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Ich möchte nicht auf dem Friedhof oder im Gefängnis enden

Die Guatemaltekin Lolita Chávez über ihren Kampf aus dem Exil

Lolita Chávez Ixcaquic aus Guatemala ist eine der bekanntesten Menschenrechtsverteidigerinnen der Region. Sie setzt sich für das Recht auf Land und die Identität der Maya K’iché ein. Obwohl sie im Moment im Exil lebt, hat sie immer ein Lächeln auf den Lippen und beeindruckt ihre Mitstreiter*innen durch klare Worte im entscheidenden Moment. Während einer Reise internationaler Menschenrechtsverteidigerinnen nach Honduras hatte Sonja Gerth die Möglichkeit, mit Lolita Chávez über die Veränderungen in ihrem Leben zu sprechen.

Sonja Gerth / CIMAC

Meine Kollegin von Cimacnoticias hat dich 2016 das letzte Mal interviewt. Was ist seitdem in deinem Leben passiert?

Als Menschenrechtsverteidigerin hat es in meinem Leben mehrere Wendungen gegeben. Ich bin Teil des Rates der K‘iché-Völker (CPK) und in den letzten fünf Jahren sind die Leute in unserem Gebiet aufmerksamer im Hinblick auf ihre Landrechte geworden. Zwar wurde zuvor auch schon von transnationalen Unternehmen gesprochen, aber nur wenige Leute hatten sich organisiert. Das hat sich geändert. Es hat auch starke Proteste gegen Korruption und Straflosigkeit gegeben; Feminizide (Frauenmorde) sind heute sichtbarer. Auch die Schwestern, die den Genozid während des Krieges anprangerten, sind sehr präsent. Leider bin ich persönlich immer mehr Repressionen ausgeliefert und angegriffen worden. Es gab mehrere Attentatsversuche gegen mich. Ich bin immer mehr kriminalisiert worden und meine Gefährdung nahm zu, sodass ich das Territorium verlassen und internationalen Schutz beantragen musste. Das bewegt mich im Moment sehr. Das Gute daran aber ist, dass wir heute mehr internationale Netzwerke haben. Die Angreifer wollten mich mit dem Attentat zum Schweigen bringen. Aber wir haben dem Ganzen eine Wendung gegeben, und jetzt weiß ich, dass auch andere Arten von Aktivismus möglich sind, Netzwerke zu schaffen, mehr mit der feministischen Bewegung zu arbeiten, von vielen Standorten aus, nicht nur von Abya Yala1 aus, sondern zum Beispiel auch aus Europa. Wir haben vermehrt Strafprozesse auf internationaler Ebene angestoßen, was uns zuvor schwer fiel. Aber es tut weh, nicht in meiner Heimat zu sein, weil ich dort sehr verwurzelt bin.

Du musstest wahrscheinlich deinen Kampf neu erfinden – einerseits das Attentat verarbeiten, andererseits aus dem Exil heraus versuchen, aktiv zu bleiben.

Du musst Klarheit über deine Ziele und deinen Weg haben. Ich wollte schon immer das Recht auf Gerechtigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung und Leben verteidigen. Um das Leben zu verteidigen, musst du manchmal auch schwierige Entscheidungen treffen, zum Beispiel konnte ich mir vorher nicht vorstellen, ohne meine Kinder zu leben. Ich fühle einen tiefen Schmerz. Das ist ein perverser Angriff vonseiten des Staates auf die Frauen: sie von allem abzukoppeln. Meine Kinder und ich kommunizieren zwar ständig miteinander, aber nicht zu Hause sein zu können, ist eine große Herausforderung. Für mich ist das wie psychologische Folter. Aber ich weiß, dass ich am Leben, frei und gesund sein will und das gibt mir Kraft. Ich will keine Märtyrerin sein, ich will nicht sterben. Ich wurde nicht geboren, um ermordet, gefoltert oder vergewaltigt zu werden. Doch das Risiko für mich war in meiner Heimat einfach zu groß geworden.

Wie bist du jetzt mit den Menschen deiner Organisation weiter verbunden?

Bevor ich das Land verließ, traf ich mich mit dem CPK und Genossinnen aus dem Baskenland, die ein temporäres Schutzprogramm anbieten. Sie sagten zu mir: „Wir wollen nicht, dass du ermordet wirst.“ Sie haben vorgeschlagen, dass ich die Forderungen des CPK weiter in die Öffentlichkeit tragen und Menschenrechtsverletzungen anklagen kann. Und so machen wir es jetzt, denn der CPK wird nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene unsichtbar gemacht. In den Medien wollen sie unsere Botschaft – dass sich die indigenen Völker gegen die Vernichtung der Wälder wehren und um die Ressource Wasser kämpfen sollen – nicht verbreiten. Hinzu kommt der Machismo, den wir Frauen bekämpfen, auch in unseren eigenen Organisationen. Das mache ich jetzt. Wir halten Meetings über unterschiedliche Medien ab, oft sind es verschlüsselte Alternativen, weil die Telefone abgehört werden. Ich kommuniziere ständig mit der Koordination, die sich wiederum dazu verpflichtet hat, meine Botschaft an die Versammlung, die höchste Autorität des CPK, weiterzuleiten. Wir sind also immer noch eng miteinander verbunden. Leider gehen die Menschenrechtsverletzungen ja weiter; im Moment sind wir gerade dabei, auch für andere gefährdete Mitglieder des CPK Schutzmaßnahmen zu beantragen.

Woher kommen diese Bedrohungen?

Wir haben eine ziemlich klare Idee davon, wer die CPK-Genossen bedroht, auch wer diejenigen sind, die mich angegriffen haben und immer noch angreifen. In dem Moment, als ich gegangen bin, haben sie mich als Beispiel genutzt. Sie sagen den Frauen, schau dir das an, fünf Attentate, eine versuchte Vergewaltigung, das kann dir passieren, wenn du weiterkämpfst. Und wer macht das? Das Militär. Und öffentliche Amtsträger, zum Beispiel Bürgermeister, Abgeordnete im guatemaltekischen Parlament. Sie fordern die Frauen heraus und sagen: „Mal sehen, ob ihr es wagt, ohne Lolita weiterzukämpfen.“ Auf der Straße werden sie auch angegriffen, hauptsächlich von Machos. Und die andere Gefahr sind transnationale Unternehmen. Weil wir, die Maya-Völker, das Xinka-Volk und das Garifuna-Volk auch auf internationaler Ebene kämpfen und zum Beispiel Wasserkraftwerke anprangern.

Zum Beispiel ACS, ein Unternehmen von Florentino Perez, dem Präsidenten des Fußballclubs Real Madrid. Das ist das Energieunternehmen, das für die meiste Zerstörung, die meisten Attentate, Kriminalisierung und Verfolgung in Guatemala verantwortlich ist. Unser Compañero Bernardo Caal sitzt deswegen im Gefängnis. Aber das Unternehmen ACS und der spanische Staat sagen auf internationaler Ebene, sie würden Guatemala Entwicklung bringen. In Wirklichkeit versagt ACS 30 000 Menschen den Zugang zu Wasser. Das heisst, meine Angreifer, und auch die Leute, die meine Compañeros und Compañeras vom CPK bedrohen, sind Kriminelle, die mit diesen Unternehmen verbunden sind.

Sind sie denn mit dieser Strategie der Einschüchterung von Frauen erfolgreich?

Ich sehe, dass Frauen großen Mut haben. Sie haben natürlich Angst, aber sie verwandeln sie in Stärke, in Energie, in Organisation, in Kampf. Und das ist sehr inspirierend für andere Frauen. Denn auch in anderen Regionen wird ihnen gesagt: „Kämpft ihr immer noch?“, und sie sagen: „Ja, wir sind Compañeras von Lolita“, und dann: „Oh, gut, wir kennen Lolita!“ und so geht die Mund-zu-Mund-Propaganda weiter und sie geben sich gegenseitig Kraft. Diese Frauen sind sehr mutig. Sie sehen sich nicht als Opfer, sondern als politische Akteurinnen und sagen: „Wir werden weiter kämpfen! Auch gegen die Macho-Ehemänner. Ob Lolita nun da ist oder nicht, wir sind unsere Autorität, und wir treffen unsere eigene Entscheidung.“ Das heißt, nein zum Machismus zu sagen, uns von Gewalt gegen Frauen und die Territorien von Extraktivismus zu befreien.

Ein weitere Kraftquelle ist unsere Spiritualität. Sie ist für sie sehr wichtig und auch ich mache weiter mit meiner kosmogonischen Verpflichtung zur Spiritualität. Und an manchen Stellen haben wir uns mit religiösen Anführer*innen getroffen, die aus Guatemala stammen.

Dieser Teil ist auch schwierig, vom Exil aus...

Ja, aber man bringt mir zum Beispiel Kerzen mit, sie wissen, wann es internationale Treffen von Menschenrechtsverteidiger*innen oder Feministinnen gibt, und dann schicken sie mir Material. Das ist eine sehr schöne Beziehung zu meinen Freundinnen, sie wissen zum Beispiel, dass ich das Essen sehr vermisse, oder meine Kleider, und dann schicken sie mir welche. Sie haben mir schon den Maya-Kalender geschickt, meinen Rucksack, Klamotten, meinen Schal ... alles Mögliche, was ich gerne hätte, aber außerhalb Guatemalas nicht finde: Chilis, Kaffee, schwarzes Salz, das hat mich sehr animiert. Ich träume jeden Tag davon zurückzukehren, aber ich möchte nicht in das Gefängnis oder auf den Friedhof zurückkehren. Ich möchte, dass internationale Organisationen sich verpflichten, meinen Aufenthalt in Guatemala zu überwachen. Die Berichterstatter*innen der Vereinten Nationen haben schon gesagt, dass sie vom guatemaltekischen Staat verlangen werden, dass er das Recht, Menschenrechte zu verteidigen, achtet.

Im Moment scheint es allerdings eine schlechte Zeit für internationale Organisationen in Guatemala zu sein. Stimmt es, dass die Tochter von Rios Montt (ehemaliger Präsident, verantwortlich für Genozid) für die nächsten Wahlen kandidieren will?

Nicht nur die Tochter von Ríos Montt steht in Verbindung zur Repression und ist für die Militarisierung. Aber es gibt auch andere Kandidaten, die mit Otto Pérez Molina (ehemaliger Präsident) verbunden sind, zum Beispiel Estuardo Galdámez, der als Abgeordneter im Vorstand des Kongresses sitzt. Er ist Abgeordneter der Region K‘iché, und er möchte sich auch bewerben. Es gibt mehrere Angehörige der Oligarchie und der Armee, die kandidieren wollen. Guatemala weint Blut, es ist keine gute Zeit. Und wie zu anderen Zeiten konnten wir uns nicht ausruhen, Korruption und Straflosigkeit gehen weiter.

Diese Regierung von Präsident Jimmy Morales ist intrigant, eine Regierung auf dem Boden, es gibt perverse Interessen der Unternehmen, aber auch der Oligarchie, die die internationalen Verpflichtungen zum Beispiel bei der CICIG (UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala) nicht einhält. Morales will sie aus dem Land schmeißen. Aber es geht nicht nur gegen die CICIG, es geht jetzt gegen auch die Justiz. Die wenigen verbliebenen Richter*innen, die sich in einem vermeintlichen demokratischen Prozess mit dem Fall beschäftigen können, werden jetzt auch verfolgt. Es werden also nicht nur die Menschenrechtsverteidiger*innen, sondern auch die indigenen Völker, die LGBTI-Gemeinde, und die Richter*innen verfolgt, und die Territorien remilitarisiert, jedenfalls im K‘iché.

Du sagtest, dass du nach dem Verlassen des Landes die Verbindungen zu Feministinnen wiedergefunden hast, auf welche Weise?

Nicht nur zu den Feministinnen! Als ich ging, sagte ich mir, wenn ich nicht mit meinen Leuten zusammen sein kann, möchte ich die Verbindung zu feministischen Bewegungen, zu Geflüchteten, Migrant*innen und Angehörigen von Gefangenen und politischen Gefangenen aufnehmen. Ich möchte verstehen, wie so eine Situation, kriminalisiert zu werden, erlebt wird, auch in anderen Ländern. Denn mir fällt es sehr schwer, diese Situation zu ertragen, dass ich von der Lehrerin zur Kriminellen werde. Ich bin nicht kriminell, meine Familie weiß es, der Rat weiß es. Aber da es Massenmedien sind, die Kampagnen gegen mich in sozialen Netzwerken oder in Zeitungen mit grossen Auflagen starten, wird das in Guatemala stark verbreitet. Ich wurde sehr stark in den Medien angegriffen. Zum Glück gibt es die Austauschprogramme mit anderen Ländern! Zum Beispiel gibt es im Baskenland eine Bewegung, die sagt: „Willkommen Geflüchtete!“ Sie machen sehr gute Arbeit mit Geflüchteten, mit Leuten, die nicht aus Euskadi stammen, sehr nett. Und dann auch die feministische Bewegung, der Weltmarsch der Frauen und auch die Feministinnen des spanischen Staates. Ich war beeindruckt, wie viele Frauen am 8. März auf die Straße gehen! Und auch wie sie sich je nach Region organisieren, zum Beispiel Madrid, Barcelona, Bilbao… damit sie am 8. März mit starken Positionen überzeugen können.

Dann habe ich auch Kontakt zu Angehörigen von politischen Gefangenen des spanischen Staates aufgenommen. Ich wusste nicht, wie das läuft, wo die Gefangenen sind, dass sie in die Schweiz gebracht werden. Ich habe einen Genossen in der Schweiz besucht, und ich verstand das alles nicht, wie sie die politischen Gefangenen von ihren Familien fernhalten, die dadurch ja auch eine Art Folter erleben. Sehr nette Familien! Sie organisieren sich, um ihre Angehörigen regelmäßig zu sehen. Und die Dörfer veranstalten Feste, wenn sie wiederkommen, selbst wenn sie zehn oder 15 Jahre weg waren, es gibt Aktivitäten, sie werden nie vergessen!

Die Feministinnen machen auch hervorragende Arbeit: Fortbildungen, der Kampf um Gerechtigkeit, gegen das Patriarchat. Aber auch die feministischen Migrant*innen, die feministischen Roma. Und hier in Abya Yala, in Lateinamerika, habe ich auch andere inspirierende Bewegungen getroffen, zum Beispiel Menschenrechtsverteidigerinnen, den Zusammenschluss IM Defensoras.

Was hast du aus dem Garifuna-Gebiet von Honduras mitgenommen?

Ich nehme die Stärke der Menschenrechtsverteidigerinnen mit, ihren Kampf gegen das Patriarchat und ihre Spiritualität. Die Spiritualität ist tiefgreifend, aber auch die Kunst, ihr Tanz, ihre Organisationsformen so klar, so entschlossen und wie sie gegen die Angst arbeiten. Es ist eine sehr starke Kraft, die uns viel Energie und Lebenskraft gibt. Und ich weiß, dass uns auch ihre Vorfahr*innen begleiten.

  • 1. Antikolonialistischer Begriff für Lateinamerika

Das Interview führte Sonja Gerth im Januar 2019 in Honduras.