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Rückblicke mit Ecken und Kanten

Christian Helms Dissertation über die Nicaragua-Solidaritätsbewegung der 80er-Jahre

Revolutionstouristen, Aufbauhelfer, Brigadisten, so hießen Leute aus der BRD, die in den 80ern zu Tausenden die sandinistische Revolution in Nicaragua unterstützen wollten. Der Historiker Christian Helm fügt in seiner 2018 erschienenen Dissertation den Titel „Botschafter der Revolution“ dazu. Sein Interesse am Thema „war ein glücklicher Zufall”: „am Ende meines Studiums (stieß ich) bei einer Literaturrecherche auf einen Reisebericht bundesdeutscher Aktivisten, der mich sofort neugierig gemacht hat“ (S. V). Diese Neugierde hat ihn dazu gebracht, sich durch mehrere Archive in der BRD, den Niederlanden und in Nicaragua zu wühlen sowie mit einigen Aktivistinnen aus den 80ern intensive Gespräche zu führen. In dieser Systematik hatte das bisher niemand getan.

Nina Hagen

Nach fünfjähriger bezahlter Forschung liegt jetzt ein 400 Seiten starkes Buch vor, das aufgrund seines Preises von knapp 60 Euro fast ausschließlich den Weg in wissenschaftliche Bibliotheken finden wird. Helms Forschungsaufenthalte wurden vom DAAD oder der Universität Hannover „großzügig“ gefördert.  Ein – von ihm unreflektierter – Kontrast zu den Objekten seiner Forschung: „Für ihre Reisekosten mussten die Brigadisten selbst aufkommen…“ (S. 303).

Am Ende der üblichen Danksagungen (S. V f.) steht: „Die großzügige Förderung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften hat die Publikation in dieser Form möglich gemacht.“ Diese Formulierung wird von der Stiftung ausdrücklich eingefordert, wenn sie mit durchschnittlich 2000 Euro den Druck der Werke von Nachwuchswissenschaftlern fördert. Das Gesamtbudget der Stiftung im Jahr 2017 betrug 360 000 Euro. Auf Grundlage der Ausbeutung von knapp 50 000 Menschen weltweit liegt der Umsatz des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim bei 18 Mrd. Euro, das “Betriebsergebnis” bei 3,5 Mrd.

Zwischen 1967 und 1971 lieferte Boehringer Ingelheim über das Chemieunternehmen Dow Chemical die sog. T-Säure an die US-Armee, die nach dem „Unfall“ von Seveso bei Mailand 1976 als Dioxin bekannt wurde. Die freie Welt wurde in Vietnam u.a. durch das Versprühen von 91 Millionen Kilogramm von als „Agent Orange“ bekannten, mit Dioxin vermischten Herbiziden verteidigt. Unter den gesundheitlichen Folgen leiden Hunderttausende von Vietnames*innen bis in die Gegenwart. Noch heute kommen infolge des damaligen Agent-Orange-Einsatzes missgebildete Babys zur Welt.1

Der Kreis schließt sich, als Somoza 1972 nach einem Erdbeben, das Nicaraguas Hauptstadt Managua komplett zerstört, aus dem Ausland gespendete Blutkonserven an Krankenhäuser in den USA verkauft, wo während des Vietnamkriegs Nachschub gebraucht wird.

Helms Buch beschäftigt sich mit Menschen, die den Versuch gemacht haben, genau solche Verhältnisse unmöglich zu machen.

Helm vertritt die These, der Erfolg der Kampagne für die Arbeitsbrigaden nach Nicaragua 1983 korrespondiere mit der abflauenden Friedensbewegung (gegen die Installierung von Mittelstreckenraketen in der BRD). Außerdem behauptet er, der „Terror“ der RAF sei ein Hindernis für eine Identifikation mit dem bewaffneten Kampf in Zentralamerika gewesen (S. 130). Das würde ich bezweifeln: Die im November 1980 gestartete Kampagne der TAZ „Waffen für El Salvador“ zielte mit einigem Erfolg vor allem auf eine innenpolitische Auseinandersetzung mit dem BRD-Staat und dem moralisierenden Pazifismus der liberalen Öffentlichkeit und eines Teils der Linken.

Die Rolle von SPD und Sozialistischer Internationale (SI) bei der Eindämmung der bescheidenen Ansätze sozialer Veränderung in Nicaragua nach 1979 erwähnt Helm nicht. Der NATO-Staat BRD hatte sich 1979 bis zum 17. Juli, als die FSLN-Einheiten siegreich in Managua einzogen, „neutral“ verhalten. In den ersten Jahren nach dem Umbruch knüpfte die sozialdemokratisch geführte BRD-Regierung ihre Entwicklungshilfeleistungen an das Wohlverhalten der Revolutionsregierung. Ihre Abgesandten wie Hans-Jürgen Wischnewski feilten jahrelang daran, Nicaragua wieder ins Boot der bürgerlichen Demokratie und des unverfälschten Kapitalismus zurückzuholen. Jeder Versuch, eine (sei es noch so bescheidene) Alternative zu den normalen Ausbeutungsstrukturen in Lateinamerika zu schaffen, wurde an der Seite der offen oder verdeckt militärisch agierenden USA mit sozialdemokratischer Solidarität verschüttet. Als 1986 die Contra eine Arbeitsbrigade mit Deutschen entführte, sorgte Wischnewski für deren Freilassung und erwirkte kurz darauf bei der nicaraguanischen Regierung im Namen der SPD den Abzug aller Brigaden aus den Kriegsgebieten. Helm macht „diplomatischen Druck aus der Bundesrepublik“ dafür verantwortlich (S. 308), wo 1986 die CDU regierte.

Die (Nicaragua-)Solidaritätsbewegung (SB) der 80er war auch ein Ausdruck der Abwendung von den Verhältnissen in der BRD, wo vielen jungen Linken die Massen als integriert und korrumpiert galten. Die eigenen (aufgegebenen) Revolutionshoffnungen wurden einem Ministaat in 10 000 km Entfernung aufgebürdet. Durch den Mythos des bewaffneten Kampfs, der als Gipfel der Radikalität galt, konnte in Nicaragua ein linkssozialdemokratisches Programm als „soziale Revolution“ gelten. Helm behauptet einen „Politisierungsschub“ für Ende der 70er in der BRD als günstige Bedingung für die „Mobilisierung von Solidarität“ für die Sandinisten (S. 33 f). Vom Tunix-Kongress im Januar 1978 führte die politische Ratlosigkeit der „undogmatischen Linken“ direkt in die Projekthuberei der Alternativbewegung. Insofern war der Vorwurf berechtigt, mit der späteren Brigadenkampagne werde eine Ersatzbetätigung in Nicaragua gesucht (S. 326), statt im „Herzen der Bestie“ zu kämpfen. Nur kam diese Kritik vor allem aus Gruppen, deren Vorstellung vom Kampf um die Revolution in Westeuropa sich auf bewaffnete Aktionen als Fanale für die Massen beschränkte.

Der Aufbau des neuen Staates in Nicaragua wurde von der SB ohne offene Kritik mitgetragen. Obwohl sich die Solidaritätsbewegten (im Vergleich zu Cuba) relativ unkontrolliert im Land bewegen konnten, ignorierten sie jede FSLN-unabhängige oder gegen diese gerichtete Mobilisierung. Es gab lange den stillschweigenden Konsens, über unangenehme Themen öffentlich nicht zu reden, auch wenn zum Beispiel die Widerstände gegen die Agrarreform unübersehbar waren, und nicht, wie Helm behauptet, nicht „registriert“ worden waren. (S. 222) Der Übergang von einem von außen angeheizten und organisierten gegenrevolutionären Krieg zu einer Art „Bürgerkrieg“ in einigen ländlichen Gebieten wurde verdrängt.

Die internationale SB sollte idealtypisch befehlsempfangende Unterorganisation der FSLN im jeweiligen Land sein. Das funktionierte in Italien und Frankreich mit ihren starken KPs recht gut. In der BRD war die „apparatunabhängige“ Solidarität stark. Versuche der FSLN, mit ihrem umfassenden Kontrollanspruch alle Gruppen einem zentralistisch-hierarchischem Modell zu unterwerfen, schlugen fehl. Differenzen „in Sachen Organisationskultur“ (S. 166 f.) blieben unüberbrückbar. Die unabhängige Bewegung in der BRD wollte eine eigenständige politische Kraft bleiben. Aber sie unterstützte die FSLN dadurch weitgehend, indem sie oft geschwiegen oder nur in Hinterzimmergesprächen Kritik geübt hat. Das galt auch, als Mitte der 80er Gelder aus der internationalen Kampagne „Nicaragua muss überleben“ für die Renovierung der nicaraguanischen Botschaft benutzt wurden. Insofern war die von Helm vorsichtig angedeutete „Steuerung der bundesdeutschen Solidarität aus Managua“ (S. 360) gar nicht nötig.

Die Arbeitsbrigaden konnten diese Muster etwas aufbrechen. Vor allem als Propagandainstrument gegen den Contrakrieg konzipiert, hatten sie einen unvorhergesehenen Nebeneffekt. Die Brigadist*innen sollten in der BRD von den Gräueltaten der Contra und den daraus resultierenden schwierigen Lebensbedingungen auf dem Land berichten. Sie wurden aber vor allem Zeugen der Realität: Entscheidungsstrukturen, Hierarchien, Verhalten der überwiegend jungen städtischen Kader der FSLN etc. Hier wurde die Vorstellung vom „neuen Menschen“ bei vielen Solidaritätsbewegten gründlich verrückt.

Die Wahlniederlage der FSLN im Februar 1990 war ein Schock für die SB. Der von der SPD mitorganisierte FSLN-Wahlkampf unter der Parole todo será mejor (alles wird besser) hatte zwar intern Kritik ausgelöst und die Konzentration auf FSLN-Chef Daniel Ortega (der als Machofigur  el gallo  in jedes nicaraguanische Dorf einritt und dort die Miss Sandinista wählen ließ) führte zu Protesten. Aber auch die „unabhängige“ Strömung der SB hatte den Wahlkampf der Regierungspartei FSLN unterstützt, da nur dadurch „die Weiterentwicklung der Revolution“ unterstützt werden könne.

In der Zeit zwischen Wahlen und Regierungsübernahme der Rechtsopposition verteilte die FSLN  Grundstücke, Häuser, Autos an verdiente Parteimitglieder, damit den „Somozisten“ nicht zu viel in die Hände fallen konnte, so die spätere Legitimation. Das Volk ging dabei leer aus.

Helm hat vor allem aus den Archiven der Bewegung einige Schätze zusammengetragen wie zum Beispiel den Aufsatz von Peter Merten zur „Arbeiterbewegung in Nicaragua“ oder den kritischen Rückblick eines FSLN-Kaders von 2004 (S. 226). Die Archive der FSLN blieben ihm verschlossen (S. 21). Helm verwechselt die Propagandafähigkeiten der FSLN häufig mit der Wirklichkeit. Seine Kapitelüberschriften suggerieren ein erfolgreiches gezieltes Vorgehen der FSLN. Nach der Ermordung des La Prensa-Herausgebers Chamorro Anfang 1978 habe sie sich als „einzig wahre Oppositionskraft Nicaraguas inszeniert“. (S. 59) Zu diesem Zeitpunkt war sie schlicht die Opposition. Helm schreibt der Guerilla manipulative Fähigkeiten zu, die sie erst viel später entwickelte. Die Endoffensive der Sandinisten ab Ende Mai 1979 war laut Helm „von langer Hand vorbereitet“. (S. 79) Er übersieht den entscheidenden Punkt: Die Bevölkerung war selbständig in die Offensive gegangen und die FSLN musste ihre auf längere Sicht angelegten Pläne ändern, um weitere Massaker der Nationalgarde zu verhindern.

Die politische Flexibilität der FSLN stellt Helm treffend dar. Sie präsentierte sich je nach Kontext als „demokratisch-volksnah“ oder „unabhängig sozialistisch“ (S. 86). Ab Mitte der 80er  sollte sich herausstellen, dass Daniel Ortega diese Flexibilität persönlich und politisch am glaubwürdigsten beziehungsweise am skrupellosesten präsentieren konnte. Sie drückte sich bereits in den Unterschieden zwischen dem Kampfprogramm von 1978 (Schwerpunkt „soziale Gerechtigkeit“) und dem historischen Programm der auf Cuba geschulten Kader von 1969 aus (Schwerpunkt: „soziale Revolution“) (S. 144). Die deutlichere realpolitische Orientierung der Sandinisten war nicht nur taktische Spielerei, sondern auch Ausdruck inhaltlicher Verschiebungen.

Viele Fragen konnte Helm auch durch noch so intensive Recherche und Gespräche gar nicht stellen, da er 30 Jahre später das Lebensgefühl der 1980er in der SB („Nichts ist unmöglich“ – im revolutionären Nicaragua) emotional und politisch nicht nachvollziehen kann.

Ende Oktober 2018 lud das Informationsbüro Nicaragua, zentrale Instanz der 80er-Bewegung, zur Feier seines 40-jährigen Bestehens ein. Eine Compañera aus Nicaragua durfte das alte Märchen von der erfolgreichen ersten Phase der Revolution (1979-1990) vortragen. Ein früherer Kader der Auslandsabteilung der Partei erzählte, was er von der SB gelernt habe, und führte als Beispiel an, dass er bei seinen Besuchen immer im Sitzen zu pinkeln hatte. Auch die eigene Geschichte, die des Informationsbüros, wurde nur in Anekdoten gestreift. Eine ernsthafte Aufarbeitung gibt es bis heute nicht. Die kann Helms Buch naturgemäß auch nicht leisten.

Inzwischen fordert das Informationsbüro Nicaragua das deutsche Auswärtige Amt zu “entschlossenem Handeln gegen die Verschlechterung der menschenrechtlichen Bedingungen in Nicaragua” auf. Die Verzweiflung über die vielen Toten und Eingekerkerten im heutigen Nicaragua der Ortega-Murillo-FSLN ist nachvollziehbar. Es gibt auch wenig, was wir tun können: Kontakt halten mit alten und neuen Basisaktivist*innen, ins Land reisen, die eine oder andere Aktion hier vor Ort unternehmen. Warum aber vom Auswärtigen Amt der BRD „entschlossenes Handeln“ fordern? Eine Instanz, die überall auf der Welt auf die „menschenrechtliche Lage“ scheißt und an vielen Orten an ihrer Verschlechterung aktiv beteiligt ist. Außerdem fordert das Auswärtige Amt schon lange, dass Ortega weg muss.

Wer etwas über die aktuelle Menschenrechtspolitik der Bundesregierung in Lateinamerika jenseits von Sonntagsreden wissen möchte, schaue ins Bundeswirtschaftsministerium. Dieses wirbt nach dem Amtsantritt von Bolsonaro in Brasilien damit, dessen Regierung werde wohl „erleichterte Investitions- und Handelsbedingungen für ausländische Unternehmen“ schaffen. Man solle daher „jetzt auf Brasilien setzen“, heißt es in einem Schreiben des Ministeriums, das für eine Geschäftsanbahnungsreise im Bereich der „zivilen Sicherheit“ einlädt.

  • 1. Diese Geschichte kann in ihrem ganzen Schrecken („Wir sind nicht für die Entscheidungen der amerikanischen Armee verantwortlich“ – Boehringer-Stellungnahme nach dem Ende des Vietnamkriegs) nachgelesen werden: Der Tod kommt aus Ingelheim, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487619.html