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Amazônia, Kautschuk und der Zeitgeist

Produktionsverhältnisse und Sozialverträglichkeit im Wandel der Zeit

Die Geschichte des Kautschuks im brasilianischen Amazonasgebiet prägt die Region bis heute in ähnlicher Weise wie die Geschichte des Zuckers die Karibik. Schon in der monarchistischen Epoche nach der Unabhängigkeit Brasiliens im 19. Jahrhundert erlebte die Produktion für den Welthandel ein erstes Hoch. Der bereits von vielen indigenen Gruppen kultivierte Kautschukbaum, genutzt aufgrund seines zu elastischem Material formbaren Harzes, wurde ein inhärenter Bestandteil der postkolonialen Plantagenwirtschaft. Kautschuk diente und dient zur Produktion von Regenmänteln, Schuhen, als Isolationsmaterial im Eisenbahn- sowie Maschinenbau und schließlich insbesondere zur Herstellung von Fahrrad- und Autoreifen.

Simon Hirzel

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Amazonasregion durch die Kautschukwirtschaft stark gewandelt. Sinnbild für den sogenannten Kautschukboom und die mit ihm verbundene Dekadenz der Kautschukbarone dieser Zeit ist die Entwicklung der Stadt Manaus von einer Siedlung zu einer Metropole am Amazonas, die insbesondere am 1896 eingeweihten, opulenten Opernhaus Teatro Amazonas festzumachen ist. Zum Leidwesen der Barone war es den Engländern Henry Wickham und Joseph Hoocker 20 Jahre zuvor gelungen, zehntausende Samen des Kautschukbaums illegal von Brasilien nach England auszuführen und 2000 Bäume zu züchten, die dann in englischen Kolonien in Südostasien angepflanzt wurden. Durch den Verlust des Monopols stürzte die brasilianische Kautschukwirtschaft Anfang des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise, in deren Folge die Türen des Teatro Amazonas bereits 1907 wieder geschlossen wurden.

Erst Mitte des 20. Jahrhunderts erholte sich die Kautschukwirtschaft ansatzweise. Die Erfindung des Automobils und seine darauf folgende weltweite Verbreitung, beginnend ab den 1920er-Jahren in den USA, sorgten für einen steigenden Bedarf zur Produktion von Autoreifen. Obwohl heutzutage nur noch etwa ein Prozent des weltweit produzierten Kautschuks aus Brasilien stammt, ist das Land seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein beliebter Standort für Produktionsstätten sowohl der weltweit größten Automobilhersteller (Daimler Benz, Fiat, Ford, General Motors, Volkswagen) als auch einiger der weltweit bedeutendsten Reifenhersteller (Continental, Michelin, Pirelli).

Die Geschichte des Kautschuks im Amazonasgebiet sollte allerdings nicht erzählt werden, ohne einen Blick auf die Schattenseiten zu werfen. Die Gewinnmarge der Barone und später auch internationaler Firmen wurde durch die Ausbeutung indigener Arbeitskräfte nach oben getrieben. Um die Amazonasregion weiter zu erschließen, was die gewaltsame Aneignung der Territorien indigener Gruppen einschloss, erließ der brasilianische Kaiser Pedro I. Gesetze, die es sogenannten bandeiras, von den Baronen bezahlte Gruppen von sogenannten Jägern, ermöglichten, Indigene gefangenzunehmen, für bis zu 15 Jahre zu versklaven und deren Gebiet zu besetzen.

Obwohl diese Praxis im 19. Jahrhundert nach Ausrufung der ersten Republik verboten wurde, wurde sie in ähnlicher Weise noch bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt, mit verheerenden Folgen. Der US-amerikanische Ingenieur Walter Hardenburg reiste 1907 von den kolumbianischen Anden aus in das Amazonasbecken. Er wurde wegen Betretens des Geländes der britischen Kautschukfirma Peruvian Amazon Company von den privaten Sicherheitskräften des Unternehmens verhaftet. In den Tagen seiner Gefangenschaft konnte er den Umgang der Angestellten der Firma mit indigenen Sklav*innen beobachten. Es handelte sich um Indigene der Uitoto, die nach einem Tag Arbeit auf der Suche nach Kautschuk in das Lager zurückkehrten. Eine Sammelquote sollte erfüllt werden. Hardenburg konnte beobachten, dass diejenigen, die ihre Quote erfüllt hatten, vor Freude und Erleichterung tanzten, während diejenigen, die ihre Quote nicht erfüllten, vor Schreck erstarrten. Nach seiner Freilassung erfuhr Hardenburg, dass sie mit bis zu hundert Peitschenhieben bestraft wurden. Ihnen wurden Gliedmaßen abgeschnitten, sie wurden kastriert und nicht medizinisch versorgt. Es mangelte ihnen an Kleidung und Essen und diejenigen, die die Qualen nicht überlebten, wurden den Firmenhunden zum Fraß vorgeworfen. Es war nicht unüblich, dass Aufseher solcher Firmen in dieser Zeit ineffiziente Sklav*innen töteten, teilweise bis zu 150 auf einmal. Dafür wurden so genannte macheteiros engagiert, die spezielle Tötungstechniken anwandten. Beispiele für diese Methoden sind der corte do bananareiro und der corte do maior. Bei Ersterer werden zwei Köpfe auf einmal abgeschlagen, bei Letzterer wird der Körper geteilt, bevor er den Boden berührt. An besonderen Feiertagen wurden Indigene von den Kautschukbaronen und ihren Angestellten dazu angestachelt, den Versuch einer Flucht zu unternehmen, um Jagd auf sie machen zu können.

Der britische Diplomat Roger Casement deckte diese Gräueltaten in dem von ihm im Auftrag des britischen Außendienstes 1913 verfassten Putomayo-Report auf. Dort ist festgehalten, dass allein die Peruvian Amazon Company für den Tod von etwa 30 000 Indigenen verantwortlich ist. Während die indigene Bevölkerung Brasiliens um 1818 noch circa 250 400 Individuen zählte, waren es 150 Jahre später nur noch zwischen 50 000 und 100 000 Individuen. Die Hauptursachen für die Dezimierung waren neben den von Hardenburg geschilderten Gräueltaten Massenvergiftungen durch Ärzte, die vorgaben, sie heilen oder impfen zu wollen, aber auch gezielte und koordinierte Bombenangriffe mit anschließender Bodeninvasion durch angeheuerte Söldner*innen.

Ganz im Sinne des positivistischen Mottos ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) der brasilianischen Nationalflagge begann der US-amerikanische Fahrzeughersteller Ford mit seinem Projekt Fordlândia bereits in den 1920er-Jahren, weitere Gebiete in der Amazonasregion zu erschließen. Fordlândia, südlich von Santarém gelegen, sollte eine vorbildliche, eigene Kautschukplantage samt Fabrikationsstätte für Gummi sein. 1928 wurde mit der Arbeit begonnen, etwa 8000 Menschen, größtenteils Einheimische, wurden dort beschäftigt. Neben den Plantagen- und Fabrikanlagen gab es auf dem 10 000 Quadratkilometer umfassenden Gelände ein Krankenhaus, eine Feuerwehr, eine eigene Polizei, ein Kino, eine Grundschule und eine Kirche.

Henry Ford selbst befürwortete die positivistische Strömung ebenso, wie er rassistische und antisemitische Einstellungen vertrat. Seine Auffassung und die der brasilianischen Regierung insbesondere während der Diktatur von Getúlio Vargas deckten sich größtenteils. Assimilierung im Sinne eines kulturellen embranqueamento (Verweißlichung) der örtlichen Angestellten durch Beten, Arbeiten, Verzicht auf Laster, klaglose Hinnahme der gottgegebenen Herrschaftsordnung und Kirchgang am Sonntag bestimmten den Alltag in Fordlândia. Die strengen Verhaltensregeln sorgten bereits 1930, nur zwei Jahre nach Inbetriebnahme, für einen Aufstand der Bewohner*innen, der durch das brasilianische Militär gewaltsam niedergeschlagen wurde. Das Projekt scheiterte jedoch aufgrund von massivem Schädlingsbefall der Kautschukbäume, gravierender Misswirtschaft und der Erfindung synthetisch hergestellten Gummis Mitte der 1940er-Jahre. Die Regierung entsagte dem Projekt seine Unterstützung, weswegen die Ford Motor Company das Gelände für 250 000 US-Dollar, weniger als einem Prozent der getätigten Investitionen, an Brasilien verkaufte.

Nichtsdestotrotz blieb insbesondere in den 1940er-Jahren die Kautschukproduktion eine wichtige Säule der brasilianischen Wirtschaft. US-Präsident Franklin D. Roosevelt meldete bei Getúlio Vargas großen Bedarf für die US-amerikanische Rüstungsindustrie während des Zweiten Weltkriegs an und versprach ihm im Gegenzug hohe Kredite und Militärtechnologie. 55 000 soldados de borracha (Gummisoldaten), zum größten Teil aus dem verarmten, landwirtschaftlich geprägten und ausgetrockneten brasilianischen Nordosten, leisteten im brasilianischen Amazonas ihren Kriegsdienst und bearbeiteten die etwa 200 Millionen wildwachsenden Kautschukbäume. Nach Ende des Krieges erhielten sie weder Informationen über seinen Ausgang noch ihren Lohn. Die Mehrzahl der Arbeiter*innen verbrachten ihr Dasein verarmt und weit abgelegen von jeglicher Infrastruktur, gesundheitliche Risiken und Gefahren des Amazonas-Regenwaldes wie etwa Schlangenbisse inklusive.

Erst zum neuen Jahrtausend wurden nachhaltigere, wirtschaftlich und sozial verträglichere Modelle zur Kautschukgewinnung eingeführt. 1983 erwarb der französische Reifenhersteller Michelin, bereits seit 1927 in Brasilien aktiv, Kautschukplantagen auf einer Fläche von 10 000 Hektar an der Ostküste des Bundesstaates Bahía. Das US-amerikanische Unternehmen Firestone verkaufte die Plantagen, da es für sich im Amazonas keine Zukunft mehr sah. 17 Jahre später stand Michelin ebenfalls kurz davor, sein dortiges Engagement zu beenden, entschied sich jedoch für die Alternative, die Plantagen in Kooperativen zu überführen. So wurde das Projekt Ouro Verde ins Leben gerufen, bei dem die früheren Mitarbeitenden als Teilhaber*innen Verantwortung übernahmen. 5000 Hektar wurden an 12 Pächter*innen übergeben, 3000 Hektar zum Naturschutzgebiet deklariert und auf 1750 Hektar wurde ein Forschungsprojekt zur Schädlingsbekämpfung eingerichtet. 258 weitere ehemalige Mitarbeiter*innen wurden von den Pächter*innen übernommen und 200 neue Arbeitskräfte angestellt. Mit einem Jahresgewinn von 250 000 Euro pro Plantage erzielt die Kooperativenwirtschaft etwa 10 Prozent mehr Gewinn als Michelin zuvor. Heutzutage gibt es mit dem Schuhproduzenten Veja auch ein brasilianisches Unternehmen, das nachhaltige Kautschukgewinnung zur Herstellung seiner Produkte fördert. Übrigens, das Teatro Amazonas ist bereits 1990 wiedereröffnet worden.