ila

Wissenschaft der Frauen

Interview mit Elvira Espejo Ayca über Textilproduktion in den Anden

Elvira Espejo Ayca ist multidisziplinäre Künstlerin, Weberin und Textilexpertin und war von 2013 bis zu ihrer Entlassung im Juli 2020 Direktorin des Museo Nacional de Etnografía y Folklore (MUSEF) in La Paz (siehe ila 432). Dort erwirkte sie Veränderungen, von denen sie 2015 im Interview mit Naomi Rattunde sagte, Bolivien sei wahrscheinlich nicht darauf vorbereitet. Aufgewachsen in der comunidad Qaqachaca im Departement Oruro, hat sie ihr Leben lang Brücken gebaut, zwischen Land und Stadt, Lateinamerika und Europa, Praxis und Theorie. Am 28. August 2020 wurde sie mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, die dieses Jahr unter dem Motto „Widerspruch ertragen – der Ertrag des Widerspruchs“ steht.

Naomi Rattunde

Neben vielem anderen bist du seit deiner Kindheit Weberin. Wie funktioniert das Erlernen der Textilproduktion in der comunidad?

Das Weben begleitet mich, seit ich sechs bin. Es war schwierig, die praktische Bildung zu Hause mit der Schule in Einklang zu bringen, wo ich den ganzen Tag war. Ich habe mittags, abends und am Wochenende gewebt, um weiter zu lernen, und es so geschafft, einen Ausgleich zwischen der vertikalen, dominanten Schulbildung und der Bildung in der comunidad herzustellen. Das ist ein komplizierter Prozess mit einem bestimmten Protokoll, der nicht nur das Weben umfasst, sondern bei der crianza mutua1 beginnt, mit Aufzucht und Zusammenleben mit den Lama- und Alpakaherden. Als Kinder lernen wir die Landschaft kennen, den Umgang mit Jungtieren, das Markieren der Ohren, Lieder, die wir singen, damit die Herde bestmöglich wächst, das Scheren und Sortieren der Fasern, das Spinnen – erst mit viel Übung gelingt es, feine Fäden zu spinnen. Dieser ganze Komplex der Herstellung und Bearbeitung der „Rohstoffe“ ist Teil der operativen Kette der Textilproduktion, die wir in der Praxis mit unseren Großmüttern, Müttern und Tanten erlernen. Dann kommen die Strukturen und Formate der Textilien und die Techniken, wobei wir mit den kleinsten und einfachsten Geweben anfangen und allmählich immer komplexere und größere Textilien anfertigen. Erst mit 20 oder 22 Jahren kann eine Weberin so etwas Komplexes wie einen zwei Meter langen Poncho herstellen, wofür sie außerdem wirklich Kraft braucht.

Eine sehr auffällige Eigenschaft von Textilien aus den Anden sind die bunten Muster und Motive.

Ja, viele interessieren sich vor allem für die Ikonografie, wenn sie etwa unsere ahuayos2 sehen, mit denen wir unsere Kinder und alles Mögliche tragen oder uns wärmen. Farben und Ikonografie sind zwei verschiedene Themen, beide variieren je nach Region, comunidad oder Familie und haben sich über lange Zeiträume entwickelt und verändert. In meiner Region werden zum Beispiel viele kräftige Farben verwendet, was aber eine jüngere Entwicklung ist. Es gibt spezifische Klassifikationssysteme von Farbpaletten, die in jeweils unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz kommen. Schon ohne zu färben kommen wir auf über ein Dutzend natürlicher Farben von Alpaka- und Lamawolle, und mit dem Färben, was eine Wissenschaft für sich ist, wird die Farbpalette sehr viel breiter. Wir könnten Stunden über die chemischen und physikalischen Prozesse reden, die genau kontrolliert und gemessen werden müssen. In dieser komplexen Technologie werden Pflanzen und Mineralien verwendet, aber auch Temperatur und Sauerstoffzufuhr des Feuers beim Kochen der Fasern spielen eine Rolle sowie Menge und Qualität des Wassers, also Salz- oder Süßwasser. Mit so gefärbten Fäden zu weben ist ein bisschen so wie Medizin zu nehmen, manche dürfen nur in ganz bestimmten Textilien verwendet werden. Heute kann man alle möglichen Farben einfach kaufen, womit sich auch die Ikonografien verändern.

In archäologischen Textilien sind vor allem geometrische oder figurative Elemente wie Tiere, bestimmte heilige Blumen oder Berge zu sehen. Ab der Kolonialzeit wurden etwa Pferde und Fahnen dargestellt und heute eben Hubschrauber und Fußballer. In den Ikonografien bilden wir ab, was uns umgibt, was wir sehen, aber wir lesen in ihnen nicht so viel, wie viele Forschende meinen. Wenn zum Beispiel gefragt wird, was ein Kondor bedeutet, kann eine Weberin zwar sagen, dass er der Wächter der Höhen ist. Aber wenn wir über Ikonografie sprechen, geht es um pallaña (Aymara) oder pallay (Quechua), also um Auswahl und Zählen der Kettfäden, mit denen wir die Ikonografie erschaffen. Es kommt auf die rhythmische Mathematik, die Aktion und Bewegung des Webens selbst und die arithmetische Verteilung der Fäden an, nicht auf die Bedeutung bestimmter Symbole.

Textil und Text gehen auf das lateinische Wort texere (weben) zurück. Wie „liest“ du Textilien?

Es gibt viele, sehr dynamische Lesarten. Eine erste würde von der crianza mutua der Herden ausgehen und uns direkt zum Universum führen. Die Zeremonien der Kreuzung der Tiere, mit der wir zu den natürlichen Farben kommen, stehen in Zusammenhang mit Planetenkonstellationen. Das verbindende Element ist Licht. Wir schreiben mit den so erzeugten Fäden und durch die Kontrolle von Licht und Schatten. Wir drücken uns mit Fäden aus, die Ideen in sich tragen, so wie ein Blatt Papier Ideen trägt. Aber das Schreiben mit Fäden ist viel komplexer, weil in der operativen Kette so viele Dynamiken, die wir durch unsere Wissenschaften steuern, zusammenfließen. Diese Dynamiken helfen uns zu verstehen, wie das Universum funktioniert. In den Geweben steckt nicht nur ein bisschen Kommunikation, sondern ein ganzes Kommunikationssystem zwischen verschiedenen Kräften. Die natürlichen Färbemittel etwa, die Substanzen, die wir aus Pflanzen extrahieren und den Fasern zuführen, bleiben nach den chemischen Reaktionen als Moleküle im Gewebe. Von den medizinischen Pflanzen, die wir zum Färben verwenden, enthalten einige Antioxidantien, durch die das Textil den Körper schützt. Artifizielle Stoffe haben solche Eigenschaften nicht. Die Kommunikation durch Textilien ist vielschichtig, wie mit einem komplexen Buch, das zum Nachdenken anregt, je nachdem, von welchem Standpunkt aus du es liest. Umgekehrt ist auch der praktische Lernprozess wie das Erlernen mehrerer Sprachen.

Du hast dich wahrscheinlich als erste Weberin aus einer comunidad so intensiv der akademischen Erforschung von Textilien zugewandt. Was für Erfahrungen hast du dabei gemacht?

Es ist sehr kompliziert, die Praxis, so wie wir sie lernen, mit der akademischen Produktion zusammenzubringen. Mich haben die Bücher, die seit den 1960er-Jahren von vor allem internationalen Forschenden über Textilien im Andenraum geschrieben wurden und die ich während meines Studiums las, sehr inspiriert. Als ich danach in meine comunidad zurückging, war die große Frage, was ich gelernt hatte. Es war schwer, das zu erklären, weil an der Kunstakademie, an der ich studiert habe, nur eurozentrisches Wissen vermittelt wurde. Also brachte ich diese Bücher, die die Weberinnen nie zuvor gesehen hatten, in die comunidad und versuchte, ihre Inhalte zu vermitteln. Diese Bücher wurden ja nur für Akademiker*innen geschrieben, ihre Autor*innen dozieren und sind Expert*innen für Indigene, auf deren Wissen die Ergebnisse basieren, von denen sie aber nichts erfahren. Das ist epistemologische Plünderung. Wir haben in diesen Büchern große Mängel festgestellt, angefangen bei der Terminologie. Deswegen wollten die Weberinnen ihre eigenen Terminologien dokumentieren, sodass wir über 900 Stimmen aus verschiedenen Regionen der Anden registriert und systematisiert haben. Diese Terminologien entsprechen exakt den Strukturen und Techniken der textilen Praxis – bei der Auswahl der Kettfäden etwa zählen wir uk pallay (1), iskay pallay, kimsa pallay, tawa pallay (4) auf Quechua. Oder die Anzahl der Kettfadenwindungen, also was wir als Struktur bezeichnen, klingt auf Aymara so: malla tilata (1), palla tilata, kimsa tilata, pusi tilata, phisqa tilata (5) … Die arithmetischen Sequenzen und ihre linguistischen Entsprechungen sind fundamental für das Verständnis der Gewebe, aber sie fehlen in den oberflächlichen Betrachtungen existierender Publikationen. Es verändert die Forschungsergebnisse komplett, wenn man mit den Menschen, die die Praxis kennen, in ihrer Sprache arbeitet. Wir haben mit dieser Arbeit einen ersten Schritt gemacht, um die Praxis in die Akademie zu bringen.

Daher auch der Titel des Buches „Ciencia de las mujeres“?

Ja, es ist die erste vollständige Dokumentation der gesamten operativen Kette der Textilproduktion, dieses Wissenssystems verflochtener Prozesse, das vor allem in Händen der Frauen liegt.

Und die Männer?

Sie ergänzten die Textilproduktion, stellten Mützen her und halfen beim Spinnen, aber ihr Hauptbereich war die landwirtschaftliche Produktion, wo wir Frauen ebenso helfen. Wegen dieser spezifischen Bereiche wurde in der Regel das Land von Männern ver- und geerbt, dagegen die Lama- und Alpakaherden von Frauen. Heute spielen auch andere Dynamiken mit hinein, aber diese Komplementarität ist sehr interessant. Die Textilproduktion ist eine Wissenschaft der Frauen, weil sie in der crianza mutua der Herden die dominierenden Akteurinnen sind.

Ein anderes deiner Bücher heißt „El textil tridimensional“. Was bedeutet das?

Wenn wir ein komplexes Textil weben, also mit drei bis acht Kettfäden, denken wir in drei Dimensionen. Bei der Planung der Ikonographie und der Verteilung der Farben müssen Vorderseite, Rückseite und die Mitte des Textilkörpers zusammen gedacht werden. Deine Finger müssen beim Weben die Verläufe der Fäden durch das Gewebe spüren. Wir lesen Textilien immer von beiden Seiten, weil wir nur so Technik und Struktur erkennen können. Deswegen haben wir in der Ausstellung im MUSEF die Textilien auch von beiden Seiten gezeigt.

Das war eine der Neuerungen in der Textilausstellung, die dein erstes Projekt als Direktorin des MUSEF war.

Die Textilien hingen wie Gemälde an der Wand. Für die Akademiker*innen war das gut, denn sie weben nicht, sondern bewundern die oberflächliche Schönheit und ordnen die Textilien nach Region und Chronologie: archäologisch, historisch, ethnografisch. Es war eine zentrale Forderung der Weberinnen, dass das Museum mit seinem Bildungsauftrag zeigen muss, wie ein Textil konstruiert wird. Wir haben die Textilsammlung entsprechend der operativen Produktionskette neu analysiert und in der Ausstellung die ganzen Prozesse, die ich erwähnt habe, gezeigt. Das sieht man in kaum einem anderen Museum, weil so gut wie immer das Wissen aus der Praxis fehlt, das dafür nötig ist. Wir haben die Herausforderung angenommen, zwischen „Theorie“ und „Praxis“ in Dialog zu treten und in gegenseitigem Respekt in Ko-Autorschaft zu arbeiten, um das Wissen um die Objekte vollständig und in ganzer Breite vermitteln zu können. Diese Herangehensweise des MUSEF kann auch für andere Museen interessant sein.

Inwiefern?

Ich war in einigen ethnologischen Museen in Europa. Das fehlende praktische Wissen des Personals führt zu Fehlern bei der Klassifizierung von Objekten, die etwa mit der Terminologie der Haute Couture beschrieben wurden. Ganz erstaunt war ich über eine wich’uña3 aus Lamaknochen, die als Zerstampfer für Kartoffeln katalogisiert war. Ein weiteres Problem ist, dass in den Sammlungen oft gar nicht die ganze Produktionskette abgebildet ist, was mit dem fehlenden Interesse der Archäolog*innen und Sammler*innen für diese Prozesse zusammenhängt. Außerdem habe ich Desinteresse und mangelnde Wertschätzung in einigen Museen erfahren. Das ist traurig zu spüren, dass ich als Weberin diese spezialisierten Informationen zur Verfügung stelle, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Ich denke, da muss noch einiges an Selbstreflexion geschehen, damit respektvolle Kollaborationen und Austausch von Wissen möglich werden.

Wir haben viel über die Herstellung von Textilien gesprochen. Was ist mit ihrer Verwendung?

Textilien sind nicht nur Objekte, sondern auch Subjekte, so wie viele Dinge in den Anden. Ein Textil herzustellen heißt, Leben hervorzubringen, einen lebendigen Körper, ein Subjekt, eine Person: Das Spinnen entspricht den ersten Schritten des Lebens. Indem wir die Struktur des Textils aufbauen, schaffen wir das Skelett des Körpers, der genährt wird, bis er eine Person ist. Es begleitet und wärmt dich, schützt dich vor Sonne und Regen, umgekehrt dankst du ihm und sorgst für es. Mit dieser komplementären Beziehung sind wir beim sozialen Leben der Textilien. Es gibt solche für den täglichen Gebrauch, die je nach comunidad, ayllu oder Region variieren. Hier entwickelt jede Weberin ihren eigenen Stil. Festliche Textilien sind sehr arbeitsaufwändig in ihrer Herstellung, sie sind einzigartige Kunstwerke, in denen viel Kreativität steckt. Ein lokales Fest ist wie eine offene Galerie der Landschaft, in der wir allerhand entdecken und uns inspirieren lassen. Ganz anders die zeremoniellen Textilien für bestimmte Anlässe wie den Wechsel der Autoritäten oder die Kreuzung der Lamas und Alpakas. Es gibt spezifische Formate, die nur für festgelegte Zwecke verwendet werden dürfen, zum Beispiel Tücher nur für Coca. Diese Dynamiken haben eine eigene Sprache, die wir auch von Kind an lernen.

Das soziale Leben der Textilien ist Thema der letzten Ausstellung Vistiendo memorias. Wir haben wieder mit Weberinnen zusammengearbeitet, und das war unglaublich: Zum Beispiel die axsus und anakus4 in der Museumssammlung kannten sie nur durch Erzählungen, weil es sie in den comunidades nicht mehr gibt. Aber anhand ihrer Beschreibungen in Quechua und Aymara konnten wir die Textilien im Museum genau identifizieren und zu neuem Leben erwecken. Die mündlichen Überlieferungen helfen uns enorm dabei, die Transformationen der Textilien und Bekleidung und der Gesellschaft insgesamt durch die Zeit zu verstehen. Heute tragen wir polleras, aber früher waren es axsus und anakus.

Es werden zunehmend Textilien aus synthetischen Fasern und künstlichen Farbstoffen gewebt. Hat die Wissenschaft der Frauen eine Chance in der Zukunft?

Es gibt comunidades, die weiterhin etwa ahuayos mit komplexen Strukturen und Techniken weben, aber mit künstlichen Fäden. Es ist nicht alles Wissen unmittelbar bedroht. Wir haben ein Bildungsproblem, und vor allem eines der Monokultur, die dafür sorgt, dass du Industrieware unhinterfragt konsumierst. Bolivien importiert in großem Stil billige Stoffe aus China, aus denen polleras oder Kostüme für die Festumzüge geschneidert werden. Diese industriellen Stoffe wie Chiffon sind wie Plastik und tragen zur Umweltverschmutzung bei. Die chola paceña hat nichts mit dem Rohstoff ihrer pollera zu tun, mit diesem Rock, der in der Kolonialzeit entstand und eine neue Identität geschaffen hat. Das ist ein interessanter Prozess, aber ich denke, wir müssen diese verschränkten Probleme von mangelndem Wissen, fehlender Wertschätzung und unzureichender Selbstreflexion angehen. Es wäre schön, wenn Schulen und Universitäten das Wissen um natürliche und umweltfreundliche Ressourcen vermitteln würden, die wir uns wieder aneignen können. Bolivien war mal einer der größten Baumwollproduzenten, heute wird in den Regionen nur noch genmanipulierte Soja angebaut. Gerade in Zeiten dieser Pandemie müssen wir verantwortungslosem Konsum entgegenwirken, sonst stehen wir bald vor sehr ernsten Problemen.

Was sind deine Pläne, nachdem du deinen Posten als Museumsdirektorin plötzlich räumen musstest. Webst du wieder mehr?

Ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit zum Weben haben werde, werde aber weiterhin den Ausgleich suchen. Ich möchte weiter forschen, mit den comunidades zusammenarbeiten, auch den städtischen, und mein Wissen an sie weitergeben, denn mit den ganzen Erfahrungen der letzten Jahre kann ich nicht einfach gehen. Mir wurde aufgrund meiner Hautfarbe gekündigt, wegen der rassistischen Strukturen. Das ist traurig, aber ich bin froh über das, was ich erreicht habe, und werde weitermachen.

Denise Arnold und Elvira Espejo, Ciencias de las mujeres. La cadena de producción textil desde los ayllus de Challapata. La Paz: Fundación Interamericana, ILCA, 2010

El textil tridimensional. La naturaleza del tejido como objeto y como sujeto. La Paz: ILCA, 2013

  • 1. wörtlich etwa: gegenseitige Aufzucht oder Erziehung
  • 2. vielseitig einsetzbare rechteckige Decke, von Quechua away (weben)
  • 3. Instrument, um Fäden zu separieren
  • 4. tunikaähnliches Bekleidungsstück von Frauen aus vorkolumbischer Zeit