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Hatespeech, literarisch

Karina Sainz Borgos Debüt „Nacht in Caracas“ spiegelt die Unversöhnlichkeiten im aktuellen Venezuela
Britt Weyde

Ja, ja, es ist Literatur. Und die darf und kann bekanntermaßen fast alles. „Dies ist eine fiktive Geschichte. Einige Episoden und Figuren lehnen sich an reale Vorfälle an“, stellt die Autorin im Anschluss an den Roman klar. Ihre Absicht sei „eine literarische, keine dokumentarische“. Aber in den zahlreichen Interviews, die Karina Sainz Borgo seit der Veröffentlichung Ende August 2019 gegeben hat, vermittelt sie, dass es ihr ein wichtiges persönliches und politisches Anliegen gewesen sei, diesen Debütroman zu verfassen. Um sich die Schuldgefühle von der Seele zu schreiben, die sie als „Überlebende“ der venezolanischen Tragödie habe. „Nacht in Caracas“ wurde mit viel Publicity in 22 Ländern gleichzeitig veröffentlicht, was recht ungewöhnlich für ein Erstlingswerk ist. Die 37-jährige Autorin lebt seit knapp 13 Jahren in Spanien, wo sie als Journalistin arbeitet. Trotz – oder gerade wegen? – des Mantrahaften „es ist doch Literatur“ sträubt sich so einiges beim Lesen dieses Werks. Was nicht nur an den drastischen Schilderungen des brutalen venezolanischen Alltags liegt.

Der Plot: Adelaida Falcón organisiert die Beerdigung ihrer Mutter, während um sie herum das Land im Chaos versinkt: Mangelwirtschaft, Straßengefechte und plündernde Banden legen alles lahm, sorgen für Verzweiflung und Terror. Ein Kommando revolutionärer Frauen in roten T-Shirts bricht in Adelaidas Wohnung ein, besetzt sie kurzerhand und funktioniert sie in ein Lager für Lebensmittelpakete um, die eigentlich zum Verteilen bestimmt sind. Die Frauen verticken die Pakete um ein Vielfaches an Leute ohne privilegierten Zugang zu Lebensmitteln. Sie gehören dem Lager der „Hijos de la Revolución“ an, wie Sainz Borgo durchgehend ironisch-verächtlich Regime-Anhänger*innen bezeichnet. In dieser ausweglosen Situation kommt der Protagonistin ein Zufall zur Hilfe. Die Nachbarwohnung ist nicht abgeschlossen. Allerdings liegt darin die Leiche der Nachbarin, die „Tochter der Spanierin“ (so auch der Romantitel im Original). Und auf dem Tisch findet Adelaida Briefe vom spanischen Konsulat mit allen nötigen Papieren zum Auswandern. In ihrer prekären Lage wirft sie jegliche ethischen Bedenken über Bord und macht sich kaltblütig ans Werk, um eine neue Identität, und damit ihre Rettung, zu ermöglichen.

Das ist durchaus spannend. Der Roman liest sich schnell weg, streckenweise sind die Parts zum Lokalkolorit anschaulich geschildert und die Autorin findet drastische Worte und Bilder für das Chaos in Caracas. Aber genau hier liegt das Problem. Die Gegenspielerinnen, tatsächlich meist weiblich, der Protagonistin sind schablonenhaft gezeichnet, Nuancen gibt es null. Sie sind durch die Bank weg ungebildet, vulgär, fett, ungepflegt, gierig, animalisch und unzivilisiert. Die „fettleibigen“ Frauen haben „verschorfte“ Beine, „elefantiastische“ Füße voller Beulen mit abblätterndem Nagellack stecken in Plastiklatschen. „Ich fixierte eine Zahnlücke in ihrem Gebiss. … Sie sah mich mit Kuhaugen an, bar jeder Intelligenz … Eine Pistole steckte vor ihrem Wanst, der wie ein Würstchen geformt war, da der Legginsbund ihre Taille abschnürte.“ (S. 75) An anderen Stellen wird erwähnt, dass die Frauen „dunkelhäutig“ sind, ihr Haar „struppig“. Hier gehen bourgeoiser Dünkel, Klassenhass und Rassismus Hand in Hand. Das ist schwer zu ertragen. Ebenso die Tiervergleiche, denen Adelaidas Gegner*innen unterzogen werden: „Die Frauen schwenkten die blitzenden Zähne tollwütiger Hunde“ oder ein korrupter Beamter am Flughafen spricht nicht, sondern „muhte“ und „zeigte mit dem Maul auf den Boden“. Vielleicht wollte die Autorin eine apokalyptische, biblische Sprache heraufbeschwören (Menschenansammlungen bestehen aus „Ameisen“, „wütenden Insekten“ oder sind „zuckend wie Larven“), aber zumindest in der deutschen Übersetzung stößt dies übel auf. Da ist nur noch Verachtung. Und Hass. Was auch unumwunden geäußert wird: „In unserem Inneren schwoll eine chaotische, gefährliche Energie an. Und mit ihr die Lust, den zu lynchen, der unterdrückte, den Schwarzhändler vom Militär anzuspucken … Wir vergaßen das Mitleid, denn wir wollten unbedingt Gewinn aus dem schlagen, was schlecht lief.“ (S. 62)

Die Protagonistin wird gewissermaßen selbst zur Täterin und ringt im Verlauf der Story mit ihren Werten. Denn eigentlich, und das wird immer wieder eingeflochten, hat sie eine gute Erziehung genossen, mit ihrer Mutter ein gepflegtes, gebildetes, aber bescheidenes Mittelschichtdasein geführt: mit der Lektüre von Weltliteratur, Museums- und Theaterbesuchen. Das ist ziemlich platt zur Schau gestellte bürgerliche Distinktion. Und bevor die Horden der Hijos de la Revolución alles in Beschlag nahmen und das Land in einen „Hexenkessel“ verwandelten (noch so ein Lieblingswort der Autorin), war ja die Welt noch in Ordnung. Als es so etwas wie „Unternehmer aus der Elite noch gegeben hatte“ (S. 123). Spätestens hier wird es richtig ideologisch: die guten vergangenen Zeiten, als die alte Oligarchie noch das Sagen hatte und die Habenichtse brav und stumm am Rande der Gesellschaft lebten.

So spiegelt sich in „Nacht in Caracas“ das polarisierte Lagerdenken wider, das in Venezuela vorherrscht und leider auch außerhalb bei denjenigen, die in Medien (und Literatur) über Venezuela sprechen und schreiben. Aber gerade das Gegenteil macht – gute – Literatur spannend: Widersprüche, komplexe Figuren, Dialektik. Davon findet sich in dem Roman nichts.