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Queer = Kapitalismus = Tod!

Interview mit dem Kollektiv „Pachaqueer“ aus Quito

„Öffne deinen Arsch” flüstern sie, laufen mit Perücke und auf Zwölf-Zentimeter-Absätzen durch die Reihen und lassen dem Publikum Schnaps in den Rachen fließen. Coca und Mota sind queere Aktivist*innen – nein, sie machen queeren Aktivismus, queere Kunst. Im ila-Interview sprechen sie über die Lateinamerikanisierung des Queeren und wie das Konzept immer mehr vom kapitalistischen System vereinnahmt wird.

Mirjana Jandik

Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?

Mota: Auf kosmische Weise haben wir uns, glaube ich, viele Male kennengelernt. Quito ist ja eine sehr kleine Stadt und so sind wir uns einige Male über den Weg gelaufen, bis wir uns dann vor vier Jahren wirklich begegnet sind.

Coca: Ja, es war ein kosmischer Zufall. Ich hatte die Unterdrückung des Systems satt, suchte nach unabhängigen Orten und Mota kam gerade aus New York zurück mit der Idee, einen neuen Ort zu aktivieren. Eines Nachts ließen wir die Gedanken fließen, viele Ideen entstanden, die heute die Pacha sind. Es begann mit uns beiden, weil wir uns zufällig in diesem Moment begegnet sind, aber heute ist die Pacha eine Gemeinschaft vieler Körper*innen.

Und wie ist der Name Pachaqueer entstanden?

Mota: Wir haben uns immer verbunden gefühlt mit dem Kosmos, der Sonne, der Natur, mit der Universa, etwa mittels Praktiken wie Yoga oder Meditation. Als Kollektiva suchten wir eine Form, diese Verbindung mit dem Kosmos herzustellen und politisch zu durchdringen, die Heteronormativität zu durchbrechen. Vor vier Jahren war das Wort „queer“ das, was am nächsten an das kam, was wir ausdrücken wollten. Heute ist das nicht mehr so. Der Begriff wird immer mehr vom Kommerz vereinnahmt, wird kapitalisiert, funktionalisiert. Unser Name ist jetzt gesetzt, aber wir müssen selbstkritisch sein. Pachaqueer ist jedenfalls das: einerseits Verbindung zum Kosmos, zum Universum, andererseits die politische Dekonstruktion des Geschlechts.

Ihr sagt, dass das Konzept „queer“ praktisch vergewaltigt wurde. Was bedeutete es anfangs für euch?

Coca: Irgendwann habe ich mich mal als schwul, als homosexuell definiert. Aber innerhalb der LGBTI-Community musst du dich auch in einen festgelegten Kanon einfügen: die Konstruktionen von maskulin, feminin, aktiv, passiv. Irgendwann zogen mich Körper an, die biologisch die von Frauen sind, und ich beschäftigte mich viel mit der Ideologie der Bisexualität. Als die Mota und ich uns kennenlernten, war sie sehr beeindruckt von der Ideologie, Überzeugung und Utopie des Queeren, die sie in New York erlebt hatte. Sie erzählte mir davon und wow, das hat mich durchdrungen. Viele der verbotenen Gefühle, die ich in mir trug, flossen in dem Konzept zusammen und ich konnte mich mit dem Queeren identifizieren. Aber mittlerweile vermarktet sich die queere Ideologie so weit, dass jetzt an das LGBTI hinten ein Q angehängt wird. Das ist ein Prozess, genau wie wir in der Pacha auch ein Prozess sind. Und es gibt noch viel transzendentalere Themen, die uns beschäftigen sollten: Extraktivismus, Heteronormativität, Abtreibung, Machismo, Patriarchat.

Mota: Mein erster Kontakt mit dem Queeren war in New York. Mir gefiel vor allem die Möglichkeit, die diese Leute hatten, einfach sein zu können, wer sie sein wollten, diese irgendwie utopische Ausdrucksfreiheit. Die Frage war dann, wie wir diese Bewegung in unsere eigene Kosmovision übersetzen können, in unsere Art zu fühlen, unsere Einstellungen. Daher nicht nur queer, sondern Pachaqueer. Auch wenn es jetzt immer mehr an Bedeutung verliert, das Wort queer steht in seinem Ursprung ja für eine Gruppe von Personen, die den Status Quo der Gesellschaft hinterfragen.

Coca: Aber wenn das System merkt, dass es Körper*innen gibt, die nicht mehr Teil sein, die ausbrechen wollen, hat es eine Strategie, um sie verschwinden zu lassen, ähnlich wie es mit den Hippies oder toten Poeten passiert ist. Sie werden ins System integriert. Heute gibt es queere Tendenz, queere Mode, queere KünstlerInnen, queere Musik. Es ist traurig zu sehen, wie Aktivismus und Überzeugungen am Ende vermarktet werden und zu einem Blatt im Fächer aus Farben verkommen, der heute das System ist.

Wenn jemand sagt: Ich bin queer, wird das Queere dann nicht einfach zu einer weiteren Schublade? Wo bleibt das Postidentitäre?

Mota: Genau deswegen sagen wir: Tod dem Queer! Queer = Kapitalismus = Tod. Ich habe eindeutig den Eindruck, dass „queer“ zu einer Kategorie geworden ist und dass diese Kategorie dem System gehört. Du kannst nicht mehr sagen, dass das Queere ein Protest ist. Es kommt natürlich darauf an, wie das Wort verwendet und verstanden wird, aber generell habe ich das Gefühl, dass das Wort „queer“ dem Kapitalismus gehört. Coca und ich werden also immer wieder fliehen und neue Möglichkeiten entwickeln, wie zum Beispiel lo cuy („das Meerschweinische“, Anm. der Autorin). Damit identifizieren wir uns jetzt mehr, denn es enthält das Tierische, die Verbindung mit der Pacha. Solche Alternativen gibt es viele: cuir oder kuir statt queer. Jede hat ihre eigene Art, sich das Wort anzueignen. Aber generell gibt es dieses Problem, dass sich eine neue Kategorie gebildet hat, und das ist genau die Kategorie, die das Queere anfangs demontieren wollte.

Welche Rolle spielt das Queere in der LGBTI-Bewegung in Ecuador?

Coca: Wir sind keine sexuellen Dissident*innen, sondern soziale und kulturelle Dissident*innen. Es ist traurig, dass es innerhalb der LGBTI-Bewegung Konfrontationen zwischen Minderheiten gibt. Wir kämpfen für die gleichen Ziele, aber innerhalb der Bewegung werden heterosexuelle Strukturen reproduziert. Wenn die Maricas für gleichberechtigte Ehe kämpfen wollen und so weiter die traditionellen Familienstrukturen nähren – schön für sie, wenn es sie glücklich macht. Wir machen unsere Performances und hoffen, so zum Prozess beizutragen. Wir identifizieren uns auch nicht mit diesem Schreibtischaktivismus von Leuten, die den Namen einer Kollektiva unter irgendeine Petition setzen, aber selbst nie auf der Straße protestiert haben. Aber wer sind wir, um das verurteilen zu dürfen? Wenn es also Körperinnen gibt, die sich mit unserer Form der Beteiligung, des Widerstands, der Freiheiten identifizieren, ist das toll, aber wir wollen auch nicht die neue Institution des Protests sein. Jede hat ihre eigene Art, sich dem heteronormativen System zu widersetzen.

Mota: Es ist wirklich ein bisschen das Postidentitäre: Wir müssen uns im Moment mit nichts und niemandem identifizieren. Weder die Regenbogenflagge noch die Demokratie repräsentieren uns. Wir identifizieren uns nicht mit diesen hegemonialen Gesellschaftsformen. Wir sind ein nichtidentitäres Projekt. Wir kämpfen nicht für Rechte, wir glauben einfach, dass wir das Recht haben, zu sein.

Coca: Oder dieses neue Thema der Inklusion, das beschäftigt uns sehr. Inklusion bedeutet ja, dass es irgendwann Exklusion gegeben hat. Aber wir sind doch gar nicht ausgeschlossen gewesen. Wir, und ich spreche für all diese anderen Formen, die wir in der Gesellschaft existieren, wir waren immer schon da. Eine andere Sache ist es, dass wir von den moralistischen, konservativen, heteronormalen Gesellschaften nicht anerkannt und in die Peripherie verbannt wurden. Aber eben diese Peripherien haben wir schon immer bevölkert, mit dem ganzen Gewicht der Gesellschaft auf unseren Rücken. Wenn sie mir jetzt also mit Inklusion kommen, können sie mich am Arsch lecken. Wir waren schon immer Teil der Gesellschaft.

Ihr seid ein Künstler*innenkollektiv. Habt ihr das Gefühl, dass es einfacher ist, das Queere in der Kunst zu leben als im Alltag?

Coca: Das ist auf jeden Fall einfacher. Wenn du eine Show machst, sagst du: Das ist ein queeres Werk. Wenn du aber in Absätzen auf die Straße gehst, spürst du, wie befremdend du wirkst. Die Leute haben dieses Bild, dass Travestis entweder in Friseurläden abhängen oder sexuelle Arbeit anbieten. Sobald wir aber in die Straßenbahn steigen, in die Uni gehen oder zu irgendeiner Galerie, um einen Workshop zu geben, oder wenn ich in Absätzen meine Oma besuchen fahre und aus dem Taxi aussteige, dann merkst du, wie destabilisierend und gewalttätig dieses Empowerment ist. Wenn du hingegen eine Show in einer Galerie machst, ist es deutlich einfacher, denn die Leute erwarten so etwas.

Mota: Kunst ist letztlich oft heuchlerisch. Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft Kunst wie eine Maske benutzt, um die Dinge zu sagen, die sie sich nicht traut, laut auszusprechen. Viele Künstler*innen können nur auf diesem Quadratmeter der Galerie ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken. Sobald wir aber diese Orte verlassen, kehren wir zum Alltag, zur Gewalt, zum Status Quo und zum Konsum zurück. Für uns ist Kunst eine Art zu erzählen, was wir erleben. Oft funktioniert Kunst hingegen wie eine Art Zirkus, wo die Leute einfach ein Spektakel anschauen. Genau in diesen Plattformen, in der Kunst, in der Akademie, verblassen die sozialen Kämpfe. Starke Basisbewegungen verblassen, weil sie kategorisiert und lesbar werden. Wir sind jetzt lesbare und kategorisierte Objekt*innen. In der Kunst passiert genau das. Statt sichtbar zu machen und zu empowern, nährt sie Strukturen der Unterdrückung.

Welche Art von Gewalt habt ihr erlebt, im Alltag wie in der Kunst?

Mota: Das beginnt in der Familie, der ersten Institution, die über uns alle Gewalt ausübt, bis hin zu absolut transphoben Handlungen wie der, die uns in Peru begegnete, in Cuzco. Wir waren schockiert von der Gewalt, die die vom Tourismus ausgelöste Gentrifizierung ausübt. Die Orte sind für Einheimische nicht mehr zugänglich, nur noch für Ausländer*innen, die das nötige Kapital haben. Wir machten auf dem Hauptplatz eine Performance, die diese Zustände anprangert. Es war eine unserer sanftesten Performances. Wir haben uns gegenseitig die Lippen geschminkt, uns travestiert, die Shirts gewechselt und dabei ein selbstgeschriebenes Gedicht aufgesagt. Plötzlich wurden wir von der Polizei unterbrochen, die uns fragte, was wir tun, warum wir wie Mädchen angezogen sind. Das hat sich zu einer Diskussion zwischen dem Publikum hochgeschaukelt. Während die einen meinten, wir könnten uns anziehen, wie wir möchten, sagten andere: Das geht nicht, hier sind Kinder!

Coca: Oder: Vier Blocks von hier gibt es einen Ort für Leute wie euch – wie peinlich! Als wir schon glaubten, der Konflikt sei gelöst, wurden wir erneut von Polizisten angehalten, die unsere Ausweise sehen wollten, nur unsere, von niemandem sonst. Als wir eine Erklärung forderten und uns weigerten, wurden wir zu Boden geworfen, zum Polizeiauto gezerrt und auf die Wache gefahren.

Mota: Aus der konservativen und kolonisierten lokalen Sicht war es gerechtfertigt, dass uns diese Gewalt widerfuhr. Es war heftig zu merken, wie Gewalt als natürlich angenommen wird. Wenn du siehst, wie jemand geschlagen wird, und nichts dagegen tust, weil die Gewalt, die du an der eigenen Körper*in erfährst, so normal ist, dass es dir gleichgültig ist, ob sie anderen widerfährt. Gewalt gibt es in vielen Szenarien. Wenn du die Straße entlang gehst und plötzlich mit dem Finger auf dich gezeigt wird, die Leute über dich lachen.

Coca: Wenn du durchschnittlich 20 Minuten warten musst, bis ein Taxi anhält, das ist auch Gewalt. Dich nicht anzuerkennen, dich nicht zu erwähnen, das ist Gewalt. Wir sprechen deshalb in der Pacha nicht von Gewalt, sondern von Gewalten, im Plural. Die sind ständig präsent und beeinträchtigen deine innere Ruhe. Das gilt besonders für alle cuerpas monstruas (Monsterkörper*innen): für Transkörper*innen, für den Rocker, die Verrückte im Minirock, die dicken Körper*innen, für die Indigene, die Ausländerin, die Blonde. Für all die Körper*innen, die nicht in die quadratische Mentalität der Leute passen. Und das geht durch alle Schichten, von der Bourgeoisie bis zum Proletariat.

Woher kommt dieses Bedürfnis nach „dem Normalen“?

Mota: Im lateinamerikanischen Kontext übt das Patriarchat enormen Druck aus. Alles Feminine erleidet daher per se Gewalt, ganz besonders Feministinnen, Trans, Drags, Maricas.

Das System lebt ja davon. Ohne diese Gewalt würde das System zusammenbrechen. Für die Kontrollinstitutionen – Kirche, Staat, Akademie – ist es daher so wichtig, das binäre System von Mann und Frau aufrechtzuerhalten. Die Angst, die die Leute davor haben, zu merken, dass sie eigentlich unglücklich mit ihrem Leben sind, lässt uns vorsichtig werden, um immerhin diese eine Sicherheit aufrechtzuerhalten, die wir geschaffen haben, dass wir in einem heteronormativen, binären System leben. Dieses System wird von den großen Mächten gelenkt, besonders von der Wirtschaft. Die interessiert nichts anderes als das, was sich verkaufen lässt. Bald kommt ein Disneyfilm mit einer Transprinzessin heraus und so wird es weitergehen. In zehn Jahren lesen wir sicher in den Medien „die Transaktivistin“, „der queere Präsident“, „die queere Nation“. Die Genderdebatte ist nicht die Spitze des Eisbergs. Wir müssen uns jetzt fragen: Was ist mit der Wirtschaft? Was ist mit der Politik, mit dem Territorium? Warum gibt es immer noch Grenzen?

Coca: In zehn, fünfzehn Jahren werden trans, queer und alles Monströse einfach weitere Kategorien des Systems sein. Wir werden aber weiter rebellieren und nicht die Strukturen der Unterdrückung reproduzieren.

Das Interview führte Mirjana Jandik im Mai 2017 in Quito.