ila

Vom Rutschen in den freien Fall

Kapitalflucht und Sanktionen schubsen kräftig mit

Für die Krise in Venezuela werden Sanktionen mitverantwortlich gemacht, welche die USA und auch die EU seit 2017 über venezolanische Regierungsbeamte, Funktionäre und Unternehmer verhängt haben. Von verschiedenen Seiten wird beanstandet, dass diese Maßnahmen eine wirtschaftliche Erholung des Landes behinderten und vor allem zu Lasten der Armen und Schwachen gingen, während die Verantwortlichen der Krise die Folgen der Sanktionen umgehen könnten. Der venezolanische Ökonom Manuel Sutherland hat die Situation aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Er analysiert zunächst die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre und untersucht anschließend die Beziehung zwischen dieser und den Sanktionen. Dabei kommt er zu einem klaren Ergebnis.

Manuel Sutherland

Eine Studie zu erstellen, die das komplexe Thema der Wirtschaftssanktionen gegen die venezolanische Regierung zusammenfasst, ist dringend notwendig. Dabei besteht die zentrale Schwierigkeit darin, diese Untersuchung inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise durchzuführen, die die Nation in ihrer Geschichte erlebt hat. Venezuela hat nie zuvor einen gesamtwirtschaftlichen Kollaps solchen Ausmaßes erlebt. Die konservativsten Schätzungen sprechen von einem Rückgang der Produktion um 50 Prozent in den Jahren 2013 bis 2018.

Die Prognosen für 2019 sind noch schlechter. Aufgrund der gravierenden Ausfälle in der Energieversorgung gehen viele Schätzungen davon aus, dass das BIP im ersten Quartal des Jahres um fast 50 Prozentpunkte zurückgehen könnte. Dies würde einen Rückgang der Produktion um die Hälfte bedeuten; auch deswegen, weil im März nur an acht Tagen gearbeitet wurde. Dies könnte eine Abnahme des BIP um 25 Prozent in 2019 bedeuten, was wiederum zu einem kumulativen Minus von 62,5 Prozent in der Zeit von 2013 bis 2019 führen könnte: eine Zahl, die niemals zuvor in Amerika oder Ländern ohne länger andauernde Kriege verzeichnet wurde. Vor diesem problematischen Hintergrund taucht eine bedeutende Anzahl von Wirtschaftssanktionen aller Art auf. Die unterschiedlichen Sanktionen betreffen Unternehmer, Regierungsbeamte, hohe Funktionäre, Militärs, öffentliche Einrichtungen, die venezolanische Zentralbank (BCV) bis hin zur staatlichen Erdölgesellschaft (PDVSA), deren US-amerikanische Tochtergesellschaft CITGO, staatliche und private Unternehmen.

In diesem Artikel wird die Art der Wirtschaftskrise im Land beleuchtet und geprüft, ob sie Grund für die Sanktionen ist, deren Folge oder ob beides nichts miteinander zu tun hat. Zudem wird untersucht, ob die Sanktionen die Krise verschärfen oder ob diese tatsächlich einen positiven politischen Effekt im Land haben, ob sie den politischen Wandel ermöglichen oder ob sie wichtige soziale Verwerfungen verursachen, welche die demokratische Entwicklung stören.

Es ist wichtig zu betonen, dass seit 2007 Dutzende Statistiken zensiert wurden, die schwerwiegende ökonomische Probleme zu belegen scheinen. Damit versucht sich die Regierung zu verteidigen, schließlich werde sie ja vom „Imperialismus“ belagert. Eine Fülle von Indikatoren ist nach Hunderten Retuschen, Methodenwechseln, Verzerrungen und epistemologischen Veränderungen, welche die Probleme rechnerisch zu verschleiern versuchen, nahezu unkenntlich geworden. So haben die venezolanischen Statistiken keine Qualität, spiegeln unverhohlene politische Absichten wider, sind unvollständig oder wurden schlichtweg geschwärzt. Diese Zensur ist so extrem, dass seit Jahren wesentliche Kennzahlen wie etwa das BIP, der nationale Verbraucherpreisindex oder die nationale Budgeterhebung ministerieller und privater Haushalte nicht mehr veröffentlich werden.

In den Jahren 2014 und 2015 begann der Preis für Erdöl zu fallen. Zeitweise war er zwar noch dreimal und in manchen Monaten fünfmal so hoch wie die Preise in den Jahren 2000/2001, doch lassen das erhöhte Tempo der Staatsausgaben und die Hypertrophie der Importe Ölpreise, die fünf- oder sechsmal so hoch wie die der frühen 2000er-Jahre waren, heutzutage „niedrig“ erscheinen. In den letzten Jahren begann auch der Rückgang der Importe und des Angebots an Waren und Dienstleistungen. Gleichzeitig begannen sich die Ergebnisse eines Deindustrialisierungsprozesses zu zeigen, zugunsten einer Importexpansion von Milch, Zement, Benzin, Kunststoff und chinesischen Arbeitern (zum Häuserbau).

Der Anstieg der Importe wurde nie weiter begründet und es gab auch kaum soziale Proteste. Auf der einen Seite machte die gigantische Überbewertung des Wechselkurses alles Importierte günstiger als nationale Produkte. Auf der anderen Seite eröffneten die Importe unter der strengen Wechselkurskontrolle der Regierung unendliche Möglichkeiten der Korruption, die viele zu Multimillionären machte. Die politische Kontrolle bestand darin, sehr günstige Devisen nach Ermessen der Regierung zuzuweisen, womit die Wirtschaft vereinnahmt und unter Druck gesetzt sowie die politischen Parteien, die von den Unternehmen abhängig sind, gezähmt werden konnten. Den einfachen Leuten wurden Devisen für den Tourismus weit unter Marktpreis verkauft. Deshalb konnten sie reisen, Geld ausgeben, Betrügereien mit dem Wechselkurs begehen – und alle waren glücklich. Es war ein gutes Geschäft.

Der rasante Rückgang der Produktion und Produktivität machte die Knappheit der Waren deutlicher, was den Preisanstieg verschärfte. Das massive Drucken von Geld spiegelte sich in der Erhöhung der Geldmenge um mehr als 125 000 Prozent (Januar 1999 bis Januar 2017) wider. All dies erhöhte die Inflationsrate im Jahr 2015 auf fast das Doppelte der bis dato höchsten Inflationsrate im Jahr 1996.

Industrie und Landwirtschaft wurden durch die Folgen des stark überbewerteten Wechselkurses (zu mehr als 10 000 Prozent überbewertet) enorm geschwächt.

Die Importe waren extrem günstig und nahmen der Industrie jeglichen Anreiz zu produzieren. Die Kapitalflucht stieg sprunghaft an und es kam zu einer Auslandsverschuldung zu horrenden Zinssätzen.

Das Ende des Aufschwungs wurde im Zeitraum 2014 bis 2018 erreicht: fünf Jahre, in denen das BIP pro Kopf fünfmal in Folge sank. In den Jahren 2017 und 2018 verschärfte sich die Krise durch den Einfluss einer Hyperinflation, die alle historischen Rekorde in Amerika brach. Die Situation lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Das fünfte Jahr in Folge wird das Land die höchste Inflation der Welt aufweisen – vom Parlament auf 1 698 488,2 Prozent bis 2018 geschätzt. So leidet das Land den 16. Monat in Folge unter der Hyperinflation (von November 2017 bis Februar 2019) und ist entsetzt über die täglich steigenden Preise, während die staatlichen Listen über regulierte Preise nicht beachtet werden. Auch wenn ich die Schätzungen des Parlaments für übertrieben halte, lag die Inflation 2018 im besten Fall bei rund 90 000 Prozent, wenn man eine Abwertung des Wechselkurses in ähnlicher Größenordnung einkalkuliert.

Laut dem Finanzausschuss des Parlaments ist die Wirtschaft in der kurzen Zeit von 2013 bis 2018 um beeindruckende 50,61 Prozent geschrumpft. Venezuela weist außerdem ein zweistelliges Haushaltsdefizit (mindestens im sechsten Jahr in Folge) und die niedrigsten internationalen Finanzreserven der letzten 20 Jahre auf. Zudem leidet es unter einem drastischen Mangel an grundlegenden Gütern und Dienstleistungen (Lebensmittel und Medizin). Unter diesen Voraussetzungen und den Finanzsanktionen der USA und der EU ist es unmöglich, auf traditionellen Märkten externe Finanzierung zu beantragen.

Der Wert des Parallel-Dollars (an dem quasi alle Preise in der Wirtschaft festgemacht werden) stieg um mehr als 88 000 Prozent im Jahr 2018. Dies hat die Kaufkraft gänzlich zerstört. Die Reallöhne sanken in der Zeit von 2013 bis 2018 um 95 Prozent.

In Venezuela gab es in den letzten zwei Jahrzehnten einen enormen Exportboom. Zu Beginn der 2000er-Jahre summierten sich die Importe des Landes auf gerade einmal 20 Milliarden Dollar. Nach der Einführung der Wechselkurskontrolle und ihrer fehlenden Aktualisierung, begleitet von einem Gelddrucken in nie zuvor dagewesenem Ausmaß, wucherte der Import übermäßig durch illegale Einfuhren. Die Summe der Exporte und Dienstleistungen von 1999 bis 2015 belief sich auf über eine Billion Dollar. Dies entspricht einem Volumen von zehn Marshallplänen.

Die Auslandsverschuldung Venezuelas, die 2000 kaum 26 Milliarden Dollar betrug, verfünffachte sich in diesem Zeitraum. Die Schulden der PDVSA verzehnfachten sich. Man könnte sagen, dass die Regierung die gegenwärtigen und einen großen Teil der zukünftigen Öleinnahmen verschwendet hat, indem sie die PDVSA in übertriebenem Maße verschuldete und nicht die nötigen Investitionen zur Instandhaltung tätigte. Dies führte zu einem Rückgang der Ölförderung um 70 Prozent (2012 bis 2019), was die Krise weiter verschärfte.

Der Knackpunkt der Krise liegt in der schwindelerregenden Ausfuhr der Einnahmen aus der Erdölförderung. Dies geschah durch übermäßige Importe und eine rege Kapitalflucht. Die Importe haben sich zwischen 2003 und 2012 um das 4,5-Fache erhöht und die Kapitalflucht wird auf 600 Milliarden Dollar geschätzt (wenn betrügerische Importe als Kapitalflucht gerechnet werden).

Anstatt die nationale Industrie, ob staatlich oder privat, zu fördern, versucht die Regierung, die verschiedenen Bedürfnisse durch massive Importe zu befriedigen. Der öffentliche Sektor hat seine Einfuhren um 1033 Prozent (2003 bis 2013) erhöht, anstatt in die Gründung eigener Unternehmen zu investieren. Die Regierung verfolgte die Politik eines umgekehrten Protektionismus. Sie verbilligte ausländische Waren durch Förderung von Importen künstlich und zerstörte den eigenen landwirtschaftlichen und industriellen Produktionsapparat, indem sie einen immens überbewerteten Wechselkurs beibehielt. Im Februar 2018, als die Wirtschaft bereits am Boden lag, gab die Regierung den offiziellen Wechselkurs von Dollar zu Bolívar Fuerte mit 1:10 an, während der Paralleldollar einen Kurs von 1:210 500 erreichte. Diese Differenz machte einige zu Millionären und stürzte Millionen in die extreme Armut.

Die als „betrügerisch“ bezeichneten Importe machen den Bärenanteil vom Export der Gewinne aus dem Ölgeschäft aus. Dieser Mechanismus soll hier am Beispiel Fleisch erklärt werden. Die Fleischimporte stiegen im Zeitraum 2003 (Beginn des kontrollierten Wechselkurses) bis 2013 um 17 810 Prozent. Erstaunlicherweise ist der landesweite Fleischkonsum in derselben Zeit um 22 Prozent zurückgegangen. Wurden 2003 Fleischwaren im Wert von 10 Millionen Dollar importiert, waren es zehn Jahre später Einfuhren im Wert von 1,7 Milliarden US-Dollar. Ganz zu schweigen davon, dass Fleisch seit Monaten nicht mehr regelmäßig in Supermärkten zu finden ist.

Bekannt geworden sind auch die Berichte über Importe von „fantastischen“, 12 000 Dollar teuren Rasenmähern und 2 Millionen Dollar teuren Maschinen zur Verarbeitung von Hühnerfleisch. Als die Zollbeamten den Container überprüften, fanden sie nur rostige Werkzeuge. Das Beratungsunternehmen Ecoanalítica hat berechnet, dass von 2003 bis 2012 69,5 Milliarden Dollar durch betrügerische Importe gestohlen wurden. Exporteure in der Freihandelszone in Panama „berechneten“ 1,4 Milliarden Dollar an Lieferungen nach Venezuela, doch panamaische Beamte versicherten, dass davon 937 Millionen Dollar Betrug waren: Die Unternehmen hatten nicht vorhandene Produkte in Rechnung gestellt.

Dass der Export von Gewinnen und die Kapitalflucht das Land hoffnungslos ruinieren würden, ist oft angeprangert worden. Doch die Regierung ergriff keinerlei Maßnahmen bis Februar 2018, als die Krise bereits 80 Prozent der internationalen Reserven vernichtet hatte und fast 600 Milliarden Dollar außer Landes gebracht worden waren, das heißt mehr oder weniger zwei ganze BIPs des Jahres 2009. Diese Wirtschaftskriminalität ging einher mit einer völligen Einstellung der Produktion. Die Ölgewinne wurden verschleudert, während Staat und Privatsektor die kriminelle Aneignung der Erträge feierten. So ist es auch kein Zufall, dass sich alleine im Stadtteil Salamanca in Madrid (nach Berechnungen von Immobiliengesellschaften) mehr als 7000 Luxuswohnungen im Besitz von Venezolaner*innen befinden.

Die Exporte Venezuelas in andere südamerikanische Länder sind von 2011 bis 2016 um 97 Prozent gesunken. Die Ausfuhren in diese wichtige Zielregion sind quasi vollständig weggefallen. Alles deutet darauf hin, dass der Einbruch der Exporte dem Rückgang der Erdölförderung um 66,5 Prozent geschuldet ist; in absoluten Zahlen betrug die Verminderung 1 850 000 Barrel pro Tag. Von den 3,1 Millionen Barrel, die täglich gefördert wurden, fördert Venezuela im Januar 2019 nur noch 1,01 Millionen. Von diesen Barrels geht ein Großteil in drei Richtungen: Ölhilfevereinbarungen (Petrocaribe), Binnenmarkt und Schuldentilgung mit China (Orinoco Petroleum Belt). Schätzungen zufolge sind Venezuela im Jahr 2018 aufgrund des Rückgangs der Fördermengen Einnahmen in Höhe von 33 Milliarden US-Dollar aus dem Geschäft mit den USA entgangen. Dies entspricht dem Vierfachen der noch vorhandenen internationalen Reserven vom November 2018.

Die Reallöhne in Venezuela sind zwar nominal (aufgrund der Inflation) um bis zu neunundvierzig Millionen Prozent gestiegen sind (2013 bis März 2019), aber im gleichen Zeitraum ist die Kaufkraft um 80 Prozent gesunken. Eine Lohnvernichtung, die in der amerikanischen Geschichte ihresgleichen sucht.

Die ersten Finanzsanktionen traten im August 2017 in Kraft, die ersten direkten Wirtschaftssanktionen begannen im November 2018. Die Sanktionen wurden also zu einem Zeitpunkt verhängt, als die venezolanische Wirtschaft bereits am Tiefpunkt angelangt war. Im Mai 2019 erreichten die Sanktionen ihren Höhepunkt, nachdem sie in verschiedenen Sektoren, vom Rüstungssektor bis zum Ölsektor, einschließlich des Finanzsektors und der Wirtschaft, erheblich zugenommen hatten. Die tatsächlichen Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen beginnen sich gerade erst zu zeigen, da die Finanzsanktionen vom August 2017 etwas verboten haben, was bereits vorher so gut wie unmöglich war: Niemand will Anleihen vom venezolanischen Staat und von PDVSA kaufen. Und die derzeitigen Halter*innen weigern sich, eine Umstrukturierung auszuhandeln. Die Wirtschaftssanktionen starteten Ende 2018 und die Ölsanktionen (zweifellos die heftigsten von allen) haben erst im Januar 2019 begonnen.

Es ist richtig, dass es für die Regierung seit 2017 sehr viel schwieriger ist, Lebensmittel und Medikamente zu importieren. Nichtsdestotrotz ist dies nicht die Ursache für den Mangel an diesen Gütern, der hauptsächlich der Wirtschaftskrise geschuldet ist, unter der das Land seit 2009 leidet. Der erwähnte Abschwung hat die Landwirtschaft, die Industrie und große Teile des legalen Handels zerstört. Es ist leicht gesagt, dass Lebensmittel und Medikamente problemlos von Unternehmen aus Indien, Russland, China und anderen Ländern importiert werden können. Das Problem ist der Mangel an Devisen durch den Rückgang der Produktion, vor allem von Öl, Stahl und petrochemischen Produkten für den Export. Die Tatsache, dass der Wert der eingeführten Lebensmittel 2018 nur 2,6 Milliarden Dollar betrug, während er 2012 achtmal so hoch war, ist nicht den „Sanktionen“ geschuldet, sondern der Krise einer kapitalistischen Wirtschaft, ausgerichtet auf die Ausbeutung des Erdöls.

Namhafte Wissenschaftler (Weisbrot & Sachs, 2019)1 argumentieren, dass Venezuela aufgrund der Sanktionen die internationale Kreditwürdigkeit verloren habe. Tatsächlich halten die schwerwiegenden wirtschaftlichen Probleme die internationalen Kreditgeber auf Distanz. Seit dem Jahr 2016 gehen sie davon aus, dass Venezuela nicht mehr in der Lage dazu ist, seinen Schuldverpflichtungen nachzukommen. Deswegen leihen seit vier Jahren weder die China Development Bank noch die riesige Bank of Asia Venezuela noch Geld. Obwohl ein Darlehen an einen strategischen Partner wie Venezuela für die chinesischen Institutionen einen Bruchteil ihres immensen Kapitals darstellen würde, zögert die chinesische Regierung, die Kredite zu erhöhen, die bereits 60 Milliarden Dollar umfassen. Folglich leiht China Venezuela nicht wegen der Sanktionen kein Geld mehr, sondern wegen der katastrophalen Wirtschaftslage, die eine Rückzahlung jeglicher Kredite unmöglich macht – und das, obwohl es ein Abkommen über die Rückzahlung der Kredite in Form von Erdöl gibt, das chinesische Firmen äußerst lax besteuern und enorm intransparent fördern.

Die US-Regierung prahlt, dass ihre „Übernahme“ von CITGO die PDVSA um jährliche Einnahmen von 11 Milliarden Dollar bringen würde. Dieser Maßnahme reduziert die verfügbaren Devisen, bringt die PDVSA in Bedrängnis und erschwert die Erfüllung ihrer Zahlungsverpflichtungen. Darüber hinaus ist die „2020-Anleihe“ von PDVSA über CITGO gegen Ausfallrisiken abgesichert. Wenn die 71 Millionen Dollar an Anleihezinsen nicht gezahlt werden, kann es zu einem großen Wertverlust von CITGO kommen, dessen Wert etwa 8 Milliarden Dollar beträgt. Dies ist eine aggressive und heftige Maßnahme gegen das Erbe der Nation.

Das „Embargo“ gegen CITGO wiegt schwer, ist aber nicht der Grund für den Rückgang der Ölförderung, wie Weisbrot & Sachs behaupten. Obwohl CITGO mit PDVSA noch bis vor kurzem bis zu 580 000 Barrel pro Tag handelte, können die Mengen, die PDVSA nicht mehr an CITGO verkaufen konnte, auf anderen Märkten platziert werden. Verdünnungsmittel und Leichtöl können anderswo gekauft werden, wenn auch zu viel höheren Preisen, was die Gewinne reduziert. Aber all dies kann nicht den Rückgang der Ölförderung um 70 Prozent (2008-2019) rechtfertigen. Dieser Rückgang ähnelt eher einer Rutschpartie, die bereits 2009, fast neun Jahre vor den Ölsanktionen, begann. Tatsächlich war bereits 2016 der Export von Rohöl um beeindruckende 68 Prozent gesunken. Der Rückgang der Erdölgewinnung hat vielfältige Gründe, völlig unabhängig von den vor kurzem ergriffenen Maßnahmen gegen die PDVSA. Dazu gehören die geringen Investitionen, der aufgrund der niedrigen Gehälter herrschende Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, die enorme Korruption in der Geschäftsführung, die geringen Einnahmen beim „Verschenken“ von Benzin, Enteignungen und Probleme mit transnationalen Auftraggebern und die übertriebene Verschuldung zur Erschließung von Devisen, die anschließend auf dem Inlandsmarkt zu einem Spottpreis verschleudert wurden.

Weisbrot & Sachs zufolge sind die Sanktionen verantwortlich für den Anstieg der Todeszahlen im Zeitraum 2017 bis 2018: 40 000 zusätzliche Verstorbene aus gesundheitlichen Gründen wegen mangelnder Medikamente und medizinischer Versorgung. Eine solche Behauptung ist völlig irreführend. Der Gesamtwert der medizinischen Importe summierte sich 2013 auf groteske 3,2 Milliarden Dollar, während er 1998 bei knapp 222 Millionen lag. Mit 222 Millionen Dollar war der lokale Markt gesättigt und es gab keinen Mangel an Medikamenten, der sich schon 2013 beobachten ließ. Dennoch fand der große Rückgang der Medikamentenimporte zwischen 2013 und 2016 statt, als die Einfuhr von Arzneimitteln um stattliche 65 Prozent sank, also lange, bevor die Sanktionen verhängt wurden.

Die ausgezeichneten Wissenschaftler Weisbrot & Sachs wagen es in ihrer Studie zu behaupten, dass auch der Zusammenbruch der Energieversorgung, der tagelange Stromausfälle zur Folge hatte, mit den Sanktionen zu tun hat. Es scheint so, als ob die Sanktionen mit allen finsteren Vorkommnissen in Venezuela zu tun haben. Der Zusammenbruch der Stromversorgung und die heftigen Rationierungsmaßnahmen entspringen einer Reihe von skurrilen Subventionen, welche die staatlichen Unternehmen ruiniert haben. Strom wird in Venezuela seit Jahren verschenkt, im wahrsten Sinne des Wortes. Deswegen können die Unternehmen nicht mehr das wieder reinholen, was sie für Investitionen in Wartung und Infrastruktur eigentlich benötigen. Die Energiekosten mehrerer Wohnungen zusammen betragen pro Monat nicht mal einen (!) Dollar. Ganz zu schweigen davon, dass das große Staatsunternehmen CADAFE (Compañía Anónima de Administración y Fomento Eléctrico) 40 Prozent seines Stroms durch anhaltenden Diebstahl über illegale Leitungen verliert. Schätzungen zufolge belaufen sich die zwischen 2014 und 2016 geleisteten Energiesubventionen auf 75 Milliarden US-Dollar, was etwa dem Zehnfachen der gesamten Auslandsverschuldung Boliviens im Jahr 2016 entspricht. Zusammengefasst entsprächen sie etwa 20 Prozent des durchschnittlichen BIP dieser drei Jahre. Das ist eindeutig nicht nachhaltig und eine Einladung zur Verschwendung. Die staatlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Wohnen betrugen 2013 zusammengenommen gerade mal 9,6 Prozent des BIP und damit deutlich weniger als die gewährten Subventionen für Energie.

Das Verbot einer Restrukturierung der Auslandsschulden mit den US-amerikanischen Anleiheinhabern erschwert es enorm, die Auslandsschulden des Staates und der PDVSA neu zu verhandeln. Das ist eine wahrhaft feindselige Maßnahme, die jegliche Maßnahmen zur Überwindung der Krise verhindern will. Aber diese Sanktionen verbieten nicht, dass andere, nicht US-amerikanische Unternehmen die Anleihen kaufen. Schließlich tragen die venezolanischen Anleihen die Bezeichnung „junk bonds“, wodurch sie weit unter Nennwert verkauft werden. Befreundete Staaten könnten ein unglaublich lukratives Geschäft mit den venezolanischen Anleihen machen. Aber sie tun es nicht. Nicht wegen der Sanktionen, sondern wegen der sehr hohen Wahrscheinlichkeit eines kommenden defaults (Zahlungsverzugs), der sich bereits 2017 durch zahlreiche Bitten um Aufschub und Tilgungsstreckung gezeigt hat. Dass es unmöglich ist, die Auslandsschulden umzustrukturieren, liegt also nicht an den Sanktionen, sondern der katastrophalen Entwicklung der Wirtschaft.

Der Ökonom Alexander Main weist darauf hin, dass die Sanktionen allerdings das Leid der venezolanischen Bevölkerung steigern. Diese Sanktionen verteuern den Import von Lebensmitteln und Rohstoffen. Schlimmer noch, sie machen es staatlichen oder privaten Unternehmen unmöglich, ausländische Devisen für den Kauf von Medikamenten und Lebensmitteln zu erwirtschaften. Dies verschlimmert die Not der Bevölkerung.

Dylan O’Driscoll von der Universität Manchester hat zu den Auswirkungen von Wirtschaftssanktionen geforscht und weist darauf hin, dass sie in den meisten Fällen nicht das gewünschte Ergebnis erzielen. Wenn sie mit menschlichem Leid einhergehen, können sie zudem mit militärischen Interventionen verglichen werden, allerdings ohne die gleiche Erfolgsrate im Hinblick auf einen angestrebten Regimewechsel. Wirtschaftssanktionen lassen die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgehen – mit den stärksten Auswirkungen auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Die Eliten sind viel besser in der Lage, die negativen Auswirkungen zu mildern (oder zu vermeiden) als die arme Bevölkerung, die ihnen schutzlos ausgeliefert ist. Darüber hinaus verstärken Sanktionen Einkommensungleichheiten, indem sie den Wohlstand zum Nachteil der Ärmsten in den Händen einiger weniger konzentrieren.

Die am stärksten benachteiligten Gruppen – alleinerziehende Mütter, Landwirte, Arbeitslose und ältere Menschen – sind diejenigen, die am meisten unter den Auswirkungen der Sanktionen leiden, da sie diejenigen sind, die über die geringsten Mittel verfügen, um sie zu kompensieren. Die Wahrscheinlichkeit, in extreme Armut zu verfallen, steigt.

Außerdem stellt eine aufschlussreiche Studie fest, dass in 71 Ländern, die zwischen 1971 und 2005 insgesamt 811 Jahre unter Sanktionen gelitten haben, Frauen deutlich an wirtschaftlichem und sozialem Ansehen verloren haben. Die Formen patriarchalischer Gewalt und Haltungen, welche die Rechte der Frauen verletzen, haben erheblich zugenommen.

Wie eine Studie über bestimmte Länder zeigt, die zwischen 1914 und 2000 sanktioniert wurden, waren nur in 21 Prozent der Fälle die Sanktionen Teil einer erfolgreichen Transition. In 65 Prozent der Fälle wurden die Sanktionen aufgehoben, ohne dass sie ihre Ziele erreicht hätten. Im Jahr 2000 litten noch 14 Prozent dieser Nationen unter Sanktionen, ohne dass es zu politischen Veränderungen kam. Die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen sind am meisten von den Sanktionen betroffen, da in einer kriselnden Wirtschaft Arbeitsplätze rar sind und das eigene Überleben immer schwieriger wird. Dies ist Anlass für die massenhafte Auswanderung von Venezolaner*innen im erwerbsfähigen Alter, was letztlich dazu führt, dass Millionen von möglichen Regierungsgegner*innen (was die meisten Auswandernden sind) das Land verlassen und die Straßen leer bleiben: Sie protestieren nicht mehr und erleichtern somit politische Maßnahmen zum Erhalt der aktuellen Regierung. Zudem erschwert das Wahlrecht eine Stimmabgabe von Venezolaner*innen aus dem Ausland. Eine steigende Bevölkerung in der Diaspora ist schließlich ein Aderlass der Opposition.

Sanktionen sind somit (ideologisch gesehen) enorm vorteilhaft für die betroffenen Regierungen. Diese Maßnahmen, die darauf abzielen, die Wirtschaft des betroffenen Landes zu zerstören, dienen als willkommene Ausrede, um den „äußeren Feind“ für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen. Betroffene Regierungen können daraus einen moralischen Vorteil ziehen, indem sie sich zum Opfer erklären und Unsummen für billige, übertriebene und irreführende Propaganda ausgeben. So geben sie den Sanktionen die Schuld an fehlendem Wirtschaftswachstum. Stück für Stück verinnerlicht die Bevölkerung die politische Situation und beginnt, die Krise anzunehmen.

Daraus folgt ein zusätzliches Problem: Politische Repression nimmt zu und Freiheiten werden eingeschränkt. Die unbestimmte Haltung der Opposition im Hinblick auf die Sanktionen macht es der Regierung leicht, ihre Gegner*innen mit den Verantwortlichen für die Sanktionen in Verbindung zu bringen. So wird die Repression als patriotischer Akt der nationalen Verteidigung gerechtfertigt und oppositionelles Handeln wird deutlich erschwert.

Da Sanktionen Einfuhr und Beschaffung von Lebensmitteln erheblich erschweren, steigern sie die moralische und materielle Wirksamkeit populistischer und klientelistischer Sozialprogramme. In Zeiten großer Not können die Leistungen der Hilfsprogramme sogar sehr viel höher sein als die schrumpfenden Löhne. Die Lebensmittelkisten, die von der Regierung über chavistische Versorgungsgremien (CLAP) verteilt werden und häufig an politische Bedingungen geknüpft sind, übersteigen an Bedeutung und Wert das eigentliche Gehalt um ein Vielfaches. Dies steigert die Wirksamkeit eines Geschenks, das in einer Situation extremer Armut quasi zum einzigen Lebensunterhalt wird. Dies stärkt die Regierung ideologisch und stellt die Verantwortlichen für die Sanktionen (und ihre Verbündeten in der Opposition) so dar, als ob sie nichts täten, um den Menschen zu helfen. Der Staat erhöht die Wirksamkeit seiner „Hilfe“, auch wenn sie tatsächlich weniger wert ist. So wird offensichtlich der Weg zu einem erfolgreichen politischen Wandel erschwert.

Manuel Sutherland, Master of Economics, ist Leiter des Zentrums für Arbeiterforschung und -weiterbildung (CIFO) in Caracas • Übersetzung: David Gussen