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Soziale Bewegungen in Guatemala

Buchbesprechung
Christiane Schulz

Tausende von Menschen versammelten sich im Juli 2018 in Guatemala-Stadt und forderten den Rücktritt von Präsident Jimmy Morales. Die Regierung hatte trotz einer Warnung von Seismologen die Bevölkerung nicht vor einem Vulkanausbruch gewarnt und demnach die rasche Umsetzung von Katastrophenplänen verhindert. Mehr als 100 Menschen kamen dabei ums Leben, tausende mussten aus ihren Häusern fliehen und in Notunterkünften Schutz suchen, 1,7 Millionen Menschen waren von dem Vulkanausbruch betroffen.
Die Proteste gegen die Regierung ebenso wie die tatkräftige Unterstützung der Bevölkerung für die Betroffenen zeugen von der hohen Mobilisierungsfähigkeit der sozialen Bewegungen. Erklärungsmuster zu den Stärken und Schwächen der guatemaltekischen sozialen Bewegungen stellt Eva Kalny in ihrer 2017 veröffentlichtem Habilitation „Soziale Bewegungen in Guatemala – Eine kritische Theoriediskussion“ vor. Die Autorin leistet mit ihrem differenzierten Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Guatemala und die kritische Auseinandersetzung mit Theorieansätzen zu sozialen Bewegungen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der aktuellen Ereignisse.
Im Mittelpunkt der Analyse stehen Frauenbewegungen, indigenen Bewegungen und Ressourcenkämpfe – als „kollektiv widerständiges Handeln“ – in ihren Wechselwirkungen mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Jede dieser Bewegungen wendet sich gegen mindestens eine der drei zentralen gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen: Geschlecht, Ethnizität und Klasse. Eva Kalny erforscht die guatemaltekischen sozialen Bewegungen als Akteure, die einerseits von spezifischen Rahmenbedingungen geprägt sind und andererseits diese gesellschaftlichen Strukturen gleichzeitig verändern wollen.
Die jeweilige Entstehungsgeschichte der verschiedenen Bewegungen zeugt von den extrem heterogenen gesellschaftlichen Lebensrealitäten. Indigene und mestizische Aktivistinnen definierten sich nicht nur über genderspezifische, sondern vor allem über klassenspezifische Interessen. Männlich dominierte Gewerkschaften verweigerten ihre Solidarität den Arbeiterinnen und die Thematisierung spezifischer Ausbeutungsverhältnisse, denen Frauen ausgesetzt waren. Die Interessen der indigenen Elite wiederum standen im Widerspruch zu jenen der indigenen Hochlandbevölkerung. Eva Kalny identifiziert mobilisierungshemmende Faktoren innerhalb und zwischen den sozialen Bewegungen. Sie zeigt aber auch auf, unter welchen Bedingungen Gruppen sich erfolgreich zu kollektivem widerständigem Handeln zusammengeschlossen haben. Dazu zählen beispielsweise die Allianzen von Minenarbeitern, indigenen und mestizischen Kleinbauern und städtischen Arbeiterinnen und Arbeitern beim Marsch der Minenarbeiter 1977, die vielschichtige Solidarität mit den Müttern bei ihrer Suche nach Opfern von Verschwindenlassen oder innerhalb der indigenen Akteure im Prozess der Friedensverhandlungen.
Die langen Untersuchungszeiträume und die Analyse der Wechselwirkungen zwischen sozialen Bewegungen und dem gesamtgesellschaftlichen Kontext erlauben Eva Kalny wichtige Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Grenzen sozialer Bewegungen, strukturelle Veränderungen zu gestalten. Gleichzeitig sind diese Wechselwirkungen und politischen Gelegenheitsmomente je nach Thema sehr unterschiedlich. Das Friedensabkommen schreibt indigene Rechte fest und ist eine wichtige Entwicklung hin zu politischer Teilhabe und Überwindung von Rassismus. Parallel verfestigte sich aber mit Beginn der politischen Demokratisierung das ökonomische Ausschlusssystem und nach Abschluss des Friedensvertrages stieg die soziale Ungleichheit an. Dies erklärt, so Kalny, warum Ressourcenkonflikte aktuell ein wichtiges Terrain sozialer Kämpfe darstellen. Konfliktverschärfend ist hierbei, dass neben nationalen auch ausländische Akteure Eigeninteressen verfolgen. In den meisten Fällen agieren die nationalen wirtschaftlichen Eliten in Allianz mit ausländischen Unternehmen.
Im zweiten Teil ihres Buches diskutiert Kalny drei unterschiedliche Theorieansätzen zu sozialen Bewegungen am Fallbeispiel Guatemala. Die Autorin analysiert die empirischen Daten mit Hilfe des Ressourcenmobilisierungsansatzes, der Theorie von politischen Gelegenheitsstrukturen und dem Framingansatz. Innerhalb der sozialen Bewegungen sind Vertrauen, im Fall der Unterstützung durch kirchliche Akteure der Glaube oder im Fall indigener Bewegungen die Sprache wichtige Ressourcen für die Mobilisierung sozialer Bewegungen.
Ökonomische Ressourcen sind eine wesentliche und widersprüchliche Voraussetzung für kollektives widerständiges Handeln. Kalny beschreibt, wie das inzwischen oft illegal erwirtschaftete Geld bei gleichzeitig extrem ungleicher Wohlstandsverteilung die Möglichkeiten der Instrumentalisierung sozialer Akteure beinhaltet. Beispielhaft steht hierfür die zeitweise Besetzung des Rathauses von Sayaxché, Petén, in Guatemala durch tausende protestierende Maya-Q’epch’ies wegen der angeblichen Beteiligung des Bürgermeisters an einer Kindesentführung. Das angebliche zivilgesellschaftliche Aufbäumen gegen Machtmissbrauch und Korruption entpuppte sich als ein Ablenkungsmanöver der Drogenmafia, um unbehelligt eigenen illegalen Aktivitäten nachgehen zu können.
Die Analyse der politischen Gelegenheitsstrukturen zeigt, dass soziale Bewegungen die geringen Möglichkeiten politischer Teilhabe aktiv nutzen und soziale Akteure eine große Fähigkeit besitzen, immer wieder neue Aktionsformen und identitätsstiftende Framings zu entwickeln.
Derzeit orientieren sich die sozialen Bewegungen in ihrem Handeln am Staat als Gegenspieler, unter Nutzung rechtsstaatlicher Mechanismen – das bezeugt auch das eingangs erwähnte Beispiel der Proteste im Anschluss an den Vulkanausbruch. Aber, so resümiert Kalny, in Anbetracht der Verflechtungen zwischen wirtschaftlichen und politischen Eliten und der organisierten Kriminalität sind auch neue Dynamiken zu erwarten.
Das Buch ist allen empfohlen, die Interesse an der gesellschaftlichen Entwicklung in Guatemala haben oder nach Erklärungen für aktuelle Konflikte und Proteste suchen. Für das wissenschaftliche Publikum bietet das Buch wichtige Ansätze zum Verständnis sozialer Bewegungen über Guatemala hinaus und konzeptionelle Vorschläge für die Analyse auch in anderen Ländern Lateinamerikas.