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…und dann kam Corona

Zum Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft in Lateinamerika

Die Beziehung von Militär und Zivilgesellschaft ist in Lateinamerika schon immer kompliziert gewesen. Fast überall hat das ernsthafte Auswirkungen auf die Menschenrechtslage. Nach den Militärdiktaturen der 1960er- bis 1980er-Jahre gab es in der Region entscheidende Fortschritte in Richtung Demokratie und Freiheit. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren jedoch schon zunehmend verlangsamt, besonders im Jahr 2019 gab es Rückschläge – und dann kam Corona.

Adam Isacson

Als Reaktion auf die Pandemie werden in der gesamten Region Soldat*innen eingesetzt; ihre Befugnisse übersteigen dabei die der Gefahrenabwehr deutlich. Das ist nichts Ungewöhnliches, denn während Naturkatastrophen ist das Militär oft die einzige Institution, die mobilisiert werden kann. Nun ist aber Corona keine normale Naturkatastrophe: Sie ist überall gleichzeitig und niemand weiß, wie lange der Zustand andauern wird.

Gerade werden strafrechtlich nicht zu belangende Streitkräfte für eine lange Zeit in das zivile Zusammenleben integriert, und das oft unter den Launen populistischer Regierender, die ohnehin wenig für die Demokratie übrig haben. So könnte die Pandemie eine Region zurücklassen, in der das Gleichgewicht zwischen Militär und Zivilgesellschaft heftig aus den Fugen geraten ist – zugunsten der Streitkräfte. Nach dem Ausnahmezustand werden Regierungen, die mit menschlichen Verlusten und gebeutelten Ökonomien zu kämpfen haben, auch vor der Aufgabe stehen, die Armeen zurück in die Kasernen zu kriegen. Schaffen sie das nicht, wird das Post-Corona-Lateinamerika eine Region voller Regimes, die bestenfalls als teilweise und schlimmstenfalls als ehemalige Demokratien bezeichnet werden können.

Die Verfassungen der meisten Länder Lateinamerikas sehen vor, dass ihre Armeen auf eigenem Territorium nur im Notfall eingesetzt werden. Eine schwer bewaffnete Militäreinheit, die darauf trainiert ist, mit maximaler Gewalt einen Feind zu vernichten, ist nicht zu vergleichen mit einer Polizeieinheit, die darauf trainiert ist oder trainiert sein sollte, mit minimal dosierter Gewalt die Bevölkerung zu beschützen. In einer Demokratie ist es zumindest widersprüchlich, dass eine hierarchisch organisierte Militäreinheit Teil des Alltagslebens wird. In einer freien Gesellschaft und unter normalen Bedingungen patrouillieren keine Soldaten auf der Straße, bewachen Menschen, halten sie fest und befragen sie.

Alle Länder haben aber auch Ausnahmeregelungen für den Notfall. Es ist gängig, dass das Militär während Natur­katastrophen oder anderen ungewöhnlichen, kurzfristigen Ereignissen eine wichtige Rolle spielt. Armeen verfügen über logistische Kapazitäten wie Helikopter, Transportflugzeuge und Fahrzeuge. Außerdem ist das Militär praktisch die einzige staatliche Institution, die unter normalen Bedingungen nicht voll ausgelastet ist. Soldat*innen befinden sich in einem permanenten Zustand der Bereitschaft, der Arbeitsalltag besteht vor allem aus Training, Planung und Wartung. Somit sind sie die einzige Institution mit Überschusskapazitäten, die es ihnen erlauben, im Notfall schnell einsatzbereit zu sein.

In den USA verbietet der Posse Comitatus Act von 1878 den Einsatz des Militärs zur Durchsetzung des Gesetzes unter normalen Bedingungen. Aber nach den Aufständen von Los Angeles 1992 oder nach Hurrikan Katrina in New Orleans 2005 kam den Streitkräften eine aktive Rolle in der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zu. Auch in Chile half das Militär nach dem Erdbeben von 2010. In Brasilien wurde die Armee während der Sportgroßevents von 2014 (Fußball-WM der Männer) und 2016 (Olympische Spiele) eingesetzt. Das Pentagon spielt ebenfalls eine Rolle bei der Überwachung großer Sportereignisse wie dem Super Bowl.

Doch ist Corona eben keine kurzfristige Geschichte. Im Hinblick auf das Verhältnis von Militär und Zivilinstitutionen stellt die Pandemie die Region vor ernsthafte Probleme. Es ist gerade einmal 40 Jahre her, dass der Großteil der Region unter Militärdiktaturen gelitten hat, und noch immer befindet sich die Region in der Transition (Phase des Übergangs – die Red.). Schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie warnten Beobachter*innen vor einer zunehmenden Repolitisierung der Streitkräfte. Die globale Gesundheitskrise scheint nun das Problem zu verschärfen.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden die Fortschritte von Militärherrschaft zu ziviler Demokratie immer wieder erschüttert. So gab es in Honduras 2009 einen Putsch, bei dem das Militär dabei half, die Macht vom gewählten Präsidenten auf seine Gegner*innen zu übertragen. In Mexiko wird seit 2006 in einem bisher erfolglosen Kampf gegen das organisierte Verbrechen militärisch aufgerüstet. In Zentralamerika wird die Armee zur Bekämpfung von Gangs eingesetzt. Die Regierungen von Chávez und Maduro in Venezuela übergeben eine Reihe ziviler Aufgaben wie Nahrungsmittelverteilung und Ölindustrie an das Militär.

Diese Trends haben sich 2019 noch einmal verschärft. Mexiko schuf eine neue Nationalgarde für interne Sicherheitsangelegenheiten. Diese Einheit ist zwar offiziell eine zivile, wird jedoch von einem gerade pensionierten General geführt, und drei Viertel des Personals sind temporär eingesetzte Soldat*innen, Marinesoldat*innen und Militärpolizist*innen. Die Aktivitäten der Einheit sind wenig transparent. (vgl. Beitrag „Noch mehr Waffen lösen keine Probleme“ in dieser ila)

Im Jahresverlauf posierten immer wieder gewählte Präsidenten neben uniformierten Generälen, um hartes Durchgreifen gegen sozialen Protest zu verkünden. In Honduras, wo 2013 eine Militärpolizei gegründet wurde, die brutal gegen sozialen Protest vorgeht, wurden Streitkräfte nun zu Verantwortlichen für das Gefängnissystem ernannt. An einem Sonntagnachmittag im Februar 2020 wurde der salvadorianische Präsident von einem Trupp bewaffneter Soldaten eskortiert, als er den Kongress unter Druck setzte, ein Darlehen für die Anschaffung von Militärausrüstung zu genehmigen.

Die Corona-Krise hat nun das Comeback der lateinamerikanischen Militärs beschleunigt. Auf den Straßen der Region patrouillieren weit mehr Soldat*innen als zuvor und setzen Lockdowns und Ausgangssperren durch, entweder zusammen mit der Polizei oder gleich auf eigene Faust. Tausende Militärs werden in Städten in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ecuador, El Salvador, Honduras, Mexiko, Peru, Venezuela und andernorts eingesetzt. Zu den Aufgaben gehören patrouillieren, Checkpoints besetzen, Grenzen kontrollieren und in vielen Fällen auch Festnahmen. In einigen Ländern, insbesondere in Bolivien, El Salvador, Honduras und Peru, wurden Zehntausende Menschen, die gegen die Ausgangssperren verstoßen hatten, verhaftet und oft unter unhygienischen Bedingungen festgehalten (wobei die Gefangenenunterkünfte eher von der Polizei als von der Armee betrieben werden). Der salvadorianische Präsident Nayib Bukele hält an dieser Praxis fest, obwohl das Oberste Gericht sie für rechtswidrig erklärt hat. Fast überall hilft das Militär bei der Verteilung von Lebensmittelrationen an Haushalte, die ihr Einkommen verloren haben. Regierungen posten jeden Tag dutzende Wohlfühlfotos, auf denen uniformierte Soldat*innen Nahrungsmittelpakete an verarmte Familie übergeben.

Während die Armenviertel oft von der Grundversorgung abgeschnitten sind, wächst der soziale Protest. Dieser soll unter anderem in Bolivien, Chile und Honduras von Militärs in Schach gehalten werden, obwohl während der Proteste 2019 in all diesen Ländern Militärs in schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Kolumbien setzte während der Coronakrise die berüchtigte Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei ESMAD ein, welche zuletzt im Dezember 2019 einen 18-jährigen Protestierenden im Stadtzentrum Bogotas erschoss und damit im Land für Aufregung sorgte. In Kolumbien hat die Regierung zudem die Vernichtung von Cocafeldern intensiviert, bei denen es sich meist um kleine familienbewirtschaftete Felder in vom Staat vernachlässigten Gegenden handelt. Oft sind Soldat*innen Teil der Vernichtungsteams. Seit Ende März wurden bei solchen Operationen vier Zivile getötet.

In Brasilien wird die Armee vorübergehend für die Bekämpfung der Abholzung in der Amazonasregion eingesetzt, was ihr eine ganz neue Kontrolle über ehemals unabhängige Naturschutzbehörden verleiht. Noch gravierender aber ist, dass in dem Land mit der derzeit weltweit zweithöchsten Zahl an Covid-19-Fällen Anhänger*innen des Präsidenten Jair Bolso­naro immer lauter nach einer Militärintervention rufen, um Legislative und Obersten Gerichtshof auszuhebeln. So schwerwiegend ist der Grad der Politisierung des Militärs und damit die Gefahr für die brasilianische Demokratie, dass am 17. Mai sechs ehemalige Verteidigungsminister eine Stellungnahme veröffentlichten, in der sie davor warnen, das Militär zum Bruch mit der demokratischen Legalität zu ermutigen.

Auch in Bolivien ist das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Militär aktuell höchst angespannt, wenn auch nicht im direkten Zusammenhang mit der Corona-Krise. Eine Versammlung der Opposition verzögerte die Beförderung von Offizieren. Nun bereitet sich das Militär darauf vor, sich über die offiziellen Vorgänge hinwegzusetzen.

In Mexiko, wo seit 2006 alle mit gewaltsamem Verschwinden, Folter und Hinrichtung betrauten Sicherheitsbehörden vom Militär geleitet werden, fällt nun auch zum großen Teil die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitssystems der Armee zu. Präsident Andrés Manuel López Obrador, der mit dem Versprechen angetreten war, die Befugnisse des Militärs einzuschränken, erließ am 11. Mai ein vage formuliertes Dekret, welches de facto die Rolle des Militärs bis zum Ende seiner Amtszeit 2024 stärkt. Die mexikanische Sicherheitsbehörde erklärte, dass dieses Dekret notwendig gewesen sei, weil die Corona-Krise „zum aktuellen Zeitpunkt die Kapazität der Nationalgarde übersteigt“. Soldat*innen und Angehörige der Marine sind nun unter anderem dazu bevollmächtigt, Personen zu verhaften, Vermögen zu beschlagnahmen und Tatorte abzusichern. Das Dekret scheint zudem zu beinhalten, dass das Militär selbst für die Überwachung der eigenen Aktivitäten zuständig ist. Dies erlaube keine effektive externe Kontrolle, warnt das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Mexiko. Ein Team von Rechtsexpert*innen kritisiert im mexikanischen Magazin Nexos, dass die Befugnisse des Militärs in der Öffentlichen Sicherheit somit auf die Spitze getrieben werden.

Wie erwähnt ist es nachvollziehbar, dass das Militär eine größere Rolle bei der Bekämpfung einer historischen Pandemie spielt. Angesichts der Schwere der Krise und aufgrund einer jahrzehntelangen Geschichte von vertanen Chancen und Scheitern, stärkere Zivilregierungen aufzubauen, haben viele lateinamerikanische Staaten einfach keine anderen Institutionen, auf die sie gerade zurückgreifen könnten. Das Problem ist aber: Ist die Rolle des Militärs einmal hochgefahren, wird sie nur schwer wieder herunterzufahren sein. Weil Soldat*innen diszipliniert sind, schnell handeln können und normalerweise über nicht ausgeschöpfte Kapazitäten verfügen, erwarten oder fordern Bürger*innen ihren Einsatz selbst in Situationen, die nichts mit Verteidigung zu tun haben. Politiker*innen beginnen, Streitkräfte als Multifunktionswerkzeuge zu betrachten, die flexibel eingesetzt werden können, anstatt sich die Mühe zu machen, entsprechende zivile Regierungsstellen aufzubauen. Wofür etwa eine langfristige Wohnungspolitik, wenn eine Einheit aus 20-jährigen Soldat*innen innerhalb weniger Wochen ein paar einfache Unterkünfte zusammenzimmern kann, während sich die verantwortlichen Politiker*innen in der Dankbarkeit der Empfänger*innen aalen?

„Die Antworten militärischer Institutionen verdecken paradoxerweise den Mangel an Investitionen in andere Ressourcen“, schreibt Rut Diamint, argentinische Expertin für zivil-militärische Beziehungen und ehemalige Verteidigungsbeamtin. „Es ist nicht gesund für die demokratische Stabilität, wenn angesichts fehlender Lösungen in Gesundheit, Polizeiapparat und Infrastruktur das Militär zur Hilfe gerufen wird.“ Wenn Zivilregierungen sich als unfähig erweisen, ihre Pflichten zu erfüllen, warnt Diamint, „könnten die Streitkräfte sich wieder in der Politik positionieren, dieses Mal mit breiterer Unterstützung einer verängstigten Bevölkerung“.

Was es für eine Gefahr bedeutet, Militäreinheiten für politische Zwecke statt zur Verteidigung einzusetzen, ist gerade älteren Lateinamerikaner*innen bewusst. Den Streitkräften Befugnisse über ihre normale Rolle hinaus zu geben, indem man sie mit Funktionen betraut, die fest in der zivilen Sphäre verankert sein sollten, bedeutet die Stärkung einer Institution, die über ein Monopol legaler Bewaffnung, Überwachungsequipment und im Töten ausgebildetes Personal verfügt. Überträgt man ihnen Kriminalitätsbekämpfung, Protestkontrolle, Dienstleistungserbringung, Bau von Infrastruktur, Umweltschutz und andere zivile Rollen, braucht es schon eine ganze Menge Gutgläubigkeit, um zu erwarten, dass sie unpolitisch und neutral bleiben.

Man braucht nur einen älteren Menschen in Lateinamerika zu fragen, wie das im 20. Jahrhundert war, als die Militärs die dominante Institution in ihren Ländern wurden. Sie alle haben es erlebt: Die Militärs konnten nicht zur Verantwortung gezogen werden; es gab massenhafte Menschenrechtsverletzungen, Folter und gewaltsames Verschwindenlassen Zehntausender Menschen; Grundfreiheiten wurden beschnitten; Korruption grassierte, Wirtschaften wurden fehlgeleitet.

So notwendig der Einsatz des Militärs in der Corona-Krise sein mag, es ist dennoch dringend geboten, diese Entwicklung wieder zurückzudrehen, sobald die Krise beendet ist. Das bedeutet, politische Handlungsträger*innen müssen beweisen, dass sie ihren Job machen können: Gesundheitsversorgung sicherstellen, Infrastruktur unterhalten, Bildung garantieren, Konflikte lösen und die Bevölkerung vor Kriminalität schützen. Es bedeutet also die harte post-pandemische Arbeit, kompetente, solide finanzierte, transparente und professionelle zivile Institutionen (wieder-)aufzubauen. Passiert das nicht, könnte die militarisierte Antwort auf Covid-19 noch hässlicher werden, sobald die Pandemie zurückgeht. Es mag vielleicht nicht so hässlich werden wie die Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts – aber Demokratie wird das auch nicht mehr sein.

Adam Isacson ist Leiter der Abteilung Defense Watch des WOLA (Washington Office on Latin America) • Übersetzung: Mirjana Jandik