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Magischer Realismus

Die Olympischen Jugendspiele 2018 in Buenos Aires werden zehnmal so teuer wie vorhergesagt

Buenos Aires ist voller schöner Ecken, ganz gleich, ob man sich in den 40 Hektar großen Wäldern von Palermo verläuft, das aus den 70er-Jahren stammende Messegelände der einflussreichen Sociedad Rural an der Plaza Italia bestaunt oder im Delta des Tigre Bötchen fährt, alles Orte, die man sich auch als Kulisse für Sportveranstaltungen vorstellen könnte, die aber keine Sportstätten sind. Anders sind das Hippodrom, in dem seit 1885 Pferderennen ausgetragen werden, die Arenen der sechs Erstliga-Fußballteams, die Anlagen der traditionellen Turn- und Sportvereine und das riesige Sportzentrum Cenard. Warum also sollte es keine Olympischen Spiele in der Metropole am Río de la Plata geben? 1936 hatte sich Buenos Aires zum ersten Mal beworben und dann 1956, 1968 und 2004, immer vergeblich. 2013 folgte die Bewerbung für die Olympischen Jugendspiele und siehe da, es klappte. Man präsentierte ein Budget von 231 Millionen US-Dollar, 105 davon für die Durchführung der Spiele und 126 für den Bau des Olympischen Dorfes. Mitbewerber Glasgow legte ein fast doppelt so teures Konzept vor. Buenos Aires setzte fast komplett auf die Nutzung vorhandener Sportstätten und auf Orte, die nach Umbauten als solche genutzt werden könnten. Damit überzeugten der damalige Bürgermeister Mauricio Macri und der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) Gerardo Werthein das Internationale Olympische Komitee (IOC), das 2013 deutlich gegen Gigantismus und riesige Bauvorhaben Stellung bezogen hatte.

Sandra Schmidt

Auf ihr 231 Millionen-Dollar-Budget kamen die ambitionierten Argentinier*innen, indem sie annahmen, 2018 stehe der Wechselkurs vom Dollar zum argentinischen Peso 1 zu 4,5. Doch tatsächlich lag der offizielle Kurs bereits am Tag der Entscheidung, dem 4. Juli 2013, bei 5,4 Peso, der auf dem Schwarzmarkt bei 7,9 Peso. Der IOC-Bericht zu den drei Bewerbungen hatte bereits im November 2012 konstatiert, dass der angenommene Kurs angesichts der hohen Inflationsrate Argentiniens ein „Risiko“ darstelle. Heute gibt es für einen Dollar gut 28 Pesos, kurzum die Jugendspiele sind so oder so schon gut sechsmal teurer als prognostiziert. Das allein wäre vermutlich kaum der Rede wert. Aber es gibt andere Zahlen, die Ernesto Rodríguez III recherchiert hat: „Ursprünglich waren es rund 1,4 Milliarden argentinische Pesos, am heutigen Tag sind wir bei circa 11,5 Milliarden“, sagt er im Februar über die Kostenentwicklung. Derartige Sportveranstaltungen werden immer teurer als geplant. Historisch sind die Olympischen Spiele von Montreal in Kanada bisher das Beispiel größter Verschwendung. Sie wurden über 700 Prozent teurer als geplant. „Argentinien liegt jetzt schon bei 1000 Prozent, das ist ein Rekord“, konstatiert Rodríguez III trocken und findet auch in seinem Blog (https://olimpicosargentinos.com.ar) klare Worte, so auch zu Gerardo Werthein, seines Zeichens auch Präsident des Organisationskomitees (OK): „Er ist Komplize dieser riesigen Lüge, er hat die anfängliche Lüge, als man ein Budget mit einem fiktiven Dollarkurs vorgestellt hat, mitgetragen. Und er lügt weiter, wenn er sagt, dass alles rund läuft. Dabei hat man den Bürger*innen dieser Stadt hier in fünf Jahren noch nicht ein Mal erklärt, was mit diesem ganzen Geld geschieht.“

Alejandro Lifschitz ist Kommunikationsdirektor des OK. Auf die Frage nach den Kosten antwortet er: „Unser Etat, der operative Etat, beläuft sich auf etwa 210 Millionen US-Dollar, von denen 20 bis 25 Millionen vom IOC und aus unseren Lizenz- und Sponsorenverträgen gedeckt werden. Den Rest finanziert die Regierung der Stadt Buenos Aires.“ Auf Nachfrage erklärt er, die Errichtung des Olympische Dorf sei ein Projekt des Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires und somit nicht Teil des Kostenplans.

Das Olympische Dorf liegt in einem ganz anderen Buenos Aires, einem, das vom zentralen Viertel Palermo mit mehreren Bussen in gut anderthalb Stunden zu erreichen ist und Villa Soldati heißt. Der Busfahrer hat von einem Olympischen Dorf oder irgendwelchen Jugendspielen noch nie etwas gehört, obwohl er diese Strecke tageintagaus fährt. Menschen sind an der Haltestelle rund fünf Kilometer stadtauswärts auf der Avenida Fernández de la Cruz nicht mehr viele im Bus. Diejenigen, die mit uns aussteigen, sind sehr jung, einige Mädchen haben Kinder auf den Armen, die Gesichter lassen auf ihre Herkunft aus Paraguay oder Bolivien schließen. Sie gehen über die vielspurige Straße nach rechts Richtung Villa 20, eines der vielen illegal entstandenen Elendsviertel von Buenos Aires.

Am äußeren, zur Straße hingewandten Rand der villa, die hier tatsächlich Papa Francisco heißt, werden nun auch einige wenige ordentliche Häuser gebaut. Die Villa 20 liegt in der Comuna 8, laut Statistik die ärmste Gemeinde der Stadt, mit rund 200 000 Einwohner*innen. Ein Gros der bis zu fünfstöckigen prekären Behausungen der Villa ist nicht ans reguläre Wasser- und Stromnetz angeschlossen, verfügt über keine Kloaken und kennt keine städtische Müllentsorgung. Nach verschiedenen Schätzungen leben 70 Prozent oder über 11 300 Familien der Comuna 8 in solchen Ansiedlungen beziehungsweise auf extrem beengtem Wohnraum. Auch deshalb war das ursprüngliche Projekt zur weiteren Nutzung des Olympischen Dorfes eine gute Idee. Der erste Gesetzentwurf sah vor, ein Drittel der geplanten 1200 Wohnungen direkt an Menschen aus den Elendsvierteln zu vergeben, die auf dem normalen Wohnungsmarkt völlig chancenlos sind, also sie zu verschenken, ein weiteres Drittel an bedürftige Menschen, die Anrecht auf ganz bestimmte Bankkonditionen haben, und das letzte Drittel über günstige Kredite einer Bank in öffentlicher Hand. Alle Wohnungen sollten an Bewohner*innen der Comuna 8 gehen.

Die Häuser auf dem Gebiet des Olympischen Dorfes waren schon im Februar fast fertig. Es gibt einige bunte Platten an den grauen Außenwänden, mal blau, mal grün, mal rot. Das sieht alles sehr nett aus und wird im Oktober für gut zwei Wochen rund 4000 Athlet*innen und ihre Betreuer*innen beherbergen. Mittlerweile sind auf der OK-Homepage viele schöne Fotos zu sehen, so mit Ex-Tennisstar Gabriela Sabatini, die sich strahlend die bunte YOG-Bettwäsche umhängt. Die Wohnungen verfügen momentan, den IOC-Vorgaben entsprechend, weder über eine Küche noch über einen Gasanschluss. Beides soll gleich nach Ende der Spiele eingebaut werden.

Die Onlineregistrierung für Kaufwillige auf der Plattform des stadteigenen Instituts für Wohnraum ist mittlerweile abgeschlossen. Dort kann man nachlesen, wie sich der ursprüngliche Plan zur weiteren Nutzung gewandelt hat. Explizit heißt es, man ziele auf „Familien der Mittelklasse“, für maximal 50 Prozent der Wohnungen wird Bewohner*innen der Comuna 8 Priorität eingeräumt, je zehn Prozent gehen an Polizist*innen und Dozent*innen. Von den Bewohner*innen der Elendsviertel ist keine Rede. Nach Recherchen von Rodríguez III war die Errichtung des Olympischen Dorfes 73 Prozent teurer als ursprünglich geplant, und das obwohl auf einige Ausschreibungen und somit letztlich 164 Wohnungen ganz verzichtet wurde. Außerdem liege der Quadratmeterpreis der olympischen Wohnungen rund 50 Prozent über dem Marktwert in dieser Gegend.

Aber immerhin war die Errichtung des Olympischen Dorfes Teil der ursprünglichen Bewerbung, nicht so der Neubau von Sportstätten, die nun neben dem Olympischen Dorf im besagten Viertel Villa Soldati, das ebenfalls zur Comuna 8 gehört, aus dem Boden sprießen. Im Olympischen Zentrum der Jugend entstehen fünf Sporthallen, Hockeyfelder, die Leichtathletikanlage und ein Schwimmstadion. Vergleicht man die aktuelle Verteilung in der Stadt, finden noch genau vier Sportarten an jenem Ort statt, der im Bewerbungskonzept von 2013 mal vorgesehen war. Tatsächlich sagt Alejandro Lifschitz: „Die Spiele, die hier in sieben Monaten stattfinden werden, und die Spiele, die anfänglich geplant worden waren, sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Das wäre, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen.“ Die Ausgaben seien aus verschiedenen Gründen gestiegen, zum einen weil vier neue Sportarten ins Programm genommen wurden, zum anderen weil man sich „auf dem Weg entschieden habe, die Matrix zu verändern und Spiele zu veranstalten, die hundert Prozent Vermächtnis hinterlassen, anstatt existierende Stadien anzumieten oder zu nutzen“. Dies sei selbstverständlich mit dem IOC koordiniert worden und mit seiner Zustimmung geschehen, sagt Lifschitz.

Auch in Argentinien müssen solche Bauvorhaben öffentlich ausgeschrieben werden. Nach den Recherchen von Ernesto Rodríguez III gibt es vielfältige Hinweise darauf, dass sich die konkurrierenden Unternehmen in ihren Angeboten abgesprochen haben. „Außerdem unterhält eine Mehrheit der Unternehmen, welche Ausschreibungen gewonnen haben, direkte oder indirekte Beziehungen zu den aktuellen politischen Machthabern, also Mauricio Macri oder Horacio Rodríguez Larreta“, sagt er. Das bemerkenswerteste Beispiel ist das Schwimmstadion, die mit knapp 505 Millionen Pesos kostenträchtigste Einzelausschreibung. Sie wurde von Niro Construcciones SA gewonnen, und das obwohl deren Kostenvoranschlag gut drei Millionen Pesos über der ausgeschriebenen Höchstsumme lag. Ihr Besitzer Lucio Niro hat gute Drähte zu einigen Staatssekretären der Stadtregierung. Das ist aber nicht mal das Problem: „Die Firma Niro hat nicht das Know How, Schwimmbäder zu bauen, sie können höchstens Wohnungen bauen“, sagt Rodríguez III. Also habe man Niro geraten, Myrtha Pools zu kontaktieren, ein italienisches Unternehmen, das auf Schwimmbadbau spezialisiert ist. Der argentinische Vertreter von Myrtha Pools war Orlando Moccagatta, Staatssekretär im nationalen Sportsekretariat, der im vergangenen September wegen Korruptionsvorwürfen entlassen wurde.

Die Frage, warum die Stadt Buenos Aires, in der knapp 20 Prozent der Bevölkerung als arm oder bedürftig gelten und über eine Viertelmillion Menschen in Elendsvierteln leben, plötzlich scheinbar problemlos Millionen für neue Sporthallen auftreibt, drängt sich da schon auf. Und hier kommt der Cenard ins Spiel. Das Nationale Zentrum für Hochleistungssport hat eine lange Geschichte. Anfang der 50er entstanden, trägt die zentrale Sporthalle seit jeher den Namen des deutschen Sportführers und Cheforganisators der Olympischen Sommerspiele von 1936 Carl Diem. Das weitläufige Gelände, auf dem Trainingsstätten, Sportmedizin und Physiotherapie, Internate, Trainerausbildungsstätten und Verbandsorgane Platz finden, hat das Flair einer ganz eigenen Welt. Dabei liegt der Cenard nicht abgeschieden vor den Toren der Metropole, sondern im nördlichen Stadtteil Nuñez, der an den Río de la Plata grenzt und eines der sichtbar wohlhabenden Viertel der Stadt ist. Der Quadratmeter kostet hier im Durchschnitt circa vier Mal so viel wie in Villa Soldati. Als Mauricio Macri, der die Bewerbung 2013 angeführt hatte, zwei Jahre später Regierungschef wurde, folgte ihm sein Parteifreund Horacio Rodríguez Larreta als Bürgermeister von Buenos Aires. Die Urbanisierung der grünen Zonen im Norden der Stadt ist eines seiner Lieblingsprojekte. „Der Paradigmenwechsel hin zur Errichtung all der Sportstätten vollzieht sich, als Larreta entscheidet, auf dem Gelände des Cenards Luxuswohnungen zu bauen“, ist Ernesto Rodríguez überzeugt, „er brauchte einfach einen Grund, woanders Sportstätten zu bauen.“ Die Jugendspiele seien somit nichts als der notwendige Vorwand für ein enormes Immobilienprojekt, und zwar eines, das, so viel ist schon heute klar, nur für reiche Porteños oder ausländische Käufer Vorteile haben wird.

Alejandro Lifschitz bestätigte im Februar, dass nach einer Phase der Koexistenz geplant ist, die Gegend der jetzt neu gebauten Sportstätten zum Hochleistungssportzentrum der Nation zu machen. Für die endgültige Schließung des alten Cenard gebe es allerdings kein Datum. „Das hängt auch nicht vom Organisationskomitee der Jugendspiele ab, das ist eine Entscheidung des Sportsekretariats der Nation“, erklärt er. Das Sportsekretariat der Nation teilt sich mit dem NOK die Führung des ENARD, einer 2009 gegründeten Institution für den Hochleistungssport Argentiniens. OK-Chef Gerardo Werthein wiederum ist nicht nur Präsident des NOK, sondern auch jener des ENARD. Schon 2016 hatte er in diversen Interviews erklärt, er halte den Umzug des Cenard in den Süden der Stadt, also in die nun neu errichteten Sportstätten, für eine gute Idee. Fragt sich, warum er als oberster Sportführer das Gelände in Nuñez offenbar ohne Widerstand aufzugeben bereit ist. Nach Recherchen von Rodríguez III wird allein der Verkauf des Cenard-Geländes der Stadt circa eine Milliarde US-Dollar einbringen. Der Bau der angedachten Luxuswohntürme mit Blick auf den Río de la Plata wird ein enormes Geschäft, nicht zuletzt für Investoren und Baufirmen. Und siehe da, laut eigener Homepage hat die Grupo Werthein „mit ihren Unternehmen oder zusammen mit anderen Gruppen“ über 330 000 Quadratmeter Wohnfläche erbaut, unter anderem zwei Wohntürme in Nuñez. Gerardo Werthein ist seit Jahrzehnten im Familiengeschäft, das zu den größten Unternehmensgruppen des Landes gehört, aktiv.

In den Reihen des IOC, dem Werthein seit 2009 angehört, gilt der ausgebildete Veterinärmediziner, der als Delegationsleiter der argentinischen Reiter bei den Olympischen Spielen von 2000 bis 2008 teilweise andere Angehörige der eigenen Familie betreut hat, als einer der engsten Vertrauten von IOC-Präsident Thomas Bach. Der wiederum hat seit Jahren Probleme, Bewerbungen für Olympische Spiele zu bekommen, die nicht aus autokratischen Staaten stammen. So gab es im letzten Jahr nach dem Rückzug von Hamburg, Rom und Budapest letztlich nur noch zwei Bewerber für die Ausgabe im Jahr 2024. Die Spiele gingen an Paris, Mitbewerber Los Angeles bekam, ohne erneutes Bewerbungsverfahren, die Spiele 2028. Wie das weitergehen soll, scheint momentan unklar. Aber Gerardo Werthein will unbedingt Olympische Spiele nach Buenos Aires holen. Seit Monaten lässt er keine Chance aus, die Jugendspiele im Oktober als eine Generalprobe für eine Bewerbung um die Sommerspiele 2032 zu titulieren. Das wird Thomas Bach zweifelsohne freuen. Dass sein IOC deswegen die irrwitzige Kostenexplosion für die Jugendspiele zumindest öffentlich komplett ignoriert, ist selbstredend nicht zu belegen.

Präsident Mauricio Macri hatte übrigens kurz nach der Entscheidung für Buenos Aires im Juli 2013 gesagt: „In Buenos Aires muss so gut wie nichts investiert werden, weil wir alle Stadien und Hallen, die es braucht, schon haben. Das Einzige, was wir bauen, wird das Olympische Dorf sein, das danach in Sozialwohnungen umgewandelt wird.“