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Seenotrettung ist kein Verbrechen

Lebensretter auf der Anklagebank

Laut einem Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (UNHCR) vom 30. Januar 2019 ertranken 2018 im Schnitt jeden Tag sechs Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Insgesamt starben mindestens 2275 Menschen. Hinter jeder Zahl steht ein menschliches Schicksal. Die Dunkelziffer liegt nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen aber weit höher, weil niemand mehr vor Ort ist, um zu sehen, wie viele Menschen wirklich untergehen. Seit September 2018, dem Amtsantritt von Matteo Salvini von der rechtsextremen Lega als italienischer Innenminister, verweigert Italien mit seiner tödlichen Abschreckungspolitik privaten Seenotrettungsschiffen die Einfahrt in seine Häfen, Rettungsschiffe werden beschlagnahmt und den Rettern wird der Prozess gemacht. „Menschen aus Seenot zu retten ist keine Frage für Debatten oder die Politik, es ist eine Verpflichtung seit Menschengedenken“, sagt dagegen UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi.

Sigrid Becker-Wirth

Seitdem die EU-Staaten ihrer Pflicht zur Seenotrettung im Mittelmeer nicht mehr nachkamen, versuchten zivile Organisationen diese Lücke zu füllen. Als Reaktion auf die tagtäglichen Meldungen über die Toten im Mittelmeer gründeten im Juli 2015 junge Menschen den Verein „Jugend Rettet“. Sie kauften einen Fischkutter, den sie zum Rettungsschiff „Iuventa“ umbauten und starteten 2016 ihre erste Mission. 16 Teams mit insgesamt mehr als 200 Besatzungsmitgliedern aus verschiedenen EU-Ländern arbeiteten ehrenamtlich zwischen Juni 2016 und August 2017 auf der „Iuventa“. Die Crew rettete unter der Koordination der italienischen Seenotleitstelle und Einhaltung des internationalen Völker- und Seerechts mindestens 14  000 Menschen vor dem Ertrinken. Am 2. August 2017 wurde die „Iuventa“ in Lampedusa als Präventivmaßnahme, um „mögliche Straftaten“ zu verhindern, von den italienischen Behörden beschlagnahmt und im Hafen von Trapani auf Sizilien festgesetzt. Den Retter*innen wird Beihilfe zur illegalen Einwanderung, Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen und illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Gegen zehn Besatzungsmitglieder laufen strafrechtliche Ermittlungen. Nach dem italienischen Strafrecht drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis und 15 000 Euro Strafe pro illegal eingeschleustem Menschen (15 000 x 14 000!). Die Crewmitglieder weisen die Vorwürfe zurück und verurteilen die Kriminalisierung ziviler Rettungseinsätze. Angesichts einiger Präzedenzfälle aus den vergangenen Jahren rechnen die Angeklagten nicht mit einer Verurteilung. „Es gab vergleichbare Fälle, wie beispielsweise die Cap Anamur, die mit einem Freispruch endeten. Aber es gab viele Fälle, in denen tunesischen Fischern bis hin zu ,ganz normalen‘ Seglern der Prozess gemacht wurde, und einige saßen dafür im Gefängnis oder verloren ihre Existenzgrundlage. Was diesen Fall einzigartig macht, ist, dass noch nie solch ein ermittlungstechnischer Aufwand betrieben wurde und noch nie war der politische Druck so hoch wie heute... Dies ist ein politischer Prozess! Wir wissen nicht, was sie konstruieren werden. Wir wissen aber, dass es ein sehr großes Interesse daran gibt, uns zu verurteilen, und wenn dies nicht möglich ist, dann zumindest uns durch einen jahrelangen Prozess zu schicken, um die Geschichte so weit wie möglich auszunutzen“, meint Einsatzleiter Sascha Girke.

Das Verfahren soll abschreckend wirken, und die Retter*innen wie auch das beschlagnahmte Schiff werden lahmgelegt. Es ist davon auszugehen, dass das Verfahren drei bis vier Jahre dauern wird und die Prozesskosten bis zu 500 000 Euro betragen werden. Für diesen juristischen Kampf brauchen die Angeklagten dringend finanzielle Unterstützung!

Nicht nur die „Iuventa“ ist betroffen. Zur Zeit findet quasi keine Seenotrettung mehr statt. Rettungsschiffe wurden beschlagnahmt oder festgesetzt oder beendeten ihren Einsatz wegen haltloser Beschuldigungen. Die „Lifeline“, das Seenotrettungsschiff des Dresdner Vereins Mission Lifeline, hatte im Juni 2018 234 Flüchtlinge aufgenommen und durfte tagelang an keinem europäischen Hafen anlegen. Die Bilder mit den verzweifelten Menschen auf dem Schiff gingen durch die Medien. Erst als sich mehrere Länder zur Aufnahme der Flüchtlinge bereit erklärten, legte sie auf Malta an. Seitdem ist das Schiff dort beschlagnahmt und gegen den Kapitän Claus-Peter Reisch läuft ein Prozess wegen angeblich unzureichender Schiffszertifikate.

Auch die „Open Arms“, ein von der spanischen NRO „Proactiva Open Arms“ erworbener Schlepper, der bei Rettungsaktionen in internationalen Gewässern mehrmals von libyschen Milizen mit Schusswaffen bedroht wurde, ist nun festgesetzt. Anfang Dezember 2018 beendeten SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen den Einsatz der „Aquarius“. Das Schiff konnte aufgrund falscher Anschuldigungen zwei Monate lang nicht auslaufen. Im Februar dieses Jahres traf es das Rettungsschiff „Sea Watch 3“. Es hatte am 19. Januar 2019 Flüchtlinge vor der libyschen Küste aufgenommen und kreuzte wochenlang im Mittelmeer, bis die Verteilung der Geflüchteten geregelt war. Das Schiff wurde nach Catania beordert und am 1. Februar dort wegen angeblicher technischer Mängel festgesetzt. Italiens Innenminister Salvini forderte Ermittlungen gegen die „Sea Watch“.

Die „Mare Jonio“, ein unter italienischer Flagge fahrendes Schiff der italienischen Initiative „Mediterranea“, ist ein Beobachtungsschiff, das die dramatische Lage der Geflüchteten auf See dokumentieren, Zeugenberichte sammeln und aufzeigen soll, „wie Frauen, Männer und Kinder enormen Gefahren ausgesetzt sind“, weil es keine Rettungsschiffe mehr gebe, so die Organisatoren. Es soll Menschen nicht mehr direkt aus Seenot retten, sondern deren Boote sichern, ist aber auch für Notfälle ausgerüstet. Am 18. März 2019 war so ein Notfall: Das Schiff hatte 50 afrikanische Migrant*innen vor der libyschen Küste von einem sinkenden Schlauchboot geborgen und legte einen Tag später in Lampedusa an, obwohl die Regierung in Rom dem Schiff die Einfahrt in einen italienischen Hafen untersagt hatte. Der Bürgermeister von Lampedusa erklärte, der Hafen seiner Stadt sei für das Schiff offen. Innenminister Matteo Salvini gab vor seinem technischen Beratungsstab laut der Zeitung „La Repubblica“ die Parole aus: „Verhaftet sie!“. Die Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Agrigent hat wegen Begünstigung illegaler Einreise gegen den Kapitän und die Besatzung des Schiffes ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Diese menschenverachtende Politik bewirkte im Vergleich zum Vorjahr in der EU einen Rückgang der Asylbewerber*innen um elf Prozent. In Italien sind in den ersten zwei Monaten dieses Jahres nur noch 262 Geflüchtete eingetroffen. Im Vergleichszeitraum 2018 waren es noch 5427. Ein Rückgang um 95 Prozent. Weniger Ankünfte von Geflüchteten bedeuten gleichzeitig mehr Tote im Mittelmeer und mehr Leid in libyschen Lagern. Am 26. März beendete die EU die 2015 begonnene Flüchtlingsrettung im Rahmen der Mittelmeermission „Sophia“, bei der knapp 50 000 Menschen aus Seenot gerettet wurden. Die Mitgliedstaaten konnten sich nicht auf ein neues System zur Verteilung der Geretteten einigen.

Nur ein einziges Schiff fährt zur Zeit noch im Mittelmeer Rettungseinsätze, die „Alan Kurdi“. Das Bild des im September 2015 ertrunkenen syrischen Jungen ging um die Welt. Die Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye gab ihrem Schiff „Professor Albrecht Penck“ im Februar 2019 einen neuen Namen. „Mit dem Namen ‚Alan Kurdi‘ wollen wir eindringlich daran erinnern, worum es wirklich geht und allein gehen sollte (...): Es geht um Menschen, die täglich im Mittelmeer ertrinken und um den unendlich andauernden Schmerz der Angehörigen“, betonte der Sprecher der Regensburger Organisation „Sea-Eye“ bei der Schiffstaufe durch den Vater des ertrunkenen Jungen.

Die gewollte Abwesenheit der Retter*innen, auch europäische Handelsschiffe meiden inzwischen das Seegebiet, wird in den Statistiken für geringere Todeszahlen sorgen, denn wie viele Menschen wirklich auf dem Mittelmeer sterben, ist umso schwerer zu ermitteln, je weniger Schiffe vor Ort sind. Ein großer Teil der Daten wurde von verschiedenen NRO geliefert. Sowohl humanitäre Helfer*innen an Land wie auch die Seenotretter*innen auf Schiffen, die oftmals tote Körper in Schiffswracks bergen oder Zeug*innen werden, wie Menschen ertrinken, trugen zur Datenerfassung bei. Der Fotojournalist Erik Marquardt bringt es auf den Punkt: „Es ist ein Riesenskandal: Menschen sollen sterben und niemand soll es mitbekommen.