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Vom „Traum jeder Zelle, mehr Zellen zu werden“

Über das Artensterben in der mexikanischen Dichtung

In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Artensterben zum ersten Mal in der mexikanischen Literatur zu einem wichtigen Thema. Die Literaturwissenschaftlerin Carolyn Fornoff gibt uns einen Überblick über die wichtigsten Vertreter*innen des Genres.

Carolyn Fornoff

Dieser Trend in der Lyrik wurde von der international agierenden Bewegung „Save the Whales“ (Bewegung zur Rettung der Wale) angestoßen sowie durch das Bestreben der mexikanischen Regierung unter Luis Echeverría, Mexikos Küsten- und Meeresressourcen stärker zu beachten. Die Grauwale, die sich in den warmen Lagunen der Baja California-Halbinsel paaren, wo die Grauwalkühe auch ihre Kälber gebären, standen zuerst im Fokus des Interesses. Obwohl die Tötung des Grauwals bereits 1937 international verboten und 1946 auch der kommerzielle Walfang untersagt worden war, löste der Druck, Baja California wieder für den Walfang zu öffnen, Mitte der 60er-Jahre eine erneute Debatte aus. Dennoch setzte die Regierung von Echeverría darauf, dass sich eine strenge Naturschutzpolitik positiv auswirken würde, sowohl international, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit in Sachen Umweltschutz, als auch national, zur Stärkung der eigenen Souveränität. Im Jahre 1972 wurde in der Laguna Ojo de Liebre ein Schutzgebiet für Grauwale eingerichtet. Einige Monate später wurde auch die Lagune San Ignacio durch eine weitere Verordnung zum Schutzgebiet erklärt und der Naturschutz auf Zugvögel ausgeweitet. Die Vermarktung des Whale watching (Walbeobachtung) florierte, aber zugleich auch die Fischereiindustrie, was zu einer Debatte über die Wirksamkeit von Vorschriften führte.
Vor diesem Hintergrund erschienen zwei Pioniere der mexikanischen Umweltlyrik, José Emilio Pacheco und Homero Aridjis. Beide bezeichneten den Grauwal als das symbolische Opfer der mexikanischen Moderne. Im Jahr 1976 veröffentlichte Pacheco einen Gedichtband mit dem Titel „Islas a la deriva“ (Driftende Inseln), der einen Abschnitt mit der Überschrift „Especies en peligro (y otras víctimas)“ (Gefährdete Arten (und andere Opfer)) enthält. Darin interpretiert Pacheco das Artensterben im weitesten Sinne als den möglichen Ausschluss von allem: von Walen und Vögeln bis hin zu den Künsten und der Meerjungfrau. Mit dieser freien Interpretation gefährdeter Subjekte markiert er das Aussterben als Hinweis auf und Symptom für einen weitgehenden gesellschaftlichen Ruin.

In seinem Gedicht „Zopilote“ (Geier) resümiert Pacheco, dass das Verschwinden des bedrohten kalifornischen Kondors eine Epoche einleiten würde, in der die Welt im Müll untergeht. In seinem Gedicht „Ballenas“ (Wale) beklagt er das gefühllose Schlachten von Walen zum Zweck der Herstellung von Konsumartikeln wie „Lipstic, Jabón, Aceite/Alimento de Perros“ (Lippenstift, Seife, Öl/Hundefutter). Das Gedicht „Augurios“ (Omen/Vorzeichen), enthalten in der Sammlung „Desde entonces“ (Von jetzt an, 1980), verknüpft das Verschwinden von Vögeln aus Pachecos Hinterhof mit der Luftverschmutzung in Mexiko-Stadt. In diesen Gedichten symbolisieren gefährdete Tierarten eine düstere Vorahnung eines bevorstehenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Das Aussterben wird sowohl als allegorische als auch als materielle Folge der Exzesse der Moderne betrachtet.

Auf ähnliche Weise hat auch Homero Aridjis sowohl als Umweltaktivist als auch in seiner Lyrik das Artensterben in den Vordergrund gestellt. Im Jahre 1985 gründete Aridjis die Vereinigung „Grupo de los Cien“ (Gruppe der Hundert), ein Zusammenschluss lateinamerikanischer Intellektueller, mit dem Ziel, sich für strengere Regeln zum Schutz der Umwelt einzusetzen. Im Vordergrund ihrer Aktivitäten stand im Jahr 1986 der Schutz des Monarchfalters, im Jahr 1987 der Anstoß, die Luftqualität in Mexiko-Stadt durch die Kampagne Hoy no circula (Heute bleibt das Auto stehen) zu verbessern, und im Jahre 1990 das Verbot des kommerziellen Verkaufs von Meeresschildkröten. Im Jahre 1988 gelang es der Gruppe, den mexikanischen Präsidenten Miguel de la Madrid dazu zu bringen, das Biosphärenreservat Vizcaíno einzurichten. Neben diesem persönlichen Engagement (unter anderem Veränderungen auf staatlicher Ebene, Zusammenarbeit mit internationalen Naturschutzgruppen) setzt sich Aridjis in seinen Gedichten auch mit dem Artensterben auseinander, insbesondere dem der Flaggschiffarten (flagship species) wie Wal und Kaiserspecht.

Verglichen mit der hoffnungsvollen Beharrlichkeit seines Aktivismus ist Aridjis‘ Lyrik eher fatalistisch und voller unruhiger Melancholie. Aridjis greift immer wieder auf apokalyptische, biblische Bilder zurück, in denen die letzten Mitglieder der Menschheit von Stille und Zerstörung umgeben sind. In Gedichten wie „Descreación“ (in etwa „Ent-Schaffung/-Schöpfung“, 1990) wird das Artensterben als unabwendbare Folge der destruktiven Eingriffe der Menschen beschrieben. Andere Gedichte beklagen, dass der Rückgang der Artenvielfalt unsichtbar bleibt. In dem Gedicht „Extinción del pájaro carpintero imperial“ (Aussterben des Kaiserspechts, 1998) wird das Schweigen des Vogels mit den ununterbrochenen Abholzungen in Verbindung gebracht. In seinen Gedichten macht Aridjis problematischerweise die gesamte Menschheit für die Naturzerstörung verantwortlich, die somit über einen Kamm geschoren wird.
In den vergangenen zehn Jahren ist in Mexiko eine neue Generation von Dichter*innen hervorgetreten, die sich mit dem Rückgang der Artenvielfalt beschäftigen. Im Gegensatz zum melancholischen, apokalyptischen Duktus von Pacheco und Aridjis wirken die Gedichte der zeitgenössischen mexikanischen Lyriker*innen hinsichtlich des Artensterbens weniger unheilvoll und finster. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die wissenschaftlichen Belege für die anhaltende Umweltzerstörung heutzutage wesentlich alarmierender sind als noch in den 80er-Jahren. Diese Abkehr von Melancholie und Verzweiflung kann den Unterschieden zwischen den Generationen zugeschrieben werden.

Während Pacheco und Aridjis zu den ersten Künstlern gehören, die ein Umweltbewusstsein in ihren Gedichten thematisiert haben, wurden zeitgenössische Dichter*innen wie Karen Villeda, Isabel Zapata, Xitlalitl Rodríguez Mendoza und Maricela Guerrero erst Ende der 70er- bis Mitte der 80er-Jahre geboren. Als sie aufwuchsen, waren Umweltschutzbewegungen bereits aktiv, daher reagieren sie in ihren Gedichten auch vielfach kritisch (zum Teil berechtigt) auf deren Ausdrucksformen als moralisierend, wertend und scheinheilig. Zeitgenössische Lyriker*innen halten sich mit aggressiven Beschuldigungen zurück, wenn es um Umweltschutz geht, und vermeiden moralisierende Tendenzen.

Um dies zu erreichen, behandeln etwa Karen Villeda und Isabel Zapata das Artensterben nicht in aktuellen Vorfällen, sondern greifen auf historische Ereignisse zurück, mit größerem zeitlichem und geografischem Abstand. In Karen Villedas Gedichtband „Dodo“ (2013) wird an die Ankunft der Niederländer auf der Insel Mauritius im späten 16. Jahrhundert erinnert. Dort trafen die Seeleute auf den Dodo, der sich aufgrund seiner Flugunfähigkeit und – da er keine natürlichen Feinde besaß – seines fehlenden Flucht- oder Verteidigungsverhaltens als einfache Nahrungsquelle erwies. Weniger als 100 Jahre später war der Dodo ausgestorben. Der Dodo wurde das erste lebende Tier, das in Schriften als vom Menschen ausgerottet anerkannt wurde. Sein Aussterben wurde zu einem zentralen Phänomen im Hinblick auf irreversible Umweltschädigungen von Siedlern. Villedas Gedichtband „Dodo“ bietet fragmentierte Einblicke in dieses historische Ereignis. Statt die für die Erzählung solcher Abenteuerreisen häufig verwendete epische Form zu nutzen, entwirft Villeda das Aufeinandertreffen von Imperium und Aussterben als chaotische und gewalttätige Vorgänge, voller Handlung, aber ohne Plan.

Isabel Zapata beschäftigt sich hauptsächlich mit der Darstellung des Aussterbens von Lebewesen und dessen Folgen. In ihrem Gedicht „Miembro Fantasma“ (Phantomglied) geht es um den Thylacinus (lateinisch, deutsch: Beutelwolf), den tasmanischen Tiger oder Wolf, der 1936 in Tasmanien ausgestorben ist. Das Gedicht befindet sich in ihrem ersten Gedichtband „Una ballena es un país“ (Ein Wal ist ein Land, 2019), eine Art Bestiarium (mittelalterliche Tierdichtung) des 21. Jahrhunderts. „Miembro Fantasm“ gleicht einem Archiv, in dem das Aussterben des Thylacinus in einer Sammlung aus Fotos, Filmen, Augenzeugenberichten und wissenschaftlichen Belegen festgehalten wird. Diese Form der Aufzeichnung suggeriert, dass erst durch das Aussterben des Tieres unser Interesse für seine Lebenswelt erweckt wurde. Was nach dem Aussterben des Beutelwolfes bleibt, ist schließlich eine Reihe fehlgeschlagener Versuche, seine Existenz zu rekonstruieren – so wie auch in Zapatas Gedicht. Damit weist Zapata darauf hin, dass die Menschen weniger an den Tieren selbst, sondern vielmehr an deren fantasievoller Nachbildung interessiert sind.

In zwei jüngst erschienenen Gedichtbänden richten zwei weitere mexikanische Lyrikerinnen den Fokus jedoch wieder stärker auf die gefährdete Tierwelt Mexikos. Mit „Jaws“ (Haie, 2015) von Xitlalitl Rodríguez Mendoza und Maricela Guerreros „El sueño de toda célula“ (Der Traum jeder Zelle, 2018) beschäftigen sich die beiden Autorinnen mit der Gefährdung der Haie beziehungsweise des mexikanischen Wolfs. In ihren Gedichten ziehen sie Vergleiche zwischen der Prekarität und Vermarktung von nichtmenschlichem und menschlichem Leben in der neoliberalen Ära. Dieser Interpretation zufolge bedrohen die Ursachen für das sechste Massensterben (extraktiver Kapitalismus, menschlicher Egozentrismus) nicht nur einzelne, sondern alle Lebensformen auf dieser Erde.

Das wiedererwachte Interesse am Artensterben in der zeitgenössischen mexikanischen Lyrik baut somit auf einer Tradition umweltbewusster Dichtung auf, die bereits in den 70er-Jahren begonnen hatte. Mit dem Fokus auf das Aussterben wird ein sowohl effektives erzählerisches als auch ästhetisches Mittel gewählt, um auf die Dringlichkeit des Untergangs der Natur hinzuweisen.

Die hier vorgestellten mexikanischen Dichter*innen erinnern uns an unsere kollektive Verantwortung gegenüber dem Netz des Lebens, in das wir alle verstrickt sind. Das Verschwinden der Artenvielfalt, so ihr Appell, ist ein weiteres Symptom für die Schäden des kapitalistischen Systems (mit unaufhörlichem Wachstum und Akkumulation), das letztendlich auf der Vermarktung der gesamten begrenzten Ressourcen des Planeten beruht. Als Gegenmaßnahme empfiehlt Maricela Guerrero, den großen „Traum jeder Zelle, mehr Zellen zu werden“ zu feiern. Diese Politik des Werdens, in der das Leben dem Leben Platz macht, sollte uns, so Guerrero, motivieren, unsere Beziehung zur nichtmenschlichen Welt neu zu erfinden.

Die Autorin ist Assistenzprofessorin für Lateinamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften an der University of Illinois. Übersetzung: Barbara Eisenbürger