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Das gebrochene Versprechen

Rezension: „Vom Triumph der Sandinisten zum demokratischen Aufstand. Nicaragua 1979–2019“
Manfred Liebel

Das Buch kommt zur rechten Zeit. Ein Jahr nach Beginn des Aufstands am 18. April 2018 präsentiert der Autor Matthias Schindler eine Analyse, die diesen Aufstand nicht wie fast alle bisherigen Einschätzungen aus dem Augenblick heraus deutet, sondern seine Wurzeln bereits in der sandinistischen Revolutionszeit vor der Wahlniederlage im Februar 1990 verortet. Er argumentiert durchgehend aus einer selbstkritischen linken Perspektive. Die sandinistische Revolution, die der Autor selbst jahrelang solidarisch begleitet und mit der er, wie viele andere auch, große Hoffnungen verbunden hatte, betrachtet er nicht als einen tragischen Irrtum der Geschichte, sondern als gebrochenes Versprechen. Er spürt deshalb akribisch den Gründen ihres Scheiterns und ihren inneren Widersprüchen nach, die viele Linke (er schließt sich ausdrücklich ein) lange Zeit nicht gesehen haben. Das Buch beginnt mit einer Analyse der neuen Aufstandsbewegung und ihrer blutigen Unterdrückung und führt dann Schritt für Schritt bis zur Machtübernahme der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN im Jahr 1979 zurück.

Der Autor beschreibt zunächst die Anlässe und die Entwicklung des Aufstands, seine breite Verankerung in verschiedenen Gruppen der Bevölkerung, vor allem in der studentischen Jugend, aber auch bei jungen Leuten in den städtischen Barrios und bei großen Teilen der Landbevölkerung, wobei auch Frauen zunehmend sichtbar wurden. Die Brutalität der Repression durch das Regime, die auch ihn überrascht hat, erklärt er mit der Befürchtung des Präsidentenpaares Ortega-Murillo, die Kontrolle über das Land zu verlieren, wofür er einige Hinweise benennt. Im Detail zerpflückt der Autor dabei die Selbstrechtfertigungen des Regimes und seiner fanatischen Gefolgsleute in Nicaragua und im Ausland, die behaupten, bei dem Aufstand habe es sich um einen aus den USA gesteuerten Putsch gehandelt. Dabei setzt er sich mit der vor allem in den staatszentrierten linken Parteien Lateinamerikas (aber auch Europas) verbreiteten Auffassung auseinander, das Regime in Nicaragua sei „links“, da es eine soziale Politik zugunsten der armen Bevölkerung gemacht habe. Selbst wenn dies so gewesen wäre (woran ernsthafte Zweifel angebracht sind), wären damit nach Auffassung des Autors die Opfer der staatlichen Repression, die vielen Toten, Verletzten, gefolterten politischen Gefangenen und ins Exil Getriebenen in keiner Weise zu rechtfertigen. In der Darstellung wird gut nachvollziehbar, warum es der Aufstandsbewegung vor allem um demokratische Verhältnisse, Menschenrechte und Gerechtigkeit geht, worunter sie eine Bestrafung der für die Menschenrechtsverbrechen Verantwortlichen und Wiedergutmachung für die Opfer der Repression sowie ein Ende der grassierenden Korruption versteht. Während es zu Beginn der sandinistischen Revolution hieß „Freies Nicaragua oder Tod“, heißt es nun „Freies Nicaragua um zu leben“.

In den weiteren Kapiteln arbeitet der Autor auf der Grundlage von bisher wenig bekannten Dokumenten die ursprünglich von der FSLN selbst formulierten Ansprüche an den demokratischen Charakter der Revolution heraus und misst diese daran, unter Beachtung des historischen Kontextes. Er zeigt, dass die Revolution in der Bevölkerung einen enormen Enthusiasmus und Prozesse der Selbstorganisation freisetzte, aber von Anbeginn an auch starke autoritäre Komponenten aufwies. Die autoritären Züge verstärkten sich seit 1983 in der Abwehr des von den USA gesteuerten Contrakrieges, lassen sich aber nach Überzeugung allein daraus nicht erklären; der Autor sieht sie schon in den militärischen Strukturen und Mentalitäten des bewaffneten Aufstands gegen die Somoza-Diktatur angelegt. Wichtig an der Analyse des Autors ist auch, dass er diese Prozesse nicht als zwangsläufig darstellt, sondern auch andere mögliche Entwicklungen andeutet. Exemplarisch zeigt Schindler dies an der Alphabetisierungskampagne und an den Kontroversen um die Konzipierung der Bildungspolitik.

Faktisch bildete sich im Lauf des revolutionären Prozesses eine politische Machtelite heraus, die auch innerhalb der FSLN nie das Kommando aus der Hand gab und sich zunehmend ökonomische Privilegien verschaffte. Dies begann schon unmittelbar nach der Machtübernahme und fand einen Höhepunkt in der sogenannten Piñata, als die Führungsschicht nach der Wahlniederlage im Februar 1990 noch geschwind staatliche Besitztümer unter sich aufteilte, um sie nicht in die Hände der bürgerlichen Nachfolgeregierung gelangen zu lassen. In der Folge ging es vielen ehemaligen Revolutionsführern nur noch darum, durch geheime Absprachen mit der an die politische Macht zurückgekehrten alten Oligarchie die eigenen Privilegien und den Einfluss auf den Staatsapparat zu bewahren, ein Prozess, der mit der durchsichtigen Behauptung, nun „von unten“ zu regieren, verschleiert wurde und der grassierenden Korruption letztlich Tür und Tor öffnete.

Diese Prozesse gingen einher mit einer immer stärkeren Personalisierung der Macht in den Händen des ehemaligen Revolutionskommandanten Daniel Ortega und schließlich auch seiner Ehefrau Rosario Murillo, die im Januar 2017 zur Vizepräsidentin befördert worden war. Der Autor warnt allerdings zu Recht davor, den nach der 2007 erfolgten Rückkehr Ortegas in die Präsidentschaft offensichtlich werdenden Missbrauch staatlicher Macht und die Zerstörung basisdemokratischer Strukturen (etwa in der kommunalen Selbstverwaltung) mit den Charaktereigenschaften dieser Personen zu erklären. Stattdessen sieht er den Grund dafür in der Unterschätzung und mangelnden Kritik an den Fehlentwicklungen in der sandinistischen Revolution selbst, vor allem ihrer Geringschätzung demokratischer Prozesse und rechtsstaatlicher Strukturen (beispielsweise Manipulationen der Verfassung und gefälschte Wahlen). Schon früh hatten einige Sandinist*innen, wie etwa Vilma Nuñez, ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs und heutige Ehrenpräsidentin des Menschenrechtszentrums CENIDH (siehe Interview ab Seite 45 in dieser ila), auf diese Defizite aufmerksam gemacht. Aber solche Stimmen fanden kaum Gehör oder wurden unter der erneuten Präsidentschaft Ortegas als Verräter und Lakaien des US-Imperialismus diffamiert.

Der Autor deutet den im April 2018 begonnenen Aufstand als späte und spontane Antwort auf den Mangel an Demokratie in der Sandinistischen Revolution. Ihm waren zahlreiche, wenig bekannt gewordene Protestaktionen vorangegangen, die sich gegen umweltgefährdende Megaprojekte wie das gigantische Kanalprojekt oder Bergbauprojekte gerichtet hatten, die ohne Konsultation der betroffenen Bevölkerung durchgedrückt worden waren. Im April-Aufstand sieht der Autor letztlich einen lang aufgestauten Protest gegen die Verletzung der Menschenwürde und gegen die Brutalität derer, die meinten, sich inzwischen alles erlauben und jede Regung des Protests niedermachen zu können.

Die meisten am Aufstand Beteiligten haben aufgrund ihrer Jugend die Revolution nicht selbst erlebt, aber ich hatte als Teilnehmer an einigen der Massendemonstrationen im Mai und Anfang Juni 2018 den Eindruck, dass manche ihrer Visionen und Parolen weiterlebten und nun gegen die Machthaber gewendet wurden (siehe Interview in ila 417). Die offiziellen Sprüche vom Pueblo Presidente (also der Identität von Volk und Präsident) wurden als hohles Machtgehabe empfunden. Die Partei, in deren Namen dies alles geschah, hat meines Erachtens seitdem einen großen Teil ihrer Anhängerschaft verloren. Zwar gibt es noch immer Menschen, die dem Regime ergeben sind, aber sie tun es in vielen Fällen nicht aus Überzeugung, sondern weil sie Angst um ihren Job im Staatsdienst oder als Mittäter des Regimes Angst um ihre Pfründe und ihr Leben haben (das gilt vermutlich auch für Ortega und Murillo selbst). Der im Aufstand zum Ausdruck kommende brennende Wunsch nach Freiheit und Demokratie, der alle eint und bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Nationalfarben Blau-Weiß zum Ausdruck gebracht wird, hat, wie der Autor anmerkt, soziale Fragen in den Hintergrund treten lassen. Sie werden nach meiner Überzeugung spätestens dann wieder auf die Tagesordnung kommen und können zur Zerreißprobe der Aufstandsbewegung werden, wenn das Regime zum Abtritt gezwungen wird. Es ist angezählt und kann sich offensichtlich nur noch mit staatsterroristischer Gewalt aufrechterhalten; andererseits hat die demokratische Aufstandsbewegung (noch) nicht die Kraft, sein Ende herbeizuführen.

Der Autor stellt sich am Ende des Buches die Frage, was die Nicaragua-Solidaritätsbewegung und die internationale Linke dazu beitragen können, um das diktatorische Regime endgültig in die Knie zu zwingen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sieht er in der selbstkritischen Bestandsaufnahme der eigenen Fehler, ohne allerdings die Revolution in Bausch und Bogen zu verdammen oder gar die militärische Intervention der USA in den 80er-Jahren nachträglich zu rechtfertigen. Auch wenn die vom Autor geforderte Bestandsaufnahme schon Jahre vor dem Aufstand zumindest in Teilen der Solidaritätsbewegung begonnen hatte, bringt seine präzise Analyse der Licht- und Schattenseiten der Revolution und ihrer inneren Widersprüche weitere bedenkenswerte Belege und Argumente. Des Weiteren hält es der Autor für unabdingbar, die demokratische Bewegung in Nicaragua, die sich insbesondere in den beiden großen Bündnissen, der Nationalen Einheit Blau-Weiß (UNAB) und der Bürgerallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) zusammengeschlossen hat, ohne Wenn und Aber zu unterstützen. Er verweist dabei darauf, dass aus dem Land selbst immer wieder eine Unterstützung des Kampfes für Freiheit und Demokratie erbeten wurde und wird. Gleichzeitig lehnt der Autor jegliche wirtschaftliche oder gar militärische Intervention von außen, wie sie von den USA, aber auch von der Europäischen Union immer wieder ins Spiel gebracht wird, kategorisch ab.

In diesem zuletzt genannten Punkt kann ich dem Autor nicht folgen oder möchte zumindest anmerken, dass er präzisiert werden müsste. Eine militärische Intervention, wie sie von der US-Regierung immer wieder angedroht wird, wäre zweifellos kontraproduktiv und würde, wie alle militärischen Interventionen, die jenseits des Völkerrechts in den letzten Jahrzehnten in der Welt veranstaltet wurden, nur neues Leid und neue Kriege hervorrufen. Angesichts der Erfahrungen, die in Nicaragua mit militärischen Interventionen der USA gemacht worden sind, gibt es in diesem Land auch kaum jemanden, der sie herbeiwünscht. Aber wirtschaftliche Sanktionen, von wem auch immer, sind meines Erachtens angesichts der bisher sehr begrenzten Macht der Protestbewegung unverzichtbar. Allein ihre Androhung hat in den letzten Monaten bewirkt, dass sich das Regime auf Verhandlungen mit seinen Widersacher*innen und auf verbale Zugeständnisse einließ (etwa anzuerkennen, dass es politische Gefangene gibt und diese freizulassen sind). Doch diese Verhandlungen und Zugeständnisse haben aus der Sicht des Regimes nur den einzigen Zweck, Zeit zu gewinnen und (weitere) Sanktionen zu vermeiden. Den springenden Punkt sehe ich darin, gegen wen sich wirtschaftliche Sanktionen richten und was sie für die Bevölkerung bedeuten. Sind sie gegen die Machthaber und ihre Privilegien gerichtet, bleiben ihre negativen Auswirkungen für die Bevölkerung überschaubar und werden von ihr wohl auch begrüßt. Nicht die Sanktionen sind also das Problem, sondern dass sie nur zaghaft ergriffen und immer wieder hinausgeschoben werden. Erst wenn es der Protestbewegung wieder gelingt, die Straßen zu erobern (wie etwa in den letzten Wochen in Algerien und dem Sudan), werden weitere Sanktionen gegenstandslos.

Aber der Blick sollte sich nicht nur auf wirtschaftliche Sanktionen von außen fixieren. Letztlich scheint mir entscheidend zu sein, wie dem Regime die wirtschaftlichen Grundlagen im Land selbst entzogen werden können. Der Staatsapparat, der als repressives Instrument bisher noch weitgehend intakt ist, wird nur so lange funktionieren, wie er über Einnahmen verfügt. Da inzwischen die Quellen aus Venezuela versiegt sind, kaum noch Geld ins Land kommt und der Tourismus fast völlig zum Erliegen gekommen ist, ist der Staat im Wesentlichen auf die Steuern angewiesen, die sich aus der wirtschaftlichen Tätigkeit der großen Unternehmen ergeben. In dieser Hinsicht sind die Besitzer dieser Unternehmen, um nicht auf ihre Geschäfte verzichten zu müssen, bisher ihrer immer wieder bekundeten Solidarität mit den Zielen der Protestbewegung nicht nachgekommen. Zu einem sogenannten Paro Nacional, also der Einstellung jeglicher wirtschaftlichen Aktivität, die immer wieder im Land gefordert wird, haben sie sich bisher nicht bereitgefunden. Wenn es das große nationale Kapital ernst meint mit seiner Unterstützung für die protestierende Bevölkerung, wird es sich endlich zu einem solchen Schritt entschließen oder dazu veranlasst werden müssen. Der Staatsapparat würde sich binnen weniger Wochen in Luft auflösen. Selbst Polizist*innen und Gefängniswärter*innen würden ins Grübeln kommen, wenn der Lohn ausbleibt. Gewiss ist ein solcher Gedanke für Linke gewöhnungsbedürftig, aber er drängt sich angesichts des Umstandes auf, dass in Nicaragua mangels Masse weder durch Streiks von Arbeiter*innen noch von Konsument*innen die Wirtschaft lahmzulegen ist. Auch Karl Marx hatte übrigens ein solches Vorgehen in der 1848er-Revolution in Deutschland befürwortet („Und wie besiegt man das Königtum auf bürgerliche Weise? Indem man es aushungert. Und wie hungert man es aus? Indem man die Steuern verweigert.“ – Die Konterrevolution in Berlin, in: MEW 5, S. 11).

Ein weiteres Mittel, um das Regime unter Druck zu setzen, besteht darin, darauf zu dringen, dass die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die mit den staatsterroristischen Praktiken einhergehen, aufgeklärt und die dafür Verantwortlichen vor internationalen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden. Neben den Menschenrechtsorganisationen in Nicaragua haben auch internationale Organisationen mehrmals im Detail nachgewiesen, dass das Regime sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit (der Autor spricht in Anlehnung an Hannah Arendt von „Verbrechen gegen die Menschheit“) begangen hat, für die auch Gerichte wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag oder der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica Zuständigkeit besitzen. Was fehlt, sind konkrete Initiativen in dieser Richtung. Sie würden die Isolierung des Regimes verstärken und der Machtarroganz des Regimes Grenzen setzen.

Der Autor des Buches hält sich mit Vorschlägen für das weitere Vorgehen der Aufstandsbewegung und insbesondere für ein politisches Programm für die Post-Ortega-Zeit zurück. Er beschränkt sich darauf, im Sinne von Rosa Luxemburg zu fordern, dass politische Freiheiten nicht für soziale Ziele geopfert werden dürfen, sondern Sozialismus und Demokratie Hand in Hand gehen müssen. Konkrete Überlegungen dazu, die von manchen Gruppen in Nicaragua inzwischen formuliert worden sind, könnten breiter kommuniziert und vertieft werden. Doch welche Chancen eine derartige Perspektive nach den Erfahrungen mit der links drapierten Ortega-Diktatur in Nicaragua haben könnte, lässt sich kaum vorhersagen.

Insgesamt bietet das Buch anhand von vielen konkreten Beispielen eine interessante Interpretation der Sandinistischen Revolution der 80er-Jahre, des Aufstiegs von Daniel Ortega zum absoluten Herrscher und des demokratischen Aufstandes in Nicaragua von 2018. Es enthält eine Reihe von Informationen, die selbst für gut informierte Aktivist*innen neu sein dürften. Und es bietet eine Diskussionsbasis für viele politische Fragen, die weit über die tagespolitischen Ereignisse in Nicaragua hinausreichen.