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Mehr als ein guter Politthriller

Der Roman „Die Fahne“ von L. Hayuco
Gert Eisenbürger

Im Juni 1969 raubten Mitglieder der Federación Anarquista Uruguaya (FAU) im Nationalmuseum in Montevideo die „Fahne der 33 Orientalen“, eine Reliquie aus den Unabhängigkeitskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und ein Traditionssymbol der uruguayischen Armee. Die meisten mutmaßlich an dieser Aktion Beteiligten wurden während der Diktatur in Uruguay (1973-85) ermordet. Den Militärs hatte viel daran gelegen, sie in die Hände zu bekommen, um etwas über den Aufenthaltsort der Fahne zu erfahren. Doch die ist bis heute verschwunden.

Soweit die historischen Fakten, die dem Roman „Die Fahne“ von L. Hayuco zugrunde liegen. Nun zur fiktiven Geschichte. Sergio, Chefredakteur einer linken Zeitung in Montevideo, beauftragt die junge Journalistin Marcela mit einer Story über den Diebstahl und den möglichen Verbleib der Fahne. Weil die Anarchisten, die bei der Enteignungsaktion dabei waren, nach dem Militärputsch in Uruguay in Buenos Aires untergetaucht waren (wo sie später 1977 vom argentinischen Militär entführt und nach Uruguay zurückgebracht wurden), soll sie der argentinische Historiker Esteban unterstützen. Als Professor an der Universität Buenos Aires hat er Zugang zu den meisten Archiven, inklusive denen des Militärs.

Zunächst tragen Marcela und Esteban alles zusammen, was sie über die Aktion der Anarchisten finden können. Dann treffen sie in Montevideo Andrés, der 1969 bei der FAU, aber wohl selbst nicht in den Diebstahl der Fahne involviert war. Er hatte gezögert, ob er überhaupt mit ihnen reden solle, und stellt zu Beginn des Gesprächs klar, dass er ihnen nur allgemeine Informationen geben werde und sie von ihm keine Interna über die Organisation und die Aktion selbst erfahren würden.

Vor allem Marcela wird durch dieses und ein weiteres Gespräch mit Andrés aufgewühlt, denn es stellt bisherige Gewissheiten in Frage. Der alte Anarchist kritisiert nämlich die Erinnerungskultur der Nach-Diktaturzeit, die aus Revolutionären und Revolutionärinnen bloße Opfer gemacht und sich wenig für deren Beweggründe, ihre Träume und ihre Leben interessiert habe. Das gelte auch für die Journalist*innen, die lediglich schrieben, wer in welcher Organisation war und für welche Aktionen diese Gruppen verantwortlich waren. Sie solle „erstmal rausfinden, wie wir getickt haben und warum. Dann würdest du auch verstehen, warum wir Banken geknackt, Bonzen gekidnappt und den Scheiß-Stofffetzen haben mitgehen lassen.“

Marcela verstand sich immer als Linke, hatte bei Wahlen stets für die Linksallianz Frente Amplio gestimmt und am jährlichen Schweigemarsch zur Erinnerung an die Opfer der Diktatur in Montevideo teilgenommen. Aber nun dämmert ihr, dass ihre Sicht auf das, was in den 70er-Jahren in Uruguay geschah, von vielen Klischees geprägt war.

Auch wenn Andrés nichts über den eigentlichen Raub der Fahne erzählt, gibt er doch einige Hinweise, etwa dass sie wichtige Dokumente und Dinge immer bei unverdächtigen Vertrauenspersonen untergebracht hätten, damit sie bei ihrer Verhaftung nicht den Militärs in die Hände fielen. Das bedeutete, dass die Anarchisten, die die Fahne geraubt hatten, zwar tot waren, es aber in ihrem früheren Umfeld in Buenos Aires noch Leute geben könnte, die etwas über den Verbleib „des Stofffetzens“ wissen könnten. So fahren Marcela und Esteban in die argentinische Hauptstadt. Von Montevideo aus hatte Esteban bereits seine studentischen Hilfskräfte aktiviert und sie, wie das Profs gerne tun, mit Rechercheaufgaben beauftragt. Deswegen haben sie bereits bei ihrer Ankunft in Buenos Aires die Adresse eines Hauses, in dem ab 1973 drei Uruguayer gelebt hatten, deren Spur sich 1977 verliert. Vieles deutet daraufhin, dass sie am Raub der Fahne beteiligt waren und das gute Stück nach Buenos Aires gebracht hatten.

Marcela und Esteban suchen das Haus auf und befragen seine Bewohner*innen. Sie finden tatsächlich noch einige Zeitzeug*innen. Als wahre Fundgrube erweist sich eine notorische Denunziantin aus dem gegenüberliegenden Haus, die über alle Nachbarn und Vorkommnisse in ihrer Umgebung Buch geführt hat.

Als Marcela von einem Unbekannten bedroht wird und Esteban der Zutritt zum Militärarchiv, in dem er bereits des Öfteren gearbeitet hat, plötzlich verweigert wird, merken die beiden, dass ihre Befragungen und Recherchen nicht unbemerkt geblieben sind und das alles kein Spiel ist. An Ende des Buches klärt sich vieles, aber längst nicht alles auf, und manches von dem, was die beiden im Laufe ihrer Arbeit vermeintlich herausgefunden haben, erweist sich als Fake, wobei offen bleibt, ob und von wem sie gezielt auf falsche Fährten gelockt wurden.

Man könnte „Die Fahne“ als Politthriller bezeichnen. Das Buch hat alles, was einen guten Krimi ausmacht. Das Genre bietet sich an, um politische Zusammenhänge transparent zu machen, weil die Zusammensetzung vieler Hinweise zu einem Ganzen sein Kernstück ist. Zudem können im Zuge von Ermittlungen Leute aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus zu Wort kommen und es steigert die Spannung, wenn unklar ist, ob Bedrohungen real oder nur einer Paranoia geschuldet sind. Dies setzt auch L. Hayuco ein, aber anders als in den meisten Kriminalromanen entwickeln sich seine Ermittler*innen im Laufe des Buches, Marcela und Esteban sind vor allem aufgrund ihrer Begegnungen mit Zeitzeugen am Ende des Romans nicht mehr dieselben wie zu Beginn der Handlung.

Auf jeden Fall ist das eine äußerst spannende und anregende Lektüre, von einer Autorin/einem Autor, von der/dem es im Buch nur heißt: „Die Person, die dieses Buch verfasst hat, lebt in Montevideo. Darüber hinaus ist nichts über sie bekannt. Sie möchte, dass es so bleibt.“ In Zeiten, wo Selbstdarstellung allerorts groß geschrieben wird, ist das sicher überraschend; oder einfach gute alte anarchistische Tradition.

Bezug: Buchhandel oder über denoantri@web.de