery R. Webber
Britt Weyde

Jeffery R. Webber ist ein marxistischer Politologe, der an der Queen Mary Universität in London lehrt, und unter anderem für Jacobin Mag, NACLA und Latin American Research Review schreibt. Von ihm ist gerade ein Buch erschienen, das den Aufstieg und Fall der (Mitte-)Linksregierungen in Lateinamerika unter die Lupe nimmt.

Nach der Einleitung gibt Kapitel zwei einen Überblick darüber, wie die (Mitte-)Linksregierungen Anfang des neuen Jahrtausends an die Macht kommen konnten; es beschreibt die unmittelbare Vorgeschichte – die neoliberalen 80er- und 90er-Jahre, die tiefe Krise um die Jahrtausendwende, dann die aufkommenden, starken sozialen Bewegungen – und geht in längeren Abschnitten auf die Entwicklungen in Venezuela und Brasilien ein, was sehr gut lesbar und somit auch für EinsteigerInnen ins Thema geeignet ist.

Kapitel drei stellt theoretische Debatten über die anhaltende Ungleichheit in Lateinamerika vor und liefert Faktenmaterial. Ein bemerkenswertes Detail: Aufgrund des Rohstoffbooms sank die Ungleichheit in ganz Süd- und Zentralamerika zwischen 2002 und 2012, selbst in rechts regierten Ländern wie Kolumbien oder Panama (S. 80), auch die Armut ging in diesem Zeitraum überall zurück, wie später aufgezeigt wird (S. 172).

Unter der Überschrift „Die indigene Gemeinschaft als ‚lebender Organismus‘: José Carlos Mariátegui, romantischer Marxismus und extraktiver Kapitalismus in den Anden“ umreißt Webber in Kapitel vier einige Ideen des peruanischen marxistischen Theo-re-tikers José Carlos Mariátegui (1894-1930). Sein „revolu-tionärer Romantizismus“ könnte ein Gegenentwurf sein zum vorherrschenden Ökonomismus und der Fixierung auf Entwicklung bei wichtigen Protagonisten der neuen lateinamerikanischen Linken, wie etwa bei Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera (S. 106). Dessen Konzept eines „andinen Kapitalismus“, demzufolge Bolivien zunächst eine kapitalistische Industrie und eine nationale (indigene) Bourgeoisie aufbauen muss, bevor überhaupt in 50 bis 100 Jahren so etwas wie Sozialismus möglich sei, sowie die von ihm beschriebenen „fünf Phasen des Wandels“ werden im Folgenden kritisch kommentiert. Auch dieser Teil bietet eine gute Zusammenfassung der politischen Entwicklungen in Bolivien unter Evo Morales samt der herrschenden Diskurse, die sich zunehmend gegen KritikerInnen von links richten, die als „infantil“ oder „konterrevolutionär“ diffamiert werden (S. 115). Mariáteguis Gedanken, die in den letzten Jahren ein Revival in Lateinamerika erleben (S. 105), zeigen vor allem die Verbindungen zwischen Feudalismus, Kolonialität und Rassismus und somit auch die hartnäckig weiter bestehenden Machtbeziehungen in Lateinamerika auf: „In Europa fühlte sich der Adel zwar höherwertig, jedoch nicht ethnisch oder national anders als [seine Bediensteten].“ Deswegen hätte die europäische Aristokratie neue Umgangsweisen gegenüber den Bauern zulassen können. „Im kolonialen Amerika hingegen stand dieser Entwicklung der arrogante und tief verwurzelte Glauben an die Minderwertigkeit der people of color im Weg“ (S. 123). Ein moderner Vertreter des indigenen „romantischen Marxismus“ ist laut Webber Felipe Quispe, der „Mallku“: ein ehemaliger indigenistischer Guerillero und Vorsitzender des Kleinbauernverbands CSUTCB, Präsidentschaftskandidat 2002 und 2005, damals ein heftiger Widersacher und Kritiker (von links) von Evo Morales. Ein interessanter Exkurs, in dem auch das wenig bekannte Detail erwähnt wird, dass die vielfarbige Wiphala, Symbol des indigenen und vor allem Widerstands der Aymara, das durch die neue Verfassung von 2009 zum nationalen Symbol gemacht wurde, gar nicht so traditionsreich ist, wie kolportiert wird; sie sei ein Beispiel für „erfundene Tradition“ (S. 132). Auf alle Fälle macht dieses Kapitel Lust auf eine (Wieder)Entdeckung von Mariáteguis Werk.

Im fünften Kapitel wird die Bedeutung der chilenischen Studierenden-Revolte im Jahr 2011 gewürdigt, deren Vorläufer dargestellt, der ökonomisch-politische Kontext Chiles sowie der Brückenschlag der Bewegung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen und Belangen aufgezeigt. Da aber die chilenische Regierung unter Bachelet unseres Erachtens nicht zu den progressiven Regierungen zählt, steht dieses Kapitel etwas unvermittelt in der Mitte des Bandes.

Die folgenden zwei Kapitel widmen sich wieder Bolivien, über das der Autor reichlich an Expertise verfügt. Webber geht es darum, jenseits von Symbolismus und Diskursen die politische Praxis der Morales-Regierungen zu untersuchen. Zweifelsfrei hat Bolivien zwischen 2006 und 2016 ein außergewöhnliches Wirtschaftswachstum hingelegt und mittels Transferleistungen und Sozialprogrammen für den Rückgang der Armut gesorgt. Doch wie nachhaltig das ist und ob es nicht lediglich den Konsum befeuert hat, steht auf einem anderen Blatt. Dafür hat Webber ein denkwürdiges Zitat gefunden: „Das ist der Gipfel an Konsumismus. Nenn dieses Modell wie du willst. Aber nenn es bitte nicht Sozialismus oder Antikapitalismus, habt bitte ein bisschen Respekt vor Marx!“ (S. 159). Anschließend stellt Webber das Konzept der „Passiven Revolution“ von Antonio Gramsci vor, das seiner Meinung nach sehr gut die Entwicklung in Bolivien charakterisiert, wie „eine revolutionäre Form von politischer Transformation in ein konservatives Restaurierungsprojekt gepresst wird, das keinerlei national-populares ‚Jakobiner‘-Moment aufweist“ (S. 164). Passive Revolutionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder die alte Ordnung komplett herstellen noch eine radikale Revolution darstellen, vielmehr stehen sie für eine Dialektik zwischen Transformation und Erhaltung. Antineoliberale Reformen werden zwar angestrebt, ihnen sind aber Grenzen gesetzt. Darüber hinausgehende Bewegungen und ihre Forderungen werden bekämpft, eingehegt oder in das Regierungsprojekt eingebunden. Häufig sorgen charismatische Führungsfiguren für Befriedung und Disziplinierung (S. 167). Das Ergebnis ist ernüchternd, so stellt etwa ein Reporter der „Financial Times“ fest, dass Bolivien aktuell ein Land ist „das total offen ist, mit einer florierenden Marktökonomie dank eines fast schon thatcherartigen Umgangs mit den Finanzen“. Kapitel 7 stellt faktenreich die „Konsolidierung des Agrar-Kapitalismus“ in Bolivien dar, liefert dafür den historischen Hintergrund von (gescheiterten) Agrarreformen, und zeigt auf, wie sich in Boliviens Osten der agrarindustrielle Soja-Anbau durchgesetzt hat. Dies hat dazu geführt, dass Bolivien mittlerweile so viele Lebensmittel importiert wie noch nie (S. 195).

Im achten Kapitel rückt erneut Venezuela in den Fokus, anhand des laut Webber wichtigsten englischsprachigen Buches über den Bolivarianischen Prozess, nämlich George Ciccariello-Mahers „We Created Chávez“. Auch wenn Webber dieses Werk und dessen „seltene und wunderbare Beleuchtung der Einheit in der Vielfalt“ der chavistischen Basis würdigt, arbeitet er sich hauptsächlich daran ab. Nebenbei lernt die Leserin aber Interessantes über ländliche und städtische Guerillas sowie soziale Bewegungen im Venezuela der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Da es sich bei den einzelnen Kapiteln um bereits an anderer Stelle veröffentlichte, aktualisierte Beiträge handelt, wirkt das Buch wie ein Sammelsurium und mitunter etwas redundant. An einigen Stellen hätte man sich weitergehende Aktualisierungen gewünscht: Die politische Biographie von Felipe Quispe, des „Mallku“, ist es allemal wert, bekannt gemacht zu werden. Doch wo steht er heute? Ist er etwa auch befriedet worden wie sein ehemaliger Verband CSUTCB (S. 235)? Darauf gibt das Buch leider keine Antwort.

Das Resümee von Webber ist ernüchternd: Nicht nur sind in vielen Ländern Lateinamerikas rechte Kräfte im Aufwind, sondern die progressiven Regierungen selbst haben „ihre Regierungsprogramme nach rechts gerückt“. Nach dem Boom würden die Kosten der eigenen Basis aufgebürdet, „statt die Kapitaleigner zu konfrontieren und die Einnahmequellen zu sozialisieren“. Der progressive Zyklus habe sich erschöpft, die Aussichten seien düster. Aber als guter Marxist ist sich Webber ausnahmsweise mit García Linera einig, indem er hofft, dass die nächste revolutionäre Welle mittelfristig kommen werde (siehe Rezension zu „Die offenen Wege Lateinamerikas“).