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Kein Denkmal für die Stechmücke

Wie Epidemien die politische Entwicklung der Karibik prägten – und warum wir so wenig davon wissen

Die Geschichte der Karibik, wie wir sie kennen, erzählt von Kolonialismus und Widerstand, Sklaverei und Aufständen, Politikern und Generälen, Krisen und Klassen – nicht von Viren und Epidemien. Eine Ausnahme: die Eroberung Amerikas und die Ausrottung der Eingeborenen durch die Seuchen, die die Spanier einschleppten. Aber ansonsten galten Krankheiten als das trockene Fach der Medizinhistoriker.

Bert Hoffmann

Es bedurfte der Corona-Krise, damit ich jene Bücher ökologischer Geschichtsschreibung auf den Lesestapel holte, die Viren und Moskitos ihre volle Bedeutung für die politische Entwicklung Amerikas und der Karibik geben. Und die ist gewaltig.

Der Schlüsselbegriff ist „Differenzielle Immunität“. Krankheiten und Epidemien haben eben nicht alle gleichermaßen dahingerafft, sondern waren parteiisch, wie John R. McNeill in seinem Buch „Mosquito Empires“ schreibt. Der große Killer, das war vom 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Gelbfieber. Damals wusste man noch nicht um den Übertragungsweg von Stechmücke, Blut und Virus. Aber es war immer wieder erlebtes Erfahrungswissen: Sobald die Regenzeit begann, fielen aus Europa kommende Einwanderer, Seeleute und Soldaten zu Tausenden dem Gelbfieber zum Opfer. Dagegen blieben diejenigen, die schon in der Karibik geboren worden waren, weitestgehend verschont. Heute wissen wir, warum: Sie hatten in der Regel Gelbfieber schon in der Kindheit durchgemacht, wo die Krankheit mild verläuft – und in der Folge lebenslängliche Immunität beschert. Die Viren waren parteiisch, weil die im Laufe des Lebens erworbenen Immunsysteme verschieden waren.

Für die Rebellen in Haiti an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und in Cuba knapp 100 Jahre später war Gelbfieber der große Verbündete gegen die aus Europa entsandten kolonialen Armeen. Ohne die Parteilichkeit der Viren hätten sich Haitis schwarze Revolutionäre, die nach der Französischen Revolution auch für sich Freiheit forderten und das Ende der Sklaverei erkämpften, kaum gegen die Übermacht von Napoleons Interventionstruppen verteidigen können. Der Anführer der cubanischen Unabhängigkeitskämpfe sprach von seinen „unbesiegbaren Generälen Juni, Juli, August“ – also jenen Monaten, in denen die Regenfälle kommen, und mit ihnen die Moskitos. Guerilla-Krieg bedeutete, auf Zeit zu spielen, Schlachten aus dem Wege zu gehen und zu warten, bis „das Klima“ – wie es damals hieß – den Gegner dezimiert. Und darauf war Verlass.

Es braucht Zahlen, um sich das ganze Ausmaß vor Augen zu führen: Von den über 60 000 Soldaten, die Napoleon 1801 zur Rückeroberung Haitis entsandte, starben mehr als 50 000 – über drei Viertel davon an Krankheiten, vor allem Gelbfieber. Die Statistik für den cubanischen Unabhängigkeitskrieg ist exakter: 3100 spanische Soldaten starben an Kriegshandlungen, 41 000 an Krankheiten. Auch wenn Historienfilme den Angriff verwegener Reiter mit erhobener Machete zelebrieren: Mehr als 90 Prozent der spanischen Kolonialtruppen kamen nicht durch Macheten und Pistolen ums Leben, sondern durch den Biss kleiner Mücken.

Wenn man sich auf diesen Blick auf die Geschichte einlässt, ist man verblüfft, wie beständig sich dieses Muster über 300 Jahre hinweg wiederholt – und noch mehr ist man verblüfft, wie wenig dies in unseren gängigen Geschichtsbildern angekommen ist. Denn auch dass die Spanier ihr Kolonialreich in Südamerika auch dann noch behaupten konnten, als die Briten im 18. Jahrhundert längst Weltmeere und Waffentechnik beherrschten, ist ohne die Parteilichkeit der Viren nicht zu erklären.

Das Ende des spanischen Weltreichs wähnte man in London schon 1741 gekommen: Ein für die damalige Zeit gewaltiger Flottenverband war über den Atlantik an die Karibikküste des heutigen Kolumbien gefahren. 29 000 britische Soldaten belagerten die Festung von Cartagena. Sie waren in allem überlegen – außer in ihrem Immunsystem. Als der Regen einsetzte, gingen 22 000 innerhalb weniger Wochen elendig zugrunde. Die Verluste der Spanier dagegen lagen bei 200 bis 600 Soldaten. Viele von ihnen waren schon in Gelbfieber-Gebieten aufgewachsen; den wenigen Neuankömmlingen bot die lokale Bevölkerung der Stadt Herdenimmunität. Das spanische Kolonialreich war von außen uneinnehmbar; durch Befreiungskriege von innen fiel es hingegen später wie ein Kartenhaus zusammen. Wie kann man diese Geschichte eigentlich ohne „differenzielle Immunität“ erzählen?

So biologisch diese Darstellung klingen mag: Es geht hier keineswegs um das blinde Walten ursprünglicher Natur. Die Ökologie der Viren ist menschengemacht. Als nach 1492 die Eroberung Amerikas begann, gab es dort noch kein Gelbfieber-Virus, das die Eindringlinge hätte befallen und den indigenen Kulturen als Schutzschild dienen können. Erst als die Kolonialmächte Millionen von Afrikaner*innen versklavten und in die Karibik verschleppten, brachten sie mit ihnen auch das Gelbfieber-Virus aus Afrika in die „Neue Welt“. Und erst die neu entstehenden Hafenstädte und das Abholzen der Wälder für Schiffbau und Plantagenwirtschaft schufen jene Landschaften, die ein so ideales Habitat waren für die Mücken, die Gelbfieber übertragen. Infektionskrankheiten sind nie nur eine medizinische Angelegenheit; sie sind immer auch ein Produkt gesellschaftlicher, ökonomischer, ökologischer und politischer Prozesse.

Es ist bald 50 Jahre her, dass mit Alfr.ed W Crosbys „The Columbian Exchange“ das Pionierwerk über die ökologischen Folgen von 1492 erschien. Auch McNeills „Mosquito Empires“, welches die Ökologie der Viren in ihren Konsequenzen für die internationale Politik des karibischen Großraums vom 17. bis zum 20. Jahrhundert durchmisst, ist bereits vor zehn Jahren erschienen. In der allgemeinen Geschichtsschreibung angekommen sind sie noch lange nicht. Viren sind kein erbaulicher Stoff für Narrative nationaler Geschichtsschreibung, die Helden mit Säbeln und zu Pferde auf Denkmäler setzen will, nicht Moskitos und Mikroben.

Die weltpolitische Bedeutung des Gelbfiebervirus geht mit der US-amerikanischen Invasion Kubas im Jahr 1898 zu Ende. Die Motive für die US-Besatzung sind bekannt: ökonomische Interessen, Zuckerindustrie, Geopolitik, US-Imperialismus. Aber in ihrem Buch „Epidemic Invasions“ beschreibt Mariola Espinosa noch einen weiteren Grund: Gelbfieber.

Denn Gelbfieber betraf auch die USA. Immer wieder war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Virus mit den Handelsschiffen aus Havanna nach New Orleans und den anderen Häfen der Südstaaten gekommen. Mit jedem Ausbruch der Epidemie brach Panik aus, Tausende flohen gen Norden, die Krankenhäuser wurden überrannt, Quarantänen und Lockdowns verhängt. Um hier Wahlen zu gewinnen, mussten US-Präsidentschaftskandidaten regelmäßig versprechen, die Gelbfiebergefahr zu bannen. Die Lösung suchte man dabei nicht im eigenen Gesundheitssystem, sondern in der Besetzung Cubas.

Die Gelegenheit kam 1898, als die schwach bewaffneten Kämpfer*innen für Cubas Unabhängigkeit schon fast gesiegt hatten – mehr durch die Schlachten, denen sie aus dem Wege gegangen waren, als denen, die sie gewonnen hätten. Mehr als die Hälfte der aus Spanien entsandten Truppen lagen in den Lazaretten. Die USA hatten nun leichtes Spiel: Ein Geschwader zerstörte die spanische Flotte, zwei Wochen später erfolgte die Kapitulation. Gefechte an Land waren kaum nötig. Schnell folgte die Besetzung der Städte, die die Cubaner*innen um ihren Triumph brachte. In den USA sprach man von einem „splendid little war“. Ganze 300 US-Soldaten starben bei Kämpfen – zehnmal mehr in der Folge an Krankheit.

Für vier Jahre wurde die Insel nun von einer US-Militär­verwaltung regiert. Gelbfieber zu kontrollieren wurde oberste militärische Priorität. Bereits 20 Jahre zuvor hatte ein cubanischer Arzt korrekt beschrieben, dass die Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch über einen Zwischenträger erfolgt, nämlich die weibliche Mücke der Spezies Aedes aegyptii. Doch gehört wurde er damit nicht. Auch die Militärärzte der US-Besatzung taten dies als „cubanische Theorie“ ab. Stattdessen setzten sie auf Straßenreinigung und Sauberkeit – was jedoch die Verbreitung des Gelbfiebers in keiner Weise bremste. Schließlich experimentierte einer von ihnen dann doch in Selbstversuchen an der Moskito-Hypothese. Erst als dieser Arzt dabei selbst an Gelbfieber erkrankte und starb, schwenkte man um. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Übertragungsweg nun in Versuchen belegt.

Indem man die Moskitos und ihre Brutstätten bekämpfte, hatte man endlich ein wirksames Mittel gegen die Epidemie. Für die USA war dies ein gewaltiger Durchbruch. Nur so konnten sie auf Dauer im Land bleiben, Plantagen erwerben, Geschäfte machen. Für die Cubaner*innen war der medizinische Erfolg eher ambivalent. Für sie war Tuberkulose die weitaus schlimmere Bedrohung. Gelbfieber hingegen war nicht nur im Guerilla-Krieg ein Verbündeter, sondern „differenzielle Immunität“ brachte den Ortsansässigen auch auf dem Arbeitsmarkt Vorteile: Wenn die Regenzeit anstand, stellte kaum jemand frisch eingereiste Immigrant*innen aus Europa ein, sondern lieber auf der Insel geborene Kubaner*innen, denen das Virus wenig anhaben konnte. Für Mariola Espinosa ist die Gelbfieberbekämpfung in Cuba von daher weniger eine humanitäre Leistung als ein Musterbeispiel für koloniale Gesundheitspolitik.

Der medizinische Erfolg in Cuba öffnete den USA auch den Weg, um jenes Bauvorhaben zu vollenden, das wie kein zweites zum Symbol ihrer Hegemonialstellung im 20. Jahrhundert werden sollte: den Panama-Kanal. Denn hierzu musste man nicht nur einen Teil von Kolumbien abtrennen und zu einem neuen Staat machen, Berge sprengen und Schleusensysteme bauen. Bereits die Schotten waren Ende des 17. Jahrhunderts daran gescheitert, im heutigen Panama einen Landweg vom Atlantik zum Pazifik anzulegen (vgl. ila 372), genauso wie die Franzosen 200 Jahre später beim ersten Versuch eines Kanalbaus, weil Gelbfieber und Malaria die Arbeitskräfte zu Zehntausenden dahinrafften. So beorderte Washington die in Havanna erprobten Militärärzte direkt weiter nach Panama. Ohne Moskitobekämpfung kein Kanalbau.

So groß ihre politische Bedeutung für die Geschichte Amerikas auch war: Nirgendwo gibt es ein Denkmal für die Stechmücke. In Havanna, immerhin, gibt es ein Monument, das an sie erinnert: eine überdimensionierte, 32 Meter hohe stilisierte Spritze, die sich wie ein Obelisk auf einer Verkehrsinsel erhebt. Noch vor der Revolution erbaut, ist es ein Stein gewordenes Symbol des Aufbegehrens gegen die Deutungshoheit der USA. Deren Militärärzte sind als „Sieger über das Gelbfieber“ in die globalen Geschichtsbücher eingegangen. Das Denkmal in Havanna aber ehrt einen anderen: jenen cubanischen Arzt, Dr. Carlos Finlay, der lange vor ihnen den Übertragungsweg des Gelbfiebervirus korrekt identifiziert hatte – nicht aus imperialen, sondern aus ärztlichen Motiven.

Alle Daten und Zitate sind den folgenden Büchern entnommen:

McNeill, John R. 2010. Mosquito empires: Ecology and war in the Greater Caribbean, 1620-1914. Cambridge: Cambridge University Press

Crosby, Alfred W. 1972. The Columbian exchange: Biological and cultural consequences of 1492 Westport: Greenwood Press.

Espinosa, Mariola. 2009. Epidemic invasions: Yellow
fever and the limits of Cuban independence, 1878–1930. Chicago: University of Chicago Press

Bert Hoffmann arbeitet am German Institute for Global and Area Studies (GIGA). Ausführlicher beschreibt er das Verdrängen der Infektionskrankheiten aus der kollektiven Erinnerung Lateinamerikas in: Repressed memory: Rethinking the impact of Latin America’s forgotten pandemics, in: European Review of Latin American and European Studies, 109, 203-211. URL: http://doi.org/10.32992/erlacs.10677