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Mario Conde wird 60

Leonardo Paduras Roman „Die Durchlässigkeit der Zeit“
Klaus Jetz

Der neunte Roman aus Leonardo Paduras Mario-Conde-Serie spielt 2014, kurz vor dem 60. Geburtstag des Ermittlers. 35 Jahre war Conde alt, als er am Ende des ersten Krimis des Havanna-Quartetts, in „Handel der Gefühle“, frustriert den Dienst im Polizeipräsidium von Cubas Hauptstadt quittierte. Der unkonventionelle Polizist kam nicht länger umhin, in seinem Arbeitgeber ein repressives staatliches Organ zu sehen, dem er den Rücken kehrte. Conde bleibt auch in Paduras neuem Roman ein unverbesserlicher Sturkopf, der sich über die Jahrzehnte hinweg kaum verändert hat, nostalgisch die Vergangenheit verklärt und hofft, dass sein Leben weiter in den gewohnten Bahnen verläuft. Doch die Welt um ihn herum tickt anders, wandelt sich, und das nicht immer zum Besseren.

Erinnern wir uns: Nach seinem ersten Fall war Conde in ein tiefes Loch gefallen. Er hat schlimme Zeiten durchgemacht und schlägt sich mit Aufträgen als Privatdetektiv und dem Handel mit antiquarischen Büchern durchs Leben. Im neuen Roman piesackt ihn das Älterwerden. Kurz vor dem 60. Geburtstag lässt er sein bisheriges Leben Revue passieren. Was hat er erreicht? Wo will er hin? Fragen, auf die er keine Antworten hat. Er scheut die Geburtstagsfeier, die seine Freunde für ihn ausrichten wollen, denn ihn beunruhigt der Gedanke, dass ihm weitaus weniger vom Leben bleibt als das, was er bisher erlebt hat.

Paduras neuer Roman hat vier Erzählstränge. Zum einen ist Mario Conde in der Jetztzeit auf der Suche nach einer gestohlenen, aus Holz geschnitzten schwarzen Madonna. Ein ehemaliger Schulkamerad, Bobby, bittet Conde, sie ihm zurückzubringen. Das Erbstück habe großen symbolischen Wert für ihn, sein spanischer Großvater habe sie auf der Flucht aus dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land über Frankreich bis nach Havanna gebracht. Schnell wird Conde bei Recherchen klar, dass es sich bei der sitzenden Madonna mit Kind um ein wertvolles Exemplar aus der Levante oder dem Europa der Kreuzzüge handeln muss. Für Sammler*innen und Galerist*innen aus Cuba und dem Ausland hat das mittelalterliche Kunstwerk großen materiellen Wert. Wie schon im Havanna-Quartett taucht Conde erneut ein in die Welt des illegalen Handels mit Antiquitäten. Er gerät in die Fänge skrupelloser Krimineller, die vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken. Und so bekommt er es bei seinen Recherchen bald wieder mit seinen ehemaligen Kolleg*innen aus dem Morddezernat zu tun, zu denen er den Kontakt nie hatte abbrechen lassen.

Die drei anderen Erzählstränge illustrieren die „Durchlässigkeit der Zeit“, denn sie reichen Jahrhunderte zurück, bis in die Zeit der Kreuzzüge, ins mittelalterliche Frankreich, ins 15. Jahrhundert des Katalanischen und ins 20. Jahrhundert des Spanischen Bürgerkrieges. Diese historischen Erzählstränge sind verbunden durch die Erzählungen der Abenteuer, Dramen und Peripetien im Leben der Personen, die mit der schwarzen Madonna in den unterschiedlichsten Zeiten und Orten in Berührung kamen.

Neben seinen Recherchen und seinen Problemen mit dem Älterwerden fragt sich Conde auch, wo er hingehört. Immer mehr Bekannte verlassen Cuba. Er ist fest in seiner Heimatstadt verwurzelt, hat einen nostalgischen Blick auf die sich rasant verändernde Metropole, in der er gegen die Unbilden des Lebens, gegen ideologische Verblendung und die alltägliche Mangelwirtschaft ankämpft. In der Zweiklassengesellschaft der Habenichtse und der Dollar-Besitzenden richtet er sich mehr schlecht als recht ein. Auf der einen Seite Cubaner*innen im Ausland, die zu Besuch kommen oder Landsleute, die Beziehungen zu Verwandten in Italien, Spanien, Miami haben. Auf der anderen Seite Cubaner*innen, die zu Hause geblieben sind und nur hin und wieder Pesos convertibles oder Dollars erhalten, wie Conde für seine Dienste als Detektiv oder Antiquar.

Er verkehrt seit Jahrzehnten mit den gleichen Freund*innen: Carlos, ein kriegsversehrter, im Rollstuhl fett gewordener Angola-Veteran, dessen mittlerweile neunzigjährige Mutter, eine begnadete Köchin, die den Freunden mit Condes Unterstützung eine solide Grundlage für die legendären Trinkgelage bereitet, Tamara, seine lebenslange Lebensgefährtin, sein ewiger Saufkumpan Hasenzahn, der aus dem Kreis ausbrechen und nach Florida auswandern will.

Ein weiteres Thema ist die gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten. Condes ehemaliger Schulkamerad Bobby ist schwul. Er wird von seinem jungen Freund Raydel aus dem Oriente ausgenommen. Der ist es auch, der die schwarze Madonna mitgehen ließ, während Bobby geschäftlich in Miami zu tun hatte. Homosexualität thematisierte Padura schon in den 1990er-Jahren im Havanna-Quartett. Damals waren Schwule noch Opfer. Sie erlebten massive rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung, in den Jahrzehnten zuvor wurden sie verfolgt und in Arbeitslager gesteckt. Nun lässt Padura einen Schwulen zum Täter werden. Offensichtlich haben die Zeiten sich auch in Cuba geändert, Schwule sind längst nicht mehr in dem Maße diskriminiert und marginalisiert wie in den bleiernen 70er-Jahren.

Marginalisiert aber sind die Zuwander*innen aus dem Oriente. Die nach Havanna strömenden Menschen hausen in namenlosen Elendsvierteln, die wie Pilze aus dem Boden sprießen. Eigentlich kennt Conde seine Stadt wie seine Westentasche. Als er aber bei seinen Recherchen in eines der Elendsviertel gelangt, ist er schockiert über die prekären Lebensverhältnisse der Bewohner*innen.

„Die Durchlässigkeit der Zeit“ ist eine Mischung aus verschiedenen Gattungen, aus Kriminalroman, historischem Roman, Sozialroman. Der Antiheld Mario Conde bietet Padura die Gelegenheit, so etwas wie eine Chronik des zeitgenössischen Cuba zu schaffen.

Weitere Rezensionen zur Reihe in ila 299 und ila 318.