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Politik und Verbrechen in der weißen Perle des Westens

Die Romane des mexikanischen Autors Antonio Ortuño
Klaus Jetz

Der 1976 in Guadalajara geborene Autor Antonio Ortuño, der sich bis Ende Juni mit einem DAAD-Stipendium in Berlin aufhielt, wird als einer der besten jüngeren spanischsprachigen Autoren gehandelt. Drei Romane sind bislang in deutscher Übersetzung im Kunstmann Verlag erschienen. In ihnen spielen meist die politischen und wirtschaftlichen Zustände in seiner Heimatstadt, in Mexiko auch die „Perle des Westens“ genannt, eine Rolle. Aber auch Flucht und Vertreibung, Politik und Verbrechen sind Themen seiner engagierten Romane. Immer wieder kommt er auf die Geschichte und Entwicklung Guadalajaras zur zweitgrößten Stadt Mexikos zu sprechen, dies vor allem im gerade erschienenen Roman „Die Verschwundenen“. Hier sind das unkontrollierte Wachstum, die vorherrschende Korruption, Geldwäsche, Drogenkriminalität, Mord und Totschlag die zentralen Themen.

In „Die Verbrannten“, 2015 in der Übersetzung von Nora Haller erschienen, geht es um einen Brandanschlag auf Migrant*innen aus Zentralamerika im Süden Mexikos, dem mehrere Frauen, Kinder und Männer zum Opfer fallen. Die Protagonistin Irma ist mit der Aufklärung des Falles beauftragt, doch sie stößt schnell an ihre Grenzen. Niemand ist gewillt, den Massenmord aufzuklären. Eine Mauer des Schweigens umgibt die kriminellen Machenschaften der Behörden, der Polizei und des organisierten Verbrechens, die an einem Strang ziehen, um den Ärmsten der Armen den letzten Peso zu rauben. Aufklärung kann schnell zum Tod führen. Ortuño klagt an und entlarvt das menschenverachtende Geschäft mit dem Elend der Geflüchteten in Mexiko. Ein Bericht aus der Hölle.

Auch der zweite Roman „Madrid, Mexiko“ (2017) thematisiert Flucht und Exil, aber auch die Feindschaft zweier Familien über Generationen hinweg. Vom Madrid der 20er-Jahre über den Spanischen Bürgerkrieg und die Flucht der schließlich tödlich verfeindeten Freunde Yago und Benjamín nach Mexiko bis ins heutige Guadalajara und wieder zurück nach Spanien spannt Ortuño den Bogen. Yago ist Anarchist, Benjamín Stalinist und beide lieben sie María, die sich schließlich für Yago entscheidet. Politische Leidenschaften und verschmähte Liebe entzweien die beiden Freunde. In Veracruz und dann in Guadalajara versucht Benjamín seinen ehemaligen Freund zu töten. Der hat mittlerweile eine Familie gegründet und versucht selbst, Benjamín aus dem Weg zu räumen, was ihm schließlich auch gelingt. Der Roman aber setzt ein mit einem Doppelmord, der 1997 in Guadalajara von einem Unbekannten begangen wird und dessen Zeuge Yagos Enkel, der 19-jährige Omar Almansa, wird. Der hat ein Verhältnis mit seiner Chefin Catalina, die eigentlich mit dem korrupten Eisenbahngewerkschafter Mariachito zusammen ist. Die beiden sind die Opfer des Doppelmordes. Omar ist nun auf der Flucht vor Mariachitos gewalttätigem Handlanger, dem Concho, der in seiner Kindheit Opfer massenhaften sexuellen Missbrauchs wurde. Der Concho hat mit Mariachitos Tod seinen Boss und beschützenden Paten verloren, er gibt Omar die Schuld und will sich rächen. Nur knapp entgeht Omar in einem Einkaufszentrum einem Mordanschlag des Concho. Während der im Knast landet, flieht Omar nach Spanien, schließlich ist er noch im Besitz eines spanischen Passes, auch wenn der bald abläuft. 17 Jahre später trifft er in Guadalajara zufällig wieder auf den gerade aus dem Gefängnis entlassenen Concho. Omar befürchtet das Schlimmste, tritt die Flucht nach vorn an, stellt dem Concho eine Falle und tötet ihn.

In „Die Verschwundenen“ heiratet Aurelio Blanco, genannt Yeyo, in die Familie des korrupten Bau-unternehmers Carlos Flores ein. Dessen Lebens-werk ist ein Bauprojekt in Olinka, einem Terrain im Nordosten von Guadalajara, das er erschließen und bebauen lässt. Doch er hat sich verkalkuliert. Die Stadt wächst zwar schnell und in die Höhe, doch breitet sie sich eher Richtung Süden und Südwesten aus. Zudem hat Don Carlos sich das kommunale Gelände durch illegale Machenschaften angeeignet. Denn die Leute, die das Land einst bewohnten, wollten nicht verkaufen. „Er suchte, fand und bestach einen städtischen Kommissar, um sich Kaufverträge zu besorgen. Dann schmierte er ein paar Angestellte des Katasteramtes, die seine falschen Dokumente beglaubigten, und strengte einen Prozess an.“ Als auch das nicht fruchtet und noch immer zwei Familien in ihren Behausungen ausharren („Dieses Land hat immer uns gehört, Cárdenas hat es uns gegeben. Sie können uns nicht einfach fortjagen, als wären wir irgendwelche Scheißbauern.“), schickt er ein Killerkommando und lässt die Opfer verschwinden. Als Investoren hat er zudem Drogenkriminelle und Geldwäscher aus dem Norden gewonnen. Auch mit den Steuerbehörden gibt es bald Probleme und lokale Politiker*innen, auf die er jahrelang gesetzt hat, lassen ihn fallen, als die US-Behörden seine Investoren auf eine Schwarze Liste setzen.

Flores‘ Verbrechen und krumme Geschäfte werden ruchbar und in der Presse veröffentlicht. Ein Bauernopfer muss her, ein Strohmann, der im anstehenden Prozess die gesamte Schuld auf sich nimmt und Don Carlos so vor Strafverfolgung schützt. Dazu wählt er seinen naiven, ahnungslosen und ihm, dem Patriarchen, treu ergebenen Schwiegersohn Yeyo aus. Zwei Jahre Knast und dann als Gegenleistung eine fürstliche Entschädigung, so ködert Don Carlos seinen Buchmacher und Schwiegersohn. „Ich brauche wieder deine Hilfe, mein Junge. Noch ein Mal… Wir haben dir Alicia gegeben, die wir mehr als alles auf der Welt lieben. Merkst du was? Es ist ein ewiges Geben und Nehmen. Wir sind eine Familie.“ Und Yeyo, völlig überrumpelt, der bislang sein Glück und das gute, unbeschwerte Leben kaum fassen konnte, sagt ja. 15 Jahre wird er im Gefängnis sitzen, ohne dass sich der Flores-Clan um ihn kümmert oder gar anwaltlichen Schutz besorgt. Im Gegenteil, seine Frau lässt sich bald von ihm scheiden, seine Tochter bekommt er in all den Jahren nie zu Gesicht.

Im Gefängnis hat er sich bald eingelebt, er kommt zurecht, passt sich an. So sehr hat er sich an seine Zelle und Pritsche gewöhnt, dass ihm angst und bange wird, als er erfährt, dass er noch vor Weihnachten entlassen werden soll.

Doch noch immer hegt er Hoffnung, seine Frau liebe ihn, sein Schwiegervater zahle ihm die versprochene Entschädigung und seine kleine Tochter freue sich, nach 15 Jahren ihren Vater wiederzusehen. Die Stadt kennt er kaum wieder. Als er das Gefängnis hinter sich lässt, sieht er, „dass man gar nicht in die Stadt fahren musste: Sie war einem schon entgegengekommen… als sie auf die Umgehungsstraße einbogen und gen Westen fuhren, sah Blanco die unzähligen Baukräne. Dutzende von T-förmigen Bauelementen waren rund um im Bau befindliche Häuser in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung aufeinander getürmt. Häuser mit zwanzig oder dreißig Stockwerken, sehr viel höher als die, an die sich Blanco erinnerte.“ Gleich nach der Entlassung geht er zu den Flores, um all das einzufordern, was sie ihm schulden. Und da nehmen die Dinge ihren Lauf. Doch die sollen hier nicht vorschnell verraten, die Hochspannung bei der Lektüre des Romans soll nicht getrübt werden.

Yeyo erinnert in seiner Gleichgültigkeit und an Dummheit grenzenden Naivität an Omar aus „Madrid, Mexiko“. Beide lassen sich vom Reichtum und schnellen, großen Geld blenden, biedern sich der Welt der Reichen an und werden aus Sorglosigkeit zu Tätern und Mittätern. Als Antihelden bringen wir ihnen noch ein Quäntchen Sympathie entgegen, zumal sie letztendlich die Kurve kriegen und nicht völlig im Sumpf versinken wie ihre Gegenspieler*innen. In einem historischen Vergleich beschreibt Ortuño seinen Protagonisten Yeyo quasi als Sinnbild der Unterdrückten seiner Heimatstadt: „Es war ihm egal, dass er der Indio war, den man auf die andere Seite des Flusses verbannte. Denn so war Guadalajara entstanden: die Eroberer auf der rechten Seite des Rio San Juan und die Sklaven auf der linken. Es störte ihn auch nicht, dass er der unterwürfige Angestellte war, der den Chef sogar in der Art, sein Haus einzurichten, imitierte, der seine Seele verkauft hatte, um sich im Westen der Stadt niederzulassen und in einer schicken Villa ein ärmliches Leben zu führen.“

In seinem spannenden Thriller schildert Ortuño erneut die Verquickung von Politik und Mafia, Unternehmen und Verbrechen. Der Roman ist eine einzige Anklage der Zustände in Mexiko. Seiner Heimatstadt, der weißen Perle des Westens, hat Ortuño ein wenig schmeichelhaftes literarisches Denkmal gesetzt.