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Stierkampf, Rassismus und Klassenkampf

Der Roman „Fiesta des Blutes“ von José María Arguedas
Gert Eisenbürger

In kritischen und linken Zusammenhängen finden nur wenige Leute den Stierkampf gut. Sicher, es gibt Autoren wie Ernest Hemingway, den das archaische Moment des Kampfes um Leben und Tod zwischen Mann und Tier anzog, wie sich auch einige Intellektuelle für den Boxkampf begeistern. Eine Faszination für das „Heldische“, also ein traditionelles Bild von Maskulinität, schwingt zweifellos mit, das auch in verschiedenen Genres des Films und der Popkultur präsent ist, also auch noch in der Moderne.

Wenn aber ein Autor wie der in Genderfragen sensible José María Arguedas (1911-1969) einen Stierkampf ins Zentrum der Handlung eines Romans stellt, zielt er sicher nicht auf ein Abfeiern männlicher Körperlichkeit. Ihm geht es vielmehr um die Darstellung unterschiedlicher Weltsichten und Lebensweisen. Indem er die Auseinandersetzungen um die Durchführung eines Stierkampfes beschreibt, entwirft Arguedas in seinem 1941 erschienenen ersten Roman „Yawar Fiesta“ (dt. Fiesta des Blutes, 1980) ein glasklares Bild der andinen und letztlich gesamten peruanischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schauplatz der Handlung ist Puquio, eine aus vier indigenen Ayllus (Dorfgemeinschaften) und einem von Weißen und Mestizen bewohnten kleinstädtischen Viertel bestehende andine Gemeinde, Hauptort der Provinz Lucanas und Sitz des von Lima entsandten Subpräfekten. Die südöstlich der peruanischen Hauptstadt gelegene Provinz gehört zur Region Ayacucho, bis heute eine der ärmsten Gegenden des Landes. In Puquio findet immer am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, ein großes Fest statt. Höhepunkt ist der einzige Stierkampf des Jahres. Der wird nicht in einer Arena und mit professionellen Toreros bestritten, sondern auf der Plaza eines der Ayllus, wo junge Männer aus den Gemeinden gegen die Stiere antreten. Mit ihren Ponchos reizen sie die Tiere, die am Ende nicht abgestochen, sondern mit einer Ladung Dynamit ins Jenseits befördert werden. Zwar gelten einige der jungen Männer als besonders geschickte und mutige Kämpfer, aber im Zentrum des Interesses steht nicht ein individueller Torero, sondern der Wettstreit der verschiedenen Dorfgemeinschaften. Bei dem Ritual gibt es fast immer Tote, auch weil die wohlhabenden Weißen Alkohol verteilen und dann die angetrunkenen indigenen Kämpfer zu besonders waghalsigen Aktionen antreiben, um sich an den blutigen Folgen ergötzen zu können.

Also ein durchaus abstoßendes Ritual. Doch auf einmal soll alles anders sein.

Kurz vor dem Nationalfeiertag bestellt der Subpräfekt die angesehenen weißen Männer in seinen Amtssitz und teilt ihnen mit, ein Dekret aus Lima verbiete fortan diese Art von Stierkampf. Die Honoratioren sind entsetzt, das blutige Spektakel zählt zu ihren beliebtesten Belustigungen. Aber da sie die Obrigkeit für den Schutz ihrer Interessen und die Straflosigkeit ihrer Verbrechen an den Indigenen brauchen, versichern sie dem Subpräfekten speichelleckerisch ihre Zustimmung und Unterstützung. Lediglich einer der Großgrundbesitzer und Obermacho vom Typ „Das Gesetz bin ich und der Staat hat mir nicht reinzureden“ widersetzt sich der Anordnung und landet dafür kurzfristig im örtlichen Gefängnis.

Ganz anders die Reaktion der Indígenas. Für sie ist der Stierkampf einer der Höhepunkte des Jahres, kein Spektakel, sondern ein Opferritual, das nach einer festen Choreografie verläuft, wovon der eigentliche Kampf auf der Plaza nur der letzte Akt ist. Vorher stehen das Einfangen der wilden Stiere durch alle Männer des Ayllu, das Blasen bestimmter, in allen Gemeinden zu hörender Melodien auf ihren Hörnern, spezielle Gesänge der Frauen am Vorabend und unmittelbar vor dem Kampf. Undenkbar, dass der alljährliche Stierkampf nicht stattfindet. So bereiten sich die Indígenas trotz der offiziellen Absage auf ihn vor.

Eine dritte Gruppe sind die Mitglieder des „Unionszentrum Lucanas“. Das ist eine vor allem aus Arbeitern und Studenten (nur Männer) bestehende Gruppe von indigenen und mestizischen Immigranten aus der Region Lucanas in Lima. Sie sind von sozialistischen Ideen beeinflusst. Das Zimmer ihres Sprechers schmückt einzig ein Bild von José Carlos Mariátegui, dem originellen marxistischen Theoretiker und Gründer der Sozialistischen Partei Perus. Für sie ist der alljährliche Stierkampf ein widerliches Spektakel, wo sich weiße Grundbesitzer auf Kosten der „Indios“ (so nennt sie Arguedas) amüsieren. Sie sind die einzigen, die das Verbot der Stierkämpfe wirklich begrüßen und unterstützen.
Unterdessen spüren die Honoratioren und der weiße Ortsbürgermeister, dass sich die Indigenen den Stierkampf keinesfalls werden nehmen lassen. Der Subpräfekt wischt als Vertreter des peruanischen Staates deren Befürchtungen weg. Das Dekret werde durchgesetzt, notfalls unter Einsatz der Gendarmen und deren Waffen. Den weißen Grundbesitzern wären zwar ein paar tote Indigene egal, aber sie fürchten eine nicht mehr kontrollierbare soziale Explosion, wenn es zur Konfrontation käme. Die Lösung aus dem Dilemma: ein – durch das Dekret nicht verbotener – Stierkampf wie in Lima, in einer Arena und mit einem professionellen Torero. Der Pfarrer solle die Indigenen davon überzeugen, eine Arena aus Holzstämmen zu bauen. Dass nicht ihre Leute, sondern ein Torero aus Lima gegen den Stier antreten würde, sollten sie erst im letzten Moment erfahren. Letzterer würde von Mitgliedern des „Unionszentrums Lucanas“ unter Vertrag genommen, die Gemeinde käme für dessen Gage auf.

Die Indigenen lassen sich darauf ein und bauen die Arena. Am Vortag des Kampfes starten sie den heikelsten Teil der Vorbereitung, nämlich das Einfangen des Stieres, diesmal ein besonders wildes und gefürchtetes Exemplar seiner Gattung, das wegen seiner enormen Kraft und Unberechenbarkeit manchen als göttliches Wesen gilt. Alle Männer aus einem der Ayllu beteiligen sich daran. Geschützt fühlen sie sich durch ein Opferritual des traditionellen indigenen Priesters (nicht zu verwechseln mit dem der katholischen Kirche), der darin vom Gott der Berge die Erlaubnis erbat, den Stier fangen zu dürfen. Das gelingt dem indigenen Kollektiv, auch wenn einer der Fänger dabei sein Leben verliert, während der erwähnte großspurige Großgrundbesitzer zuvor kläglich gescheitert war.

Die Aktivisten des Unionszentrums Lucanas beobachten das Herbeischaffen des gefangenen Stieres und sind beeindruckt von der Kraft und Entschlossenheit der Indígenas. Aber sie verstehen nicht, dass diese auf kollektiven Traditionen und Ritualen basieren, sondern glauben ganz im Sinne eines mechanistischen Fortschrittsdenkens, die Indígenas seien erst dann eine Macht, wenn sie ihren „Aberglauben“ ablegten.

Der Roman entwirft eine ganz andere Sicht. José María Arguedas, Autor und Ethnologe, sagte von sich, der Marxismus habe ihn zwar entscheidend geprägt, sein „magisches Denken“, seine Verwurzelung in der andinen Kosmovision aber habe er nie aufgegeben. Im Roman macht er klar, dass die von mechanistisch denkenden Linken als „Aberglaube“ abqualifizierte indigene Weltsicht eine entscheidende Kraftquelle ist, was die indigenen Bewegungen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eindrucksvoll belegen. Es war übrigens der international wirkungsmächtigste peruanische Intellektuelle im 20. Jahrhundert, der Theologe Gustavo Gutiérrez (Jg. 1928), der als einer der ersten das Potenzial der andinen Kosmovision für tiefgreifende politische Veränderungen erkannte. Sein 1972 erschienenes Buch „Theologie der Befreiung“, das einer ganzen Strömung im Katholizismus den Namen gab und soziale Bewegungen weltweit inspirierte, ist dem drei Jahre zuvor durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Atheisten José María Arguedas gewidmet.

Manche Traditionsmarxist*innen halten dagegen an ihrem mechanistischen Denken fest. Trauriges Zeugnis dessen sind auch einige Passagen im Nachwort der 1980 im Ostberliner Verlag „Neues Leben“ erschienenen einzigen deutschsprachigen Ausgabe des Romans „Yawar Fiesta“ (abgesehen davon ein großes Kompliment an dessen Autorin, die Übersetzerin Juliane Bambula-Diaz, die Arguedas’ Wechsel zwischen dem Spanisch der Weißen und dem mit sehr vielen Quechua-Begriffen – alle im Anhang übersetzt und erklärt – angereicherten Spanisch der Indígenas sehr gut löst).

Zurück zum Roman. An jenem 28. Juli fand in Puquio ein Stierkampf statt. Ob er nach den Regeln der spanischen Corrida oder dem Ritual der Indígenas stattfand, und wer den Stier schließlich zur Strecke brachte, sei hier nicht verraten.

Doch der Stierkampf ist letztlich nur eine Parabel darüber, dass es nicht nur das offizielle Peru gibt. Der große bolivianische Filmregisseur Jorge Sanjinés (Jg. 1936) hat dies 1989 in seinem Meisterwerk „La Nación Clandestina“ für sein Land wunderbar in Bilder übersetzt und gezeigt, dass neben dem „offiziellen Bolivien“ eine geheime, eine verborgene, nach eigenen Gesetzen funktionierende Nation, die der Indigenen, existiert. José María Arguedas hatte dafür schon 50 Jahre zuvor die richtigen Worte gefunden.