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Abgründe menschlichen Handelns

Claudia Piñeiros „Cuentos“ in deutscher Übersetzung
Klaus Jetz

Nach acht Romanen hat der Züricher Unionsverlag nunmehr einen Band mit 16 Erzählungen der argentinischen Autorin Claudia Piñeiro vorgelegt. Die Grande Dame des satirischen, sozialkritischen Gesellschaftsromans erweist sich in der Kurzform als ebenso begabt wie in den „Donnerstagswitwen“, dem „Privatsekretär“ oder in „Elena weiß Bescheid“. Ihre Prosa ist realistisch, spannend, überraschend, ihr Stil konzis, präzise, geschliffen. In ihren Erzählungen, die meist im Großraum Buenos Aires angesiedelt sind, entwickelt sie auf wenigen Seiten fesselnde Intrigen, überzeugende Charaktere und unglaubliche Geschichten mit haarsträubenden Wendungen.

Abgründe menschlichen Handelns tun sich auf, etwa in „Großvater Martín“. Der ist kürzlich gestorben. Sein Lieblingsenkel Hernán fährt mit seinem Sohn aufs Land zum Haus des Großvaters, das renoviert und dann verkauft werden muss, auch wenn er es am liebsten behalten würde, doch seit der Scheidung hat er finanzielle Probleme. Auch Großvater Martín hatte Probleme mit seiner Frau, die er angeblich sehr geliebt hat, die aber mit einem anderen Mann durchgebrannt sei, so will es die Familienlegende. Als Hernán die überflüssige Trennwand im Wohnzimmer des Hauses einreißt, erlebt er eine böse Überraschung: Das Kleid seiner Großmutter kommt zum Vorschein, „samt ihren Knochen, die immer noch von dem Stoff zusammengehalten werden“.

Piñeiro liebt es, ihren Leser*innen eine spannende Geschichte zu erzählen, sie hin und wieder auch auf eine falsche Fährte zu führen, ihnen meistens aber eine erstaunliche Auflösung am Ende einer nur wenige Seiten füllenden Erzählung zu präsentieren. In „Frisiersalon Carla & Rubén“ gelingt es dem Haarstylistenehepaar, der erdrückenden Konkurrenz eines modernen Salons namens Magic, der zu einer Kette gehört, ein überraschendes Geschäftsmodell entgegenzusetzen. Carla hat die Idee, eine dicke, blonde Haarsträhne auf einem weißen Karton zu befestigen und darunter einen pfiffigen Spruch anzubringen: „Vielen Dank, Rubén! Würde ich in Argentinien bleiben, würde ich niemand anderem meine Haare anvertrauen. Küsschen! Und dieses kleine Souvenir.“ Den Karton heftet sie an den Spiegel. Nach und nach fügt sie immer mehr Kartons mit Locken hinzu. Die Sache spricht sich schnell rum und bald dichten die Kundinnen Rubén „Frauengeschichten“ an. Die Sache nimmt keinen guten Ausgang, der hier aber nicht verraten werden soll.

Ob es um das Doppelleben eines im Flugzeug verstorbenen Geschäftsreisenden geht, von dem seine Witwe erfahren muss, als die Fluggesellschaft ihr zwei identische Koffer des toten Ehemannes aushändigen lässt, um die gescheiterte Existenz eines geschiedenen Maklers, der nach Feierabend einen x-beliebigen Schlüssel aus dem Kasten im Maklerbüro nimmt und Nacht für Nacht in einer anderen Wohnung seinen Schlafsack ausrollt, oder um die anonyme Angestellte einer Reinigungsfirma, die bei ihrer Tochter eine Abtreibung vornimmt und den Fötus in einer Mülltüte entsorgt, immer handelt es sich, wie auch in den meisten ihrer Thriller, um gesellschaftskritische Charakter- und Sozialstudien, in denen Piñeiro tiefgehende, überzeugende Psychologisierungen und unglaublich anmutende Schilderungen gelingen, die ins Herz der argentinischen Wirklichkeit zielen und ein Blitzlicht werfen auf die gesellschaftlichen Verwerfungen in Buenos Aires.

Claudia Piñeiro entgleiten die Themen nicht, ihre meisterhaften Erzählungen driften nie ins Seichte ab. In gattungstheoretischer Hinsicht erfüllen sie alle Anforderungen eines klassischen Cuento: unerhörte Begebenheit, rascher Handlungsaufbau ohne Umwege, überraschende Auflösung. Sie versprechen Hochspannung und kurzweiligen, höchsten Lesegenuss.