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Cuidadoras universales – Frauen garantieren das Überleben

Venezolanerinnen in der bolivarianischen Revolution und der aktuellen Krise

Seit fünf Jahren erlebt Venezuela eine wirtschaftliche Krise, die schwere Auswirkungen auf den Alltag der Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben in all seinen Dimensionen hat. Die herrschende Hyperinflation schränkt den vorher schon schwierigen Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten noch weiter ein, das Einkommen der Arbeiter*innen löst sich in nichts auf, die Strom-, Wasser- und Gasversorgung sowie das Transportwesen sind kurz vor dem Kollaps – in manchen Gegenden gibt es sie schon nicht mehr. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass manche Dörfer und Stadtteile wieder wie im 19. Jahrhundert leben. Viele Venezolaner*innen haben deswegen das Land verlassen, überwiegend in Richtung lateinamerikanischer Nachbarländer. Schätzungen gehen von vier Millionen Menschen aus. Die meisten, die das Land verlassen, sind jung und gut ausgebildet, was die Probleme noch verschärft. Die Krise betrifft Frauen am stärksten, zugleich unternehmen sie die größten Anstrengungen, um das soziale Überleben zu gewährleisten.

Alba Carosio

Während des gesamten bolivarianischen Prozesses waren Frauen die großen Protagonistinnen, von den sozialen Errungenschaften der ersten Etappe ebenso angezogen wie von Hugo Chávez‘ eigenem Aufruf. Wie bei allen historischen Veränderungen, die auf der Welt stattfinden, beteiligten sich die Venezolanerinnen aktiv an den sozialen Transformationsprozessen und veränderten sich dabei auch selbst.

Die Bolivarianische Revolution bezeichnete ihr Begründer Chávez als feministisch. Er stellte fest, dass eine egalitäre Gesellschaft ohne die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen nicht möglich ist. „Ohne Feminismus gibt es keinen Sozialismus“, hieß ein Slogan. Chávez erklärte in seiner Sendung am 8. März 2009: „Ohne eine echte Befreiung der Frau ist die Befreiung der Völker unmöglich. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein echter Sozialist auch ein echter Feminist sein muss.“ Er verstand, dass die Unterdrückung vielfältig ist und dass eine gerechte Gesellschaft gleichzeitig soziale, genderspezifische und ethnische Gleichstellung voraussetzt.

Während der Amtszeit von Chávez wurden Gesetze verabschiedet und Institutionen gegründet, welche die Rechte der Frauen stärken. Darunter das Gesetz für das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt, die verfassungsmäßige Anerkennung von sexuellen und reproduktiven Rechten und die Ausweitung des Mutterschutzes für Arbeiterinnen auf sechs Monate. Es wurden Institutionen wie spezielle Gerichte und Staatsanwaltschaften für Verfahren von Gewalt gegen Frauen, das Frauenministerium, die Entwicklungsbank für Frauen und die Verteidigungsstelle für Frauenrechte gegründet.

Tatsächlich erhöhte sich die Sichtbarkeit und Teilhabe von Frauen am sozialen Leben; diejenigen, die sich ausschließlich der Familie und dem Privatleben widmeten, wurden zurückgelassen. Die Venezolanerinnen nahmen die Rolle der Kämpferinnen für eine gerechtere Gesellschaft an, zu der sie der bolivarianische Prozess aufrief. Sie wurde als Ausweitung ihrer Tätigkeit als Hausfrau und Versorgerin (cuidadora) gesehen, jetzt kümmerte sie sich zusätzlich um die ganze Gesellschaft (cuidadora universal). Frauen strömten in die kommunalen Organisationen, sie stellten die Mehrheit in den runden Tischen der Wasserversorgung, den Kommunalen Räten (Organe der Nachbarschaftsversammlungen) und den Misiones (Basisorganisationen in Bereichen wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Betreuung von Obdachlosen, Alten und alleinstehenden Müttern, Berufsbildung). Frauen steckten viel Zeit und Kraft in Tätigkeiten, die dazu dienen sollten, das Leben ihrer Umgebung zu verbessern, sie waren die großen Multiplikatorinnen der sozialen Solidarität. Damit wurde die Behauptung, die Revolution sei weiblich, zum Gemeinplatz.

Die soziale Partizipation der Frauen, verstanden als Erweiterung der patriarchalen Bestimmung der Frau, indem sie jetzt nicht nur für das Wohlergehen der Familie, sondern der ganzen Gesellschaft zuständig war, wurde bei vielen Gelegenheiten vorrangig behandelt. Sie wurde über eine Stärkung der sexuellen Rechte gestellt, über die Autonomie über den eigenen Körper, über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, über die Einführung von Maßnahmen zur Unterstützung von Arbeiterinnen. So blieb die sexuelle Arbeitsteilung ohne große Veränderungen. Das gemeinschaftliche Leben beruht auf der Arbeit der Frauen. In diesem kulturellen Kontext tragen die Frauen als fast allein zuständige Verwalterinnen des alltäglichen Lebens, als cuidadoras universales, die Hauptbürde der Krise.

Der Zusammenbruch der öffentlichen Dienstleistungen hat die Aufgabe des (Über-)Lebens so sehr verkompliziert, dass den Frauen weder Kraft noch Zeit bleibt für feministische Treffen oder Aktionen, also für die eigentliche politische Arbeit. Es ist sehr schwer für die venezolanischen Frauen, Zeit für etwas anderes als das Überleben ihrer Familie und die konkrete Gemeindearbeit zur Deckung der Grundbedürfnisse zu finden. Beispielsweise ist die Verteilung der staatlich geförderten Lebensmittelversorgung CLAP (Lokale Räte für die Versorgung und Produktion), die Grundnahrungsmittel an sechs Millionen Familien verteilt, zu 90 Prozent die Arbeit von Frauen. Eine Arbeit ohne jede Bezahlung in einer Basisorganisation, die diese Grundnahrungsmittel einmal im Monat abholt und verteilt. Es sind Frauen, die die Lebensmittelkisten als Straßen- und Gemeindebeauftragte nach vorgegebenen Regeln verteilen. Ohne diese Arbeit wäre das Programm nicht durchführbar.

Andere wichtige Aufgaben, die komplett auf den Schultern der Frauen liegen, sind die Sicherstellung der Arbeit der Gesundheitszentren und Krankenhäuser (u.a. durch eine Art Frühwarnsystem) sowie das Eingreifen in kritischen Fällen vor allem rund um die Geburt. Die Nationale Frauenunion hat ein Netz von Sprecherinnen ausgebildet. Mit dem System für eine humanere Geburt versuchen sie, die erschreckend angestiegene Mutter- und Kindersterblichkeit bei den Geburten zu senken. Sie kümmern sich um schwangere Frauen, die sich weder ausreichend ernähren noch auf die Geburt vorbereiten können, da es an allem fehlt, und versuchen das Stillen mit Muttermilch sicherzustellen. Diese promotoras erhalten eine winzige Aufwandsentschädigung für diese gemeinnützige Arbeit. Leider ist die Zusammenarbeit zwischen dem System für eine humanere Geburt und dem Gesundheitssystem sehr schwierig. Die Verantwortung bei der Geburt liegt immer noch bei den Ärzt*innen, denen aber die Verbrauchsmaterialien fehlen und die oft wenig Sensibilität zeigen. Im traditionellen Kontext kommt zudem immer wieder Gewalt bei der Entbindung vor.

Die sexuellen und reproduktiven Rechte werden zurzeit überall in Venezuela missachtet. Es gibt kaum Verhütungsmittel, weil zum einen das öffentliche Gesundheitswesen kaum noch welche verteilen kann und zum anderen der private Kauf überaus teuer geworden ist. Und selbst wenn eine Frau es schafft, sich die Spirale etwa beim öffentlichen Gesundheitsdienst einsetzen zu lassen, bleibt sie trotzdem sexuell übertragbaren Krankheiten ausgesetzt. In einigen Landesteilen sind die Fälle sexuell übertragbarer Krankheiten extrem angestiegen, es gab sogar Säuglinge mit angeborener Syphilis. Weil Präservative für die ärmeren Bevölkerungsteile unerschwinglich geworden sind, gibt es viel mehr ungewollte Schwangerschaften unter extremen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Das führt zu Vernachlässigung und schlechter Ernährung während der Schwangerschaft, was wiederum Auswirkungen auf die Geburt und das Neugeborene hat.

Der Zugang zu Wasser, sanitärer Grundversorgung und Hygieneartikeln ist in den letzten Jahren immer schwieriger geworden – sowohl in den ländlichen Regionen als auch in den Städten. Im Allgemeinen erhalten die Haushalte immer nur zu bestimmten Zeiten Wasser: wenn es gut läuft, einmal pro Woche. Unter diesen Umständen ist sowohl die Körperpflege als auch das Waschen, Putzen und Kochen wesentlich komplizierter geworden. Und es sind vor allem Frauen, die das zugeteilte Wasser verwalten. Erschwert wird die Situation dadurch, dass Hygieneartikel wie Seife, Spül- oder Waschmittel für normale Familien unerschwinglich geworden sind. Venezolanische Frauen haben gelernt, auf Monatsbinden und Wegwerfwindeln zu verzichten. Das ist zwar gut für die Umwelt, aber es kostet Frauen unter den Umständen der extremen Wasserknappheit viel Zeit und Kraft.

Der Kauf und die Zubereitung von Lebensmitteln sind für die Venezolanerinnen zu einem Ganztagsjob geworden. Es ist sehr zeitintensiv, Lebensmittel zu bekommen, weil frau lange anstehen muss, weil sie bei einer Kooperative für Einkäufe oder bei der CLAP mitmacht. All das ist in der Regel Frauenarbeit. Dazu kommen die Sorge und die Anspannung, mit immer weiter schwindenden Mitteln immer teurere Lebensmittel zu erwerben. Eine Methode, Geld zu sparen, ist, mehr Lebensmittel selbst zuzubereiten, beispielsweise Brot backen, Käse selbst herstellen und Essen aus Getreide, Körnern oder Bohnen kochen. Es ist eine Unzahl von Rezepten im Umlauf, wie frau mit weniger und kostengünstigeren Zutaten kochen kann. Alle diese alternativen Rezepte brauchen viel mehr Zubereitungszeit. Dazu kommt, dass in vielen Regionen das Haushaltsgas nicht mehr zur Verfügung steht, das heißt, sie müssen mit Holz kochen. Und da auch die Kühlschränke wegen der nur zeitweisen Stromversorgung nicht durchgehend kühlen, müssen die Frauen öfter und anders einkaufen.

Der Transport ist ein weiteres drängendes Problem. Der Großteil aller Fahrzeuge wurde stillgelegt, weshalb der Weg zur Arbeit oder zur Uni für die meisten kaum zu schaffen ist. Für Frauen ist es noch schwieriger, weil sie zu Hause ein zweiter Arbeitstag erwartet. Das führt dazu, dass viele, vor allem Mädchen und Frauen, nicht mehr zur Schule oder zur Uni gehen. Das beschränkt ihre persönlichen und beruflichen Zukunftsaussichten enorm.

Auch die Emigration ist für Frauen ungleich gefährlicher. Obwohl keine offiziellen Zahlen vorliegen, wissen wir, dass der Anteil an Männern und Frauen, die auf der Suche nach besseren wirtschaftlichen Bedingungen die Grenze überqueren, ungefähr gleich ist. Und dabei stoßen wir auf eins der schwerwiegendsten Probleme der Venezolanerinnen: die Zunahme des Frauenhandels und die Verschlechterung der Zustände in der Prostitution. Dabei sind die Jüngsten am meisten betroffen. Wir haben die Reportagen von jungen Frauen gesehen, die auf die karibischen Inseln, nach Kolumbien, Peru, Mexiko und bis nach Europa gebracht wurden oder gegangen sind. Immer wieder gibt es in der Presse Berichte über die Schicksale dieser Frauen, die oft mit dem Tod enden. Die Armut, die extreme Not, das junge Alter, die fehlenden Dokumente (viele Venezolaner*innen haben keinen Pass, der wie ein Visum für das Zielland sehr schwer zu bekommen ist) und sogar die immer wieder beschworene Schönheit der Venezolanerinnen machen viele von ihnen äußerst verwundbar.

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass es die venezolanischen Frauen sind, die sich in dieser extremen Krise den Herausforderungen bei der Bewältigung des Alltags stellen. Sie tragen Verantwortung und unternehmen größte Anstrengungen, um das Überleben zu ermöglichen.

Trump und andere Wortführer der USA haben immer wieder gesagt, es lägen alle Optionen auf dem Tisch, aber die Bevölkerung Venezuelas ist für den Dialog und eine friedliche Lösung. Norwegen hat einen Dialog zwischen der Regierung und der Opposition angestoßen. Darauf setzen wir unsere Hoffnung, auch wenn die Regierung die Gespräche Anfang August wegen der Verschärfung der US-Blockade zeitweilig ausgesetzt hat. In der venezolanischen Bevölkerung haben sich Mikrodialoge entwickelt, aus der Not geboren, um konkrete Probleme zu überwinden.

Venezuela hat seit dem 19. Jahrhundert keinen Krieg mehr erlebt, und das möchten wir beibehalten. Wir wissen, dass ein ernsthafter Dialog schwierig ist, dass es extreme Einmischung und maßlose Interessen von außerhalb gibt. Wir, die in Venezuela leben, fürchten um das Leben, so wie wir es kennen. Wir wissen, dass jeder Krieg Zerstörung und Wunden verursacht, deren Heilung und Wiederaufbau Jahrzehnte dauert. Die Solidarität der Völker Lateinamerikas und der Welt tröstet uns und gibt uns Kraft. Wir arbeiten für den Frieden, denn er ist die unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau einer gerechteren und weniger ungleichen Gesellschaft, für die wir uns einsetzen.

 

Alba Carosio ist eine chavistische Feministin und Publizistin • Übersetzung: Laura Held