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Dem Vergessen entrissen

Michael Rammingers Geschichte der chilenischen „Christen für den Sozialismus“
Gert Eisenbürger

Es kommt selten vor, dass ein nichtbelletristischer Titel eines deutschen Autors nahezu zeitgleich in der Bundesrepublik auf Deutsch und in Chile auf Spanisch erscheint. Bei dem Buch „...Wir waren Kirche inmitten der Armen. Das Vermächtnis der Christen für den Sozialismus in Chile von 1971-1973“ von Michael Ramminger war aber 2019 genau das der Fall, und das aus gutem Grund.

Vielen politisch Aktiven sind die „ChristInnen für den Sozialismus“ (CfS) vermutlich ein Begriff. Die kleine linke Basisbewegung existiert in verschiedenen westeuropäischen Ländern, ihre Mitglieder sind häufig auch in der Solidaritätsbewegung, globalisierungskritischen Zusammenhängen oder der Umweltszene aktiv, einige auch in der linken Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Anders als der 1926 gegründete „Bund der Religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands“ (BRSD), dessen Ursprünge in der hiesigen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung liegen, waren die CfS ursprünglich eine lateinamerikanische, konkret eine chilenische Bewegung. Während der Regierungszeit des Linksbündnisses Unidad Popular (UP) zu Beginn der 1970er-Jahre gehörten sie zu den Kräften, die für eine grundlegende Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft kämpften. Wie alle linken Organisationen wurden auch die CfS nach dem Putsch vom 11. September 1973 verfolgt, viele ihrer Mitglieder mussten ins Exil fliehen, andere wurden inhaftiert, einige sogar ermordet. Da zudem viele Dokumente und Unterlagen während der Diktatur vernichtet wurden, drohte ihre Geschichte, wie die manch anderer, durch die Repression zerschlagener Gruppen, dem Vergessen anheim zu fallen. Das wollte Michael Ramminger vom Münsteraner „Institut für Theologie und Politik“ (ITP) nicht hinnehmen. Selbst seit langem bei den deutschen CfS aktiv und international linkschristlich und befreiungstheologisch gut vernetzt, dazu als marxistisch geschulter Theologe mit dem notwendigen theoretischen Rüstzeug ausgestattet, war er geradezu prädestiniert, die Erfahrung der chilenischen CfS in einer umfassenden Gesamtdarstellung aufzuarbeiten.

Durch Aufenthalte in Chile und Kooperationsprojekte des ITP mit chilenischen Partnerorganisationen kannte er verschiedene Aktivist*innen aus progressiven christlichen Zusammenhängen. Über sie kam er in Kontakt mit noch lebenden Mitgliedern der damaligen CfS und führte zahlreiche Interviews. Außerdem hatte er Zugang zu den Privatarchiven von Sergio Torres und Gonzalo Arroyo, zwei Mitbegründern der CfS.

Michaels Rammingers Arbeit ist weitgehend chronologisch aufgebaut. Zunächst skizziert er die Vorgeschichte der Bewegung, beschreibt ihre Gründungsphase im Jahr 1971, widmet sich dann ausführlich den Arbeitsschwerpunkten in den von zunehmender politischer Polarisierung geprägten Jahren 1972/73, geht auf den Putsch und seine Folgen für die linken Christ*innen ein und diskutiert in einem längeren Epilog einige zentrale Fragen.

Historisch war der Katholizismus in Chile wie überall in Lateinamerika eng mit den Eliten und den bestehenden Macht- und Besitzverhältnissen verbunden. Ab den 50er-Jahren und verstärkt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) trat die katholische Kirche in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern für vorsichtige soziale Reformen ein, die jedoch nicht gegen, sondern mit den traditionellen Machtgruppen umgesetzt werden sollten. Politisches Instrument zur Umsetzung wurden die Christdemokratischen Parteien. Anders als in Westeuropa verstanden sich Lateinamerikas Christdemokrat*innen nicht als Konservative, sondern proklamierten einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus und eine aktive staatliche Sozialpolitik. Ideologisch sahen sie ihre Position zwischen den traditionellen Konservativen beziehungsweise Liberalen und der marxistischen Linken. Das hat in der Praxis jedoch nie längerfristig funktioniert, die meisten Christdemokratischen Parteien haben sich über kurz oder lang dem rechten (El Salvador, Guatemala) oder linken (Paraguay, Uruguay) Lager angeschlossen oder sich entlang dieser Zuordnung gespalten.1

Die PDC Chiles war die stärkste und ideologisch kohärenteste Christdemokratische Organisation in Lateinamerika. Mit Eduardo Frei Montalva stellte sie zwischen 1964 und 1970 erstmals einen Präsidenten, der versuchte, verschiedene Sozialreformen und Modernisierungsprojekte umzusetzen. Doch die Erfolge dieser Politik blieben begrenzt. Als Folge verstärkte sich innerhalb der PDC die Polarisierung zwischen den Kräften, die nur wenig verändern wollten und ein enges Bündnis mit den alten Eliten anstrebten, und solchen, die für tiefer greifende soziale und wirtschaftliche Reformen eintraten und eine Zusammenarbeit mit der Linken suchten. Die Flügelkämpfe führten zu zwei Linksabspaltungen von der Christdemokratie. Im Jahr 1969 formierte sich die „Vereinigte Bewegung der Volksallianz“ (MAPU) und 1971 die „Christliche Linke“ (IC). Beide Parteien integrierten sich in die Unidad Popular.

Als der Sozialist und UP-Kandidat Salvador Allende bei den Präsidentschaftswahlen im September 1970 die meisten Stimmen errang, die absolute Mehrheit aber verfehlte, unterstützte ihn die PDC in der entscheidenden Stichwahl im Parlament gegen den Kandidaten der Rechten, Jorge Alessandri. Doch sowohl die PDC als auch die Kirchenhierarchie gingen danach auf Distanz zur UP-Regierung, wobei die Bischöfe sich primär um den kirchlichen Einfluss in der Gesellschaft, vor allem im Bildungswesen, sorgten. Bei der PDC wurde, auch unter dem Einfluss der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung, aus der anfänglichen Distanz eine immer radikalere Opposition.

Dagegen sah der Teil der Kirche, der schon länger auf ein stärkeres sozialpolitisches Engagement gedrängt hatte, in der Politik der UP endlich eine Perspektive für mehr soziale Gerechtigkeit. Mitte April 1971 trafen sich 80 Priester, von denen viele in den Armenvierteln Santiagos arbeiteten, zu einer Tagung zum Thema „Die Beteiligung der Christen am Aufbau des Sozialismus“. In der Abschlusserklärung betonten sie ihre Unterstützung des Projektes der Unidad Popular, das sie als „Aktualisierung der Nächstenliebe“ charakterisierten.

Die „Gruppe der 80“, wie sie fortan genannt wurde, bildete die Keimzelle der späteren „Christen für den Sozialismus“. Anders als die christlichen Basisgemeinden, die im Laufe der 70er- und 80er-Jahre in vielen Regionen Lateinamerikas entstanden, waren die CfS keine Bewegung, die primär von Christ*innen ohne Amt und Würden oder „Laien“ (wie es in der kirchlichen Sprache heißt) getragen wurden, sondern eine, deren Kern hauptamtlich katholisches Personal bildete, also Priester, später auch Ordensleute sowie Theologiestudenten und deren Dozenten.

Das bedeutete, dass die Reaktionen von ihren Arbeitgebern, den katholischen Bischöfen, nicht lange auf sich warten ließen. Am 22. April veröffentlichte die Bischofskonferenz eine Erklärung, in der sie von den 80 Priestern verlangte, sich nicht parteipolitisch zu positionieren und sich generell bei politischen Äußerungen nicht auf das Evangelium und ihr Priesteramt zu beziehen. Wörtlich erklärte sie: „Wenn die politische Option eines Priesters, wie in diesem Fall, als eine logische und unausweichliche Konsequenz seines christlichen Glaubens dargestellt wird, verurteilt er damit implizit jede andere Option und verletzt die Freiheit anderer Christen.“ (S. 45)

Dieses Argumentationsmuster behielt die Kirchenhierarchie auch später in der Auseinandersetzung mit den „Christen für den Sozialismus“ bei. Obwohl letztere immer den Dialog mit den Bischöfen suchten, erkannten diese niemals eine Pluralität in der Kirche an, die auch linken Positionen einen Platz eingeräumt hätte.

Allerdings konnten die Bischöfe nicht verhindern, dass die Bewegung der Unterstützer*innen der Unidad Popular in der Kirche an Breite gewann. Bereits drei Tage nach der Erklärung der Bischöfe veröffentlichte eine Gruppe von Theologieprofessoren einen Unterstützerbrief für die „Gruppe der 80“. Darin weisen sie den Vorwurf konservativer Katholiken zurück, die linken Priester würden den Klassenkampf propagieren: „Der Klassenkampf ist kein Konzept, er ist grausame Wirklichkeit. Davon abzusehen, würde bedeuten, die gegenwärtige Situation des Elends und der Ungerechtigkeit zu rechtfertigen.“ (S. 50) In der Folgezeit wurde zudem klar, dass die sozialistisch orientierten Christ*innen nicht nur in Santiago, sondern auch in anderen Regionen des Landes aktiv waren. In den Provinzen scheint der Anteil von „Laien“ deutlich höher gewesen sein als in der Hauptstadt.

Auf dem Treffen der „Gruppe der 80“ im April 1971 war die Einrichtung eines ständigen Koordinationsbüros noch in der zweiten Jahreshälfte beschlossen worden. Im Januar 1972 veröffentlichte es seinen ersten Rundbrief als Secretariado Cristianos por el Socialismo (Sekretariat der Christen für den Sozialismus). Das heißt, die chilenischen CfS waren keine formale Gründung, sondern formierten sich spontan aus der „Gruppe der 80“ und ihren Unterstützer*innen. Sie hatten auch keinen Vorstand, der für die Bewegung sprechen konnte, sondern ein Koordinationskomitee, das sich einmal im Monat traf, wichtige Aktivitäten vorbereitete, Diskussionspapiere versandte und dadurch die interne Debatte förderte.

Eine der ersten überregionalen Aktivitäten der im Entstehen befindlichen CfS war vom 30. Oktober bis zum 1. November 1971 eine Tagung zum Thema „Die katholische Schule beim Aufbau des Sozialismus“. Das Bildungssystem in Chile wie in ganz Lateinamerika war (und ist) durch eine Zweiteilung gekennzeichnet, einerseits gute Privatschulen, deren Lehrer*innen ordentlich bezahlt werden, andererseits chronisch unterfinanzierte öffentliche Schulen. Viele Privatschulen, deren Besuch in der Regel kostenpflichtig ist und die damit nur Schüler*innen aus den Mittel- und Oberschichten offen stehen, waren und sind in kirchlicher Trägerschaft.2 Die Tagung forderte ein Ende der Dichotomie im Bildungswesen und formulierte als Ziel die Schaffung einer „,demokratischen kritischen Schule‘, die sich am Modell einer solidarischen Gesellschaft orientiert und Teil der Transformationsprozesse werden soll“ (S. 81). Wenn man bedenkt, dass keine der linken Regierungen der letzten 20 Jahre in Lateinamerika es wagte, an der Zweiteilung des Schulsystems auch nur zu rütteln (man wollte die mittelständische Klientel, die vielleicht links gewählt hatte, aber die Privilegierung ihres Nachwuchses durch den Zugang zu besseren Schulen als selbstverständlich ansah, nicht verprellen), bargen die Forderungen der linken Christ*innen einigen Sprengstoff. Zunächst wurde darüber nur in pädagogischen Zirkeln diskutiert, aber als die UP-Regierung Anfang 1973 Pläne einer Bildungsreform vorstellte, deren Kern die Schaffung einer nationalen Einheitsschule war, liefen der Mittelstand und die Bischofskonferenz Sturm gegen das Reformvorhaben, das ganz neue Räume für eine Demokratisierung der Gesellschaft eröffnet hätte, aber dessen Realisierung, wie so vieles andere, durch den Putsch vom September 1973 verhindert wurde.

Der Schwerpunkt der Aktivitäten der CfS in den ersten Monaten des Jahres 1972 bildete die Vorbereitung eines Lateinamerikanischen Treffens der Christ*innen für den Sozialismus, das vom 23. bis 30. April 1972 in Santiago stattfand. Die rund 400 anwesenden Priester und Ordensleute aus Mexiko, Mittel- und Südamerika, darunter auch einige Bischöfe, demonstrierten eindrücklich, dass es keineswegs nur in Chiles Kirche antikapitalistische Kräfte gab. Die Teilnehmer*innen berichteten über die Lage in ihren Herkunftsländern und die Rolle der Christ*innen in den Kämpfen für die Überwindung von Armut und Ungerechtigkeit. Eine engere Zusammenarbeit wurde vereinbart, die aber nur in Ansätzen realisiert werden konnte, weil dafür die Strukturen und Koordination fehlten.

Zudem wurde die Lage in Chile im Laufe des Jahrs 1972 immer kritischer. Die Besitzenden und große Teile der Mittelschichten (Techniker*innen, Verwaltungsleute, Freiberufler*innen, Studierende und Hausfrauen aus begüterten Familien) ließen sich von der immer militanteren Rechten und zunehmend auch der PDC gegen die Projekte der Unidad Popular mobilisieren. Die CfS versuchten, der rechten Offensive mit Kampagnen entgegenzutreten, die besonders auf das christliche Spektrum zielten. Man wollten den Katholik*innen klar machen, dass die UP keineswegs eine kommunistische Diktatur anstrebte, wie die Rechte behauptete, sondern ihre Reformen darauf zielten, urchristliche Werte wie Gerechtigkeit und Nächstenliebe umzusetzen. Die Bischöfe gingen indessen dazu über, die CfS nicht nur zu kritisieren, sondern zunehmend auch linke Priester zu maßregeln oder kaltzustellen.

Innerhalb der Unidad Popular und der Linken gab es unterschiedliche Positionen, wie man auf die Polarisierung reagieren sollte. Ein Flügel der UP, der vor allem von der Kommunistischen Partei (PC), einem Teil der Sozialistischen Partei (PS), der MAPU und kleineren sozialdemokratischen Gruppen gebildet wurde, verlangte eine strikte Achtung des vorgegebenen gesetzlichen Rahmens. Die andere Tendenz, die vom linken Flügel der PS und kleineren Gruppen, wie der Christlichen Linken, repräsentiert wurde, wollte die Grenzen der bürgerlichen Demokratie nicht akzeptieren und unterstützte die sich in den Armenvierteln und Industriebetrieben entwickelnden rätedemokratischen Strukturen. Für diese Position stand auch die „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR), die einerseits die UP-Regierung unterstützte (und sogar die Grupo de Amigos Personales, die die Leibgarde Salvador Allendes stellte), aber der Meinung war, die rechte Konterrevolution könne nur mit revolutionärer Gegengewalt aufgehalten werden.

Da die CfS nie eine bestimmte politische Tendenz unterstützt hatten und sich ihre politisch aktiven Mitglieder in allen Parteien der UP und im MIR wiederfanden, wurden auch sie von den innerlinken Auseinandersetzungen erfasst. Im Laufe des Jahres 1973 gab es erhebliche Auseinandersetzungen, wie der von allen befürchtete Schlag der Rechten abzuwehren wäre: durch die Schaffung einer breiten antifaschistischen Allianz mit der PDC oder durch einen revolutionären Aufstand.

Letztlich gab es für beide Optionen keine Grundlage mehr. Obwohl sogar der Erzbischof von Santiago, Kardinal Silva Henríquez, Mitte 1973 noch versuchte, die Christdemokraten zum Eintritt in eine Koalitionsregierung mit der UP zu bewegen, um einen Militärputsch zu verhindern, hatte die mit der Konrad Adenauer Stiftung verbandelte PDC-Führung um Eduardo Frei Montalva und Patricio Aylwin längst andere Pläne. Sie setzte auf einen Putsch, von dem sie naiverweise hoffte, er werde sie kurzfristig zurück an die Macht bringen. Der revolutionären Option fehlten hingegen alle logistischen Voraussetzungen. Die Ansätze von Selbstverwaltung in den Betrieben und Armenvierteln waren zwar beeindruckend, aber unbewaffnet und nicht annähernd in der Lage, sich gegen die Militärs zu verteidigen, geschweige denn ein revolutionäres Projekt durchzusetzen.

So beendete der Militärputsch vom 11. September 1973 eines der hoffnungsvollsten Emanzipationsprojekte der lateinamerikanischen Geschichte. Alle, die für ein demokratisches und sozialistisches Chile eingetreten waren, wurden gnadenlos verfolgt, auch die „Christen für den Sozialismus“. Dass ihre Geschichte aufgeschrieben und damit dem Vergessen entrissen wurde, ist das Verdienst von Michael Ramminger. Sein Buch ist von nun an Bezugspunkt für alle, die wissen und verstehen wollen, warum und wie sich Christ*innen am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft beteiligt haben und mit welchen Problemen und Widersprüchen sie dabei konfrontiert waren.

  • 1. In El Salvador und Guatemala bildeten DC-Regierungen ab 1984 bzw. 1986 die zivile Fassade der von den USA koordinierten Aufstandsbekämpfung, während die salvadorianische PDC-Abspaltung MPSC Teil der revolutionären Front FDR war. Auch die zur Guerillakoordination FMLN gehörenden Gruppen ERP und RN hatten teilweise christdemokratische Wurzeln. Die PDC Paraguays und Uruguays sind kleine christlich inspirierte Parteien in linken Allianzen.
  • 2. Eine Ausnahme bilden die Schulen des Programms Fe y Alegría (Glauben und Freude) der Jesuiten, die für ihre gute Qualität bekannt sind. Sie richten sich an die Bewohner*innen armer Viertel beziehungsweise Gemeinden und verlangen kein Schulgeld.