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Kämpfe um ein Stück vom Kuchen

Haiti: Schon seit Monaten gibt es gewaltsame Proteste in dem armen Karibikstaat

In Haiti wird geschossen, wieder einmal. Polizei und Bewaffnete liefern sich regelmäßig Feuergefechte. In den internationalen Medien wird diese latente Gewalt nur noch in Ausnahmefällen wahrgenommen. An Karfreitag schossen Unbekannte in der Gemeinde Petite Rivière de l‘Artibonite auf die dortige Polizeistation.

Hans-Ulrich Dillmann

Bei dem Feuergefecht rund 120 Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince starb nach unbestätigten Berichten ein Polizeibeamter. Verletzte waren sowohl auf Seiten der Angreifer als auch bei der Polizei zu beklagen. Nach Informationen der Internet-Nachrichtenplattform Haiti Libre reagierten Angehörige einer kriminellen Bande mit diesem Überfall auf die Festnahme von Mitgliedern ihrer Gang in der Region. Auch in den Bidonvilles, den Armenvierteln von Port-au-Prince, die wie ein Ring um das einstige historische Zentrum liegen, kommt es seit Monaten immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, welche die haitianische Regierung und die Sicherheitskräfte mit steter Regelmäßigkeit „bewaffneten kriminellen Banden“ zuschreiben. Seit Oktober vergangenen Jahres gibt es Proteste gegen Korruption und die schlechte wirtschaftliche Lage mit der Forderung, die haitianische Regierung zum Rücktritt zu zwingen.

Bereits im Februar brachten Proteste das wirtschaftliche Leben des Landes zum Erliegen. Nach offiziellen Angaben gab es rund ein Dutzend Tote, inoffizielle Quellen sprechen von der doppelten Zahl. Die Zahl der Verletzten soll dreistellig sein. Die USA und auch europäische Staaten brachten Familienmitglieder ihrer Diplomaten „in Sicherheit“. Auch der Staatspräsident evakuierte vorsorglich Frau und Kinder in ein luxuriöses Hotel in der kolonialen Altstadt von Santo Domingo.

Die Proteste und gewaltsamen Auseinandersetzungen richten sich vor allem gegen die unerträgliche wirtschaftliche Situation des Landes. Die Inflationsrate zieht kräftig an, der Gourde hat in den letzten zehn Jahr seinen Wert halbiert. Das Defizit im Staatshaushalt beträgt 89,6 Millionen US-Dollar. Vetternwirtschaft und Korruption machen Politiker*innen unabhängig von deren politischen Positionen immer reicher und die Mehrheit der Bevölkerung immer ärmer.

Ohne die Überweisungen von im Ausland lebenden Verwandten würden die Einwohner*innen im „Land der Berge“, wie Haiti, in der Landessprache Kreyol „Ayití“, übersetzt heißt, noch größeren Hunger leiden. Rund drei Milliarden US-Dollar fließen jährlich als Devisen durch Überweisungen ins Land. Zehn Jahre nach dem schweren Erdbeben, bei dem wohl 300 000 Menschen starben, leben viele immer noch in provisorischen Unterkünften, Teile der Erdbebenzone rund um Port-au-Prince sind immer noch nicht vollständig wiederaufgebaut, obwohl Milliarden US-Dollar als Wirtschafts- und Entwicklungshilfe ins Land flossen. Fast zwei Drittel aller Bewohner*innen leben im Armenhaus Lateinamerikas an und unter der Armutsgrenze. Nach Aufstellungen der Weltbank sind rund ein Viertel der etwa zehn Millionen Einwohner*innen des Landes gezwungen, von weniger als 1,23 US-Dollar pro Tag, also in extremer Armut, zu leben.

Der seit langem schwelende Unmut in der Bevölkerung entzündete sich, seit bekannt wurde, dass namhafte Politiker des Landes Millionen an Geldgeschenken vom brasilianischen Baukonzern Odebrecht für Aufträge erhalten hatten und dass aus einem Fonds, der aus den Einkünften des Petrocaribe-Abkommens für Haiti gespeist wurde, fast vier Milliarden US-Dollar in die Taschen von Regierungs- und Parlamentsmitgliedern geflossen sind. Eine parlamentarische Untersuchungskommission nahm sich des Falls zwar an und bestätigte die Veruntreuung der Gelder, juristische Konsequenzen hat der Korruptionsskandal jedoch bis heute nicht.

Beim Petrocaribe-Abkommen waren insgesamt 18 Karibikstaaten von Venezuela mit Vorzugspreisen bei Erdöllieferungen und mit langfristigen Abzahlungsbedingungen bedacht worden. Zahlreiche karibische und zentralamerikanische Länder profitierten von der Vereinbarung mit dem größten Erdöllieferanten, mit der die venezolanische Regierung unter Hugo Chávez auch Verbündete für ihre bolivarische Allianz suchte. Zu Beginn gehörte Haiti nicht zu den begünstigten Staaten. Chávez lehnte eine Mitgliedschaft ab, weil der gewählte haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide 2004 mit US-Hilfe aus dem Amt getrieben worden war. Im Jahr 2007 durfte der Inselstaat, der sich mit der Dominikanischen Republik die zweitgrößte Karibikinsel Hispaniola teilt, dem Pakt dann doch noch beitreten. Im Juli 2008, beim fünften Gipfeltreffen von Petrocaribe in Maracaibo, kündigte der damalige venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez sogar an, künftig für jedes Barrel exportierten Öls 50 Dollarcent in einen gemeinsamen Agrarfonds einzuzahlen.

Teile der Fondsgelder für Haiti wurden ebenso wie internationale Hilfsgelder für den Wiederaufbau seit dem Erdbeben 2010 zur Quelle von illegalen Einnahmen von Politikern und Parlamentariern. Hauptvorwurf der Opposition und der Demonstrierenden auf den Straßen ist die Veruntreuung von Geldern eines Fonds von Petrocaribe in Höhe von 3,8 Milliarden US-Dollar in den Jahren 2016 und 2017, unter dem Vorgänger von Staatspräsident Jovenel Moïse, Michel Martelly.

Dass der Untersuchungsbericht des haitianischen Senats die Korruptionsvorwürfe zwar bestätigte, aber keine weiteren Folgen nach sich zog, erzürnt die Bevölkerung seit Monaten. Der Zorn richtet sich gegen eine Regierung, deren Mitglieder offensichtlich von dem Fonds profitiert haben und die keine Anstalten macht, Konsequenzen aus der Untersuchung zu ziehen. Auch der Oberste Gerichtshof Haitis hat im November festgestellt, dass der aktuelle Präsident Geld veruntreut habe.

Ein breites Bündnis aus Gruppen der Zivilgesellschaft und oppositioneller Parteien fordert nicht nur Aufklärung über den Verbleib der Milliarden, sondern auch den Rücktritt von Staatspräsident Jovenel Moïse, einem Agrarunternehmer, der seit dem 7. Februar 2017 (nach zweifelhaften Wahlen) amtiert, sowie von dessen Ministerpräsident. Zwar wurde Regierungschef Jean-Henry Céant, ein Notar, inzwischen angesichts der heftigen und gewaltsamen Proteste im März dieses Jahres „geopfert“ und von seinem Posten abberufen, aber auch sein seit Anfang April amtierender Nachfolger Jean-Michel Lapin konnte die Wogen nicht glätten. Der Arzt und Berufspolitiker gilt als Parteigänger genau jener Kaste um Jovenel Moïse und seinen Vorgänger Michel Martelly, die im Zentrum der Proteste in Haiti stehen.

Die Liste der Vorwürfe ist lang. So soll der Ex-Musiker Michel Martelly, „Sweet Micky“ genannt, Millionen von Hilfsgeldern auf seine Konten abgezweigt und für riesige Bauaufträge zur Verbesserung der Infrastruktur des rund 27 000 Quadratkilometer großen Karibiklandes regelmäßig Schmiergeld empfangen haben. In der dominikanischen Nachbarrepublik wurden sogar Dokumente mit genauen Zahlungsempfängen veröffentlicht; Konsequenzen: keine.

Der Sänger lebt in einem Luxusanwesen in den Anhöhen oberhalb von Port-au-Prince. Aber angeblich hält er sich aus Sicherheitsgründen meist in den USA auf. Der einst beliebte Karnevalssänger macht aus seiner Freundschaft zum Diktatorensohn Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier und seiner Nähe zu den berüchtigten Tonton Macoute (Todesschwadrone) kein Geheimnis. Nach der Aufgabe seines Amtes 2016 erlebte Haiti eine fast einjährige Wahl-Hängepartie, die von Manipulationsvorwürfen bei der Stimmabgabe überschattet war. Erst im Februar 2017 konnte Jovenel Moïse aufgrund ausländischen Drucks als Staatspräsident vereidigt werden. Der derzeitige Regierungschef Jean-Michel Lapin ist bereits sein dritter Kabinettschef.

Im November war es zu tagelangen Protesten gekommen, zeitweise wurde die Grenze zur Dominikanischen Republik geschlossen. Seit Monaten hat der östliche Nachbarstaat auf der Insel seine Grenztruppen mobilisiert. Jede politische Erschütterung beim armen, im Westen Hispaniolas gelegenen Nachbarn macht sich in einer verstärkten Migration bemerkbar. Wiederholt kam es auch zu Scharmützeln zwischen bewaffneten Vertretern beider Staaten aufgrund der angespannten Situation an der Grenze, auf deren binationalen Märkten sich die Bewohner*innen des Grenzgebiets versorgen. Haiti ist neben den USA einer der größten Handelspartner der Dominikanischen Republik, offiziell und auch im inoffiziellen Warenverkehr. „Haiti... hat sich zu einer ausgereiften politischen und wirtschaftlichen Krise entwickelt“, zitiert der Miami Herald die Warnung des EU-Vertreters bei den Vereinten Nationen, João Vale de Almeida, auf einer Sitzung des Sicherheitsrates im April, „die seit Juli letzten Jahres zu einer Reihe von Demonstrationen und Ausschreitungen gegen die erhöhten Lebenshaltungskosten aufgrund der Inflation und der schnellen Abwertung der lokalen Währung geführt hat“.

Die Lage könnte sich in den nächsten Monaten noch weiter verschärfen. Zwar hat der Sicherheitsrat seine seit 2017 auf ein Minimum reduzierte „Friedensmission“ (United Nations Mission for Justice Support in Haiti, MINUJUSTH), derzeit rund 350 zivile UN-Mitarbeiter*innen und sieben Polizeieinheiten mit 980 Mitarbeiter*innen und fast 300 Einzelpolizist*innen, noch einmal um sechs Monate bis Oktober dieses Jahres verlängert. Ab dann soll das Kontingent der Blauhelmvertreter weiter verkleinert werden. Ab 2020 will dann Donald Trump auch noch 50 000 haitianischen Flüchtlinge, die nach dem Erdbeben 2010 „aus humanitären Gründen“ in die USA gekommen waren, abschieben.

Die vermehrten bewaffneten Auseinandersetzungen und Proteste gegen die Regierung kommentiert auch der neue Premierminister Jean-Michel Lapin inzwischen mit Sorge. Der Mediziner spricht sogar von einem „urbanen Guerillakrieg“, mit dem sich die Regierung in Port-au-Prince konfrontiert sehe. Dabei wollen die Armen in Haiti endlich auch etwas vom Kuchen abhaben.