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Auch wir haben Ortega mit erschaffen

Gedanken zum 40. Jahrestag der Sandinistischen Revolution und zur Debatte um Solidarität

Mit dem 19. Juli jährt sich der großartige Triumph zum 40. Mal: Ein ganzes Volk stürzte, unterstützt von einer Guerillabewegung (oder war es umgekehrt?), mithilfe von Demonstrationen, Generalstreiks, Blockaden, Barrikadenbau und bewaffnetem Kampf die 42 Jahre andauernde Familiendynastie der Somozas und versuchte ein anderes Land aufzubauen.

Barbara Lucas
Klaus Heß

Die Somozas, das waren 42 Jahre Machtusurpation und Bereicherungsdiktatur. Im Jahr 1976 gehörten ihnen 346 Unternehmen in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft Nicaraguas und 30 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens, darunter Viehfarmen, Baumwoll-, Zucker- und Kaffeeplantagen. Die Familie kontrollierte Hafenanlagen, Brauereien, Zement- und Textilfabriken, Bauunternehmen, Versicherungen, die Fluggesellschaft und Schifffahrtslinie, eine Zeitung und eine Fernsehanstalt.

Die Somozas, das waren aber auch die Kompradorenbourgeoisie, Statthalter und einheimische Vermittler, die den ausländischen Kapitalinteressen halfen, um koloniale Strukturen aufrechtzuerhalten. Sie spielten eine zentrale Rolle in der Ausbeutung ihres Landes durch auswärtige Kapitalisten, zum Beispiel für den Marktzugang, die Nutzung billiger Arbeitskräfte und Ausplünderung der Rohstoffe und Bodenschätze und konnten sich dadurch auch selbst bereichern. Im Jahr 1978 unterhielten allein aus der BRD Bayer, Siemens, BASF und die AEG Niederlassungen im Lande. Daimler-Benz ließ seine Autos mit gutem Erfolg durch den Präsidenten Anastasio Somoza als Generalimporteur und Lizenzgeber persönlich zum gegenseitigen Vorteil vertreiben. Das neue Nicaragua sollte deshalb nicht nur die ungleiche Vermögensverteilung beseitigen, die durch die Bereicherung der Familiendynastie entstanden war, sondern auch die neokoloniale Zurichtung als Agrarexporteur, Warenmarkt und Billiglohnland beenden. Mit der Enteignung der großen Ländereien sollte die Basis für eine Selbstversorgung, Weiterverarbeitung von Rohstoffen und Importsubstitution geschaffen werden.

40 Jahre später sieht sich Staatspräsident und Parteivorsitzender Daniel Ortega als einzig legitimer Vertreter dieser Sandinistischen Revolution und Garant für sozialen Fortschritt. Entgegen dieser Rhetorik basiert sein Wirtschaftsprogramm aber auf dem Bündnis mit den großen Unternehmen, dem Zugang ausländischen Kapitals zu Direktinvestitionen, der Ausplünderung der Biosphäre, Ausweitung von Monokulturen für Zucker, Soja, Ölpalme und Agrosprit, Vertreibung von Kleinbauern und indigenen Gemeinden; sein patriarchal-konservatives Bündnis mit der Kirche bringt den Frauen die Verweigerung ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte; die Verteilungsmechanismen für Sozialprogramme, Ressourcen, Arbeitsplätze, Bildungs- und Karrieremöglichkeiten sowie Machtzugang sind parteilich-familiär und klientelistisch geregelt.

Auf der anderen Seite steht eine Protestbewegung, die die Werte der Sandinistischen Revolution, Menschenrechte, demokratische Freiheiten, soziale Teilhabe, als „Recht auf ein Leben in Würde“ aufgegriffen hat und mit veränderten Parolen – patria libre y vivir! – gegen die Machtusurpation der Regierung wendet. Der Widerstand, der bis 2018 nur von der organisierten Zivilgesellschaft und den sozialen Bewegungen getragen wurde, ist jetzt zur Mehrheit geworden. Wieder geht es um Menschenrechte, Verteidigung der Demokratie und Kampf gegen sozialen Ausschluss.

So wie mit den Studierenden neue Akteure in Nicaragua auf den Plan getreten sind, hat sich auch in Deutschland eine Solidaritätsbewegung neu gebildet beziehungsweise eine alte reaktiviert. Das Informationsbüro Nicaragua positioniert sich an der Seite der Demokratiebewegung, weil die Auseinandersetzung gegen Machtusurpation, für Demonstrations- und Meinungsfreiheit und breite Partizipation bei den Entscheidungen über die Zukunft des Landes für uns genauso wichtig und richtig ist wie die sozialen Belange, für die unsere Partnerorganisationen ja schon seit Jahren ihren Kopf hinhalten.

Viele alte Mitstreiter*innen sind wieder aktiv geworden und engagieren sich für eine Sache, die in den 80er-Jahren die ihre war. Gleichzeitig aber haben sich in vielen deutschen Städten neue Solidaritätsgruppen von nicaraguanischen Studierenden unter dem Namen „SOS Nicaragua“ gebildet, die mit der „traditionellen Solidaritätsbewegung“ zusammenarbeiten wollen. Aus dieser Dynamik heraus entstehen neue Bedürfnisse nach Austausch und Vernetzung, nach Lobby- und Menschenrechtsarbeit. So hat es nach langer Pause seit Beginn der Proteste wieder vier Netzwerktreffen gegeben. Hier ist ein Netzwerk von etwa 20 Gruppen entstanden, auf Grundlage der klaren Verurteilung der Repression der Ortega-Regierung. Deshalb stehen Aktivitäten zur Verteidigung der Menschenrechte, Advocacy (anwaltschaftliche Arbeit) und Informationsarbeit im Moment im Vordergrund, wie etwa die Aktionen zum 10. Dezember 2018, dem Tag der Menschenrechte. Da die Entwicklung in Nicaragua für die Debatte über notwendige gesellschaftliche Transformationen eine Zäsur bedeutet, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier bei uns, setzten wir mit einer großen Konferenz in Berlin in verschiedenen Panels Themen auf die Tagesordnung wie die Bedeutung der Demokratie angesichts neoliberaler Wirtschaftsentwicklung und totalitärer Tendenzen, die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Kämpfe und die Rolle des Staates, die Rolle der Medien/des Internet und der Kampf um ihre Demokratisierung und für unabhängige Berichterstattung, die Kämpfe der Frauenbewegungen und der Feministinnen für Selbstbestimmung bis hin zu Gleichberechtigung in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, die Kämpfe um Zugang zu Land, Bildung und Gesundheitsversorgung, die Ideale von Souveränität, Gemeinwohlorientierung, Ernährungssicherheit, Gerechtigkeit, Inklusion und dem Schutz unseres Planeten. Nicaragua zeigt, dass es in keiner Weise einfacher ist, dies gegen eine Regierung zu erkämpfen, die sich auf linke Rhetorik und Gewalt stützt.

Eine langjährige Bekannte sagte neulich: „Nicaraguasolidarität ist doch ein Generationenprojekt für unsere Generation.“ Ähnlich äußerte sich Ursula Schulz, Wuppertaler Bürgermeisterin und langjährige Honorarkonsulin Nicaraguas vor zwei Wochen, als sie sinngemäß sagte, dass die jungen Leute in der SPD heute kaum noch wissen, wo Nicaragua liegt, und es schon gar nicht mit revolutionären Utopien in Verbindung bringen. Ja, es gibt eine Art Rentner*innenclub in der heutigen Solidaritätsbewegung! Das Gute daran ist, dass wir viel Zeit für politischen Aktivismus haben und dass wir in all den Jahren viel gelernt haben. Nicaragua war für unsere Generation der Ansatzpunkt für Internationalismus, so wie es für die vorangegangene Generation die Verteidigung der spanischen Republik gegen den Faschismus gewesen sein mag. Wir wollen das Gelernte einbringen in die neue Bewegung, die seit dem April 2018 entsteht und in der auch viele Jüngere ihren Platz gefunden haben.

Kaum jemand aus der „alten“ Solidaritätsbewegung  hat sich vorstellen können, dass das Regime Ortega/Murillo mit derart brutaler Repression gegen die Protestierenden vorgehen und Nicaragua in einen Polizeistaat verwandeln würde. Dies ist das Ende eines Prozesses, der schon seit vielen Jahren autoritäre Regierungsformen und machtorientierte Bündnisse mit neoliberaler Wirtschaftspolitik und Korruption verbindet und der zur Familiendiktatur der Ortega/Murillos geführt hat, die der Familiendiktatur der Somozas um nichts nachsteht. Umso dringlicher ist der kritische Rückblick.

Yerling Aguilera von der CUDJ (Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit) und Dani Rodríguez Moya vom Komitee SOS Nicaragua in Granada/Spanien sagten vor einem Jahr, dass der größte Widerstand in Europa gegen eine klare Verurteilung von Ortega aus den Reihen der ehemaligen Solidaritätsaktivist*innen komme, da diese ihre eigenen positiven Erinnerungen nicht antasten und mit ihren romantischen Ideen von Revolution nicht brechen wollen. Es ist fürwahr bitter, von heute aus auf Aspekte zu schauen, die wir lange Zeit nicht in den Blick genommen haben oder die in Vergessenheit geraten sind. Tröstlich ist, dass wir noch da sind, um aus den Versäumnissen zu lernen und offener als früher mit unseren alten Compañerxs und mit den jungen Nicas darüber zu sprechen, mit Blick auf die heutigen Kämpfe. Um ein paar Gedankensplitter zur Debatte darüber beizutragen, wollen wir vier Aspekte ansprechen:

1. Das sandinistische Projekt und die FSLN

2. Bildung und Indoktrinierung

3. Selbstermächtigung und politische Freiheiten

4. Die Ortega-Regierung als Produkt neokolonialer Strukturen

Das sandinistische Projekt sozialer und politischer Veränderung wurde in den 80er-Jahren meist gedacht als Einheit von FSLN, Kontrolle der Staatsmacht und kämpfenden Massen. Obwohl aus der Solidaritätsbewegung schon früh Kontakte zu Massenbewegungen und lokalen und regionalen Strukturen hergestellt wurden, stand in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre die Verteidigung der Revolution gegenüber den Angriffen der USA und der von ihnen finanzierten Contra im Mittelpunkt. Bei den inneren Widersprüchen der Revolution wurde selten gefragt, wo diese institutionell abgesichert ausgetragen werden sollten. Zivilgesellschaftliche Organisierung war nicht vorgesehen. Die dafür notwendige Autonomie von der FSLN erkämpften sich erst die Frauengruppen. In vielen Fällen wurden mehr die utopischen Bilder der Revolution und die Chance auf ein neues Gesellschaftsmodell verteidigt als die Wirklichkeit, die in vielen Aspekten nicht grundlegend verändert worden war. Die Parole Dirección nacional ordene gegenüber der Parteiführung („Nationale Führung befiehl!”) ließ uns erschaudern, aber wir hatten auch kein Gegenüber, mit dem wir den hier angelegten Paternalismus und Vertikalismus hätten diskutieren können. Die Kontakte zu den zuständigen Stellen waren ohnehin nicht von einer Diskussionskultur auf Augenhöhe gekennzeichnet, eher gingen unsere GesprächspartnerInnen bei der FSLN, den Regierungsstellen oder in der Leitung der Massenorganisationen davon aus, dass sie uns ihre Analyse der Lage und die sich daraus ergebenden Aufgaben vermitteln würden. So hatten wir wenig Einblick in die Strukturen der FSLN und interne Diskussionen, von denen wir aber glaubten/hofften, dass sie existierten. Erst viel später mussten wir feststellen, dass es keinerlei institutionalisierte Diskussionskultur in der FSLN gab, höchstens in einer kurzen Phase vor der Spaltung 1994. Und dass auch hochgelobte Einrichtungen wie die Ethikkommission der FSLN eher für Propagandazwecke gut waren als für irgendeine Art von interner Kontrolle. So kam es, dass wir uns noch im letzten Jahr fragten, ob es denn keine Parteibasis innerhalb der FSLN gebe, die sich gegen die brutale Repression zur Wehr setzen und massenhaft austreten beziehungsweise Ortega absetzen werde.

Silvio Prado, der früher in der Abteilung für internationale Beziehungen der FSLN arbeitete, zeichnete bei der Kölner Konferenz „Lateinamerika im Fokus” den Weg der FSLN von einer militärischen Struktur mit hohen ethischen Ansprüchen an das Verhalten ihrer Mitglieder zu einem Machtzirkel um das heutige Präsidentenpaar nach und belegte, dass die FSLN nur eine sehr kurze Phase von drei Jahren hatte, in der es ansatzweise partizipative Strukturen gab und wo an programmatischen Fragen gearbeitet wurde.

Schon 1996 veröffentlichte das Infobüro Nicaragua einen Beitrag von Sofia Montenegro, einer der Vordenkerinnen der feministischen Bewegung in Nicaragua, in dem sie Strukturen, Programm und Praxis der FSLN untersucht und zu dem Schluss kommt, dass sie keine revolutionäre Partei sei, da intern weder partizipative Strukturen gäbe noch ein Miteinander unter Gleichen garantiert sei, das die politische und persönliche Emanzipation der Mitglieder ermögliche, sondern stattdessen Kontrolle und Gewalt die zentralen Mittel der Politik nach Innen und Außen darstellten.

So ist das Staatsverständnis der Führung der FSLN von Anfang an ein paternalistisches gewesen. Die Bürger*innen waren eher Untertan*innen denn teilhabeberechtigte Citoyens (Ciudadanxs) und so war der Weg geebnet für den Caudillismo, der sich mit der Machtzunahme von Daniel Ortega mehr und mehr durchsetzte. Aber wie der uruguayische Autor Raúl Zibechi zu Recht im März 2019 bei einer Veranstaltung in Madrid sagte, ist das nicht nur individuelles Versagen, sondern liegt auch mit in unserer Verantwortung: „Daniel Ortega kommt aus unseren Reihen und wir haben ihn mit erschaffen, daher ist es notwendig, auf unsere politische Kultur und darauf, was sie hervorbringt, zu schauen, statt das Phänomen zu individualisieren.”

Vor diesem Hintergrund ist die neue politische Kultur des Widerstandes und der Protestierenden in Nicaragua zu verstehen. Besonders die Studierenden und junge Menschen wollen keine Parteien und keine Paktiererei mehr, Politik und Ideologien sind delegitimiert, sie fordern Transparenz und Rechenschaftspflicht, die Parole lautet „Nur das Volk rettet das Volk”, es entwickeln sich kollektive Führungsstrukturen, was sich in jeder Pressekonferenz und in der Bildung des Sprechergremiums der UNAB zeigt. Auch deshalb wird die Alianza Cívica, die die Verhandlungen mit der Regierungsdelegation von Ortega führte, so stark kritisiert, da sie eben durch keinerlei demokratisches Mandat abgesichert wurde.

Die Bildungspolitik der sandinistischen Revolution gehört neben der Gesundheits- und Kulturpolitik und der Agrarreform zu ihren Aushängeschildern. Christian Helm hat in seinem Buch „Botschafter der Revolution. Das transnationale Netzwerk zwischen der FSLN und der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität 1977-1990” die Konstruktion der Leitbilder der gesellschaftlichen Transformation zwischen Sandinisten und Solidaritätsbewegung detailreich untersucht und beschrieben, wie diese Bilder uns geprägt haben. Unsere Wahrnehmung der sandinistischen Bildungspolitik war lange Zeit durch die Ideale und Utopien der Alphabetisierungskampagne geprägt und von den Bildern unzähliger junger Menschen, die von der Stadt aufs Land zogen, um dabei mitzumachen. Die Bildungspolitik sollte die gesellschaftliche Transformation mit vorantreiben und ermöglichen, dass sich die große Masse der Benachteiligten als neues historisches  Subjekt am Aufbau der neuen Gesellschaft beteiligt. Diese Vorstellung ging auf Che Guevaras Ideal des „Neuen Menschen” zurück und sollte umgesetzt werden mit der Pädagogik der Befreiung, die Paulo Freire in Brasilien und Chile entwickelt hatte. Lernen sollte zu Selbstermächtigung führen. Daher sollte nicht mehr vorgefertigtes Wissen in die Köpfe „eingetrichtert”, sondern die spezifischen Erfahrungen des Einzelnen zum Ausgangspunkt für handlungsorientiertes Lernen gemacht werden. Der aufopfernde Beitrag des Einzelnen zur kollektiven Transformation wurde zur moralischen Maxime.

Doch wer entschied über die Ziele des gesellschaftlichen Wandels und die zu fordernden Opfer? Widersprüche traten gleich zu Anfang in den indigenen Gemeinschaften der Atlantikküste auf, die nicht mit den vorgefertigten Materialien alphabetisiert werden wollten. Auch die politische Agitation für mehr Produktivität stieß dort auf Widerstand, wo keine individuellen Landtitel der Agrarreform vergeben wurden. Spätestens mit der Verabschiedung der allgemeinen Wehrpflicht und den gewaltsamen Zwangsrekrutierungen stieß die Agitation an ihre Grenzen. Von Selbstermächtigung sprachen oft nur die damaligen Erziehungsminister Carlos Tünnermann und Fernando Cardenal.

Vor kurzem sprachen wir mit Dr. Ernesto Medina, heute Mitglied der Alianza Cívica und lange Zeit Universitätsrektor in León und Managua, der genau diesen Aspekt betonte und auf die großen Aufgaben hinwies, die in der Bildungspolitik anstehen. Nach seinen Worten hatte das Bildungssystem quantitativ große Erfolge zu verzeichnen, aber qualitativ fand kaum eine auf Emanzipation ausgerichtete Umgestaltung statt, weder was die Erarbeitung der Inhalte anging noch die Lehrer*innenausbildung. Zentrale  Zielsetzung  blieb immer, Arbeitskräfte für die Wirtschaft des Landes auszubilden. Für eine kritische, umfassende Bildung junger Menschen oder gar eine kritische Erwachsenenbildung blieb da kaum Raum. Auch der Beruf der Erzieher*innen, Lehrer*innen und Pädagog*innen wurde nie entsprechend ihrer gesellschaftlichen Relevanz aufgewertet.

Vor diesem Hintergrund entwickelte die Regierung, vor allem Vizepräsidentin Rosario Murillo, ihre Propaganda- und Agitationskampagnen, die reine Indoktrinierung sind und mit Bildung nicht mehr das Entfernteste zu tun haben. Öffentliche Kindergärten, Schulen und Universitäten werden für parteipolitische Propaganda missbraucht. Der Zugang zu Stipendien und damit zu kostenloser weiterführender Bildung ist an Loyalität gegenüber der FSLN gekoppelt. Und auch über alle Medien, die in den Händen der Familie Ortega liegen oder FSLN-nah sind und die durchaus einen Bildungsauftrag haben, wird beständig die gleiche Indoktrinierung wiederholt.

Umgekehrt werden Andersdenkende von Bildung ausgeschlossen, wie im letzten Jahr die protestierenden Studierenden, die zwangsexmatrikuliert und deren sämtliche Noten aus den Unterlagen der Universitäten gelöscht wurden.

Mit dem unangefochtenen Führungsanspruch der Dirección Nacional in der FSLN war nicht nur eine unhinterfragte linke und patriarchale Kultur verbunden, sondern auch die Vorstellung, dass die größtmögliche Einheit Garant für die Verteidigung der revolutionären Errungenschaften gegenüber den Angriffen des Imperialismus sei. Somit konnte autonome Organisierung von gesellschaftlichen Gruppen nur in Widerspruch und in Ablösung zur FSLN geschehen. Dieser Impuls ging schon in den 80er-Jahren bewusst von Frauengruppen aus, die sich autonom organisierten, mit dem Ziel, Herrschaftsmechanismen auf allen Ebenen infrage zu stellen, zu bekämpfen und zugleich geschütze Räume für Frauen zu schaffen. Die ersten unabhängigen Frauengruppen waren die Vorreiter zivilgesellschaftlicher Organisierung in Nicaragua und trugen über die Jahre als Bewegung dazu bei, ein anderes Modell von politischer Aktivität zu entwickeln.

Über lange Zeit kämpften die verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen, wie die städtische Bewegung gegen Korruption und Wahlbetrug, die Anti-Kanal-Bewegung der Campesinos, die Bewegung der Indígenas für autonome Rechte, die Umweltbewegung und die Frauenbewegung jeweils für ihre spezifischen Belange und darüber hinaus für das Recht auf Artikulation. Die Repression der Regierung war selektiv und effektiv. Erst die Proteste der Studierenden vom April letzten Jahres hatten eine Katalysatorfunktion, weil sie sich allgemein gegen Manipulation und Machtusurpation wehrten. Diese ersten Proteste richteten sich auch gegen die Scheinheiligkeit und Verlogenheit der Regierung, die in internationalen Gremien wie dem Green Climate Fund führend vertreten ist, in Wirklichkeit aber nichts zum Klimaschutz oder zum Schutz der Naturreservate beiträgt. So steht der Beginn der Proteste in einer Linie mit den Protesten von jungen Menschen überall auf der Welt gegen die mangelnde Bereitschaft der Eliten und Politiker*innen, den Klimawandel, die Systemkrise, das Wachstumsdogma oder die Repräsentationskrise entscheidend anzupacken.

Die Ortega-Murillo-Regierung in Nicaragua ist aber auch ein Produkt der neokolonialen Strukturen und wird durch die traditionellen Beziehungen zwischen globalem „Norden” und „Süden” bestimmt. So wie sich die Somozas trotz augenfälligen Terrors 42 Jahre an der Macht halten konnten, weil sie in den Unternehmen und Regierungen des globalen „Nordens” ihre Stütze hatten, so würde es auch zu kurz greifen, nur die persönliche Bereicherung und Machtusurpation von Ortega/Murillo zu kritisieren. Ortega bedient die Interessen der Internationalen Finanzinstitutionen, indem er seit den 90er-Jahren die Strukturanpassungsmaßnahmen und die Privatisierungen der wichtigsten Infrastrukturbereiche Telekommunikation, Wasser und Energie mitträgt, die von der Europäischen Union und den USA durchgesetzten Freihandelsverträge unterzeichnet beziehungsweise mit umsetzt. Im „Nationalen Entwicklungsplan Nicaraguas” wird Armutsbekämpfung mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt. Dieses Wirtschaftswachstum soll durch Steigerung der Agrarexporte und Monokulturen, Ausbeutung der Rohstoffe, Bergbau und extraktive Industrien und ausländische Direktinvestitionen, insbesondere der europäischen und US-Unternehmen, geschehen. Die Bundesregierung hat den reichsten Unternehmer Nicaraguas, Herrn Pellas, mit 40 Millionen Euro unterstützt, um seine Zuckerrohrflächen für unseren Agrosprit produktiver auszubauen.

Internationalistische Solidarität heißt für uns also auch, die Strukturen hier zu verändern, die solche Regierungen befördern, die EU-Freihandelspolitik gegenüber Mittelamerika anzupacken, die europäischen Agrarexportsubventionen, unsere „imperiale Lebensweise”, die einen dreifachen Flächenverbrauch hat und nicht ohne Agrosprit- und Futtermittelimporte aus Mittelamerika auskommt. Internationalistische Solidarität heißt, globalisierungskritische Bewegungen in Nicaragua zu unterstützen, gemeinsam für Klimagerechtigkeit zu kämpfen, Ernährungssouveränität für die Kleinbäuer*innen und Produktionsmöglichkeiten für kleine Betriebe gegen den internationalen Handel und neokoloniale Strukturen/Regierungen durchzusetzen.

Generell brauchen die Proteste politische Freiheiten, die das nicaraguanische Regime bis heute verweigert, sei es Organisationsfreiheit, Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit. Alle politischen Freiheiten sind dramatisch eingeschränkt und unter diesen Bedingungen ist politische Organisierung nur unter größten Schwierigkeiten möglich. Sie solidarisch zu begleiten, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen und sie materiell und organisatorisch zu unterstützen, ist das Gebot der Stunde.