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Poetisch-musikalischer Roman ohne exotische Klischees

„Sanfte Debakel“ von der haitianischen Autorin Yanick Lahens
Klaus Jetz

Der gerade auf Deutsch erschienene vielstimmige Roman „Sanfte Debakel“ der haitianischen Autorin Yanick Lahens (Port-au-Prince, 1953), schildert in 28 kurzen Kapiteln, wie ein Verbrechen eine Handvoll Personen berührt, quält, erschüttert und noch mehr zusammenschweißt. Auf der anderen Seite stehen die Korrupten, die bereit sind, ihr Gewissen, Recht und Gesetz über Bord zu werfen, um das schnelle Geld zu verdienen. Das ist ihre Art, dem täglichen Kampf ums Überleben zu entkommen; sie verkaufen sich als Auftragskiller oder korrupte Anwälte an die kriminelle, mafiöse politische Klasse.

Der Roman beginnt mit einem Brief des Opfers, des Richters Raymond Berthier, der seiner Frau seinen baldigen Tod ankündigt. Zwei Männer auf einem Motorrad seien ihm gefolgt, einer der beiden habe ihm seine 9-mm-Pistole gezeigt. Er habe schmutzige Geschäfte aufgedeckt, Beweise gesammelt gegen gewisse Leute. „Der Druck auf mich wird stärker, und die kaum verhüllten Drohungen lassen keinen Zweifel mehr daran, welches Schicksal gewisse Leute glauben mir bereiten zu müssen.“ Es sei so weit gekommen, dass es als ein Verbrechen angesehen werde, bestimmte Dinge beim Namen zu nennen. Die schmutzigen Geschäfte und ihre Hintermänner aber blieben straffrei.

Der Mord an Richter Berthier zieht sich durch alle Kapitel, denn alle Personen sind betroffen. Seine Tochter Brune, Sängerin, klammert sich an ihre Leidenschaft für die Musik, eine Vorliebe, die sie von ihrem Vater geerbt hat. Sie stürzt sich in Auftritte, um nicht den Verstand zu verlieren. Francis ist ein französischer Journalist auf der Suche nach einer tollen Story über Haiti, die er gewinnbringend in Paris verkaufen kann, der bald mit Brune anbandelt, die er am Ende mit nach Paris nimmt. Brunes erster Freund Cyprien wechselt die Seiten, weil er leben und die Abstürze in den Griff bekommen will; die Stadt sei ein „kochender Kessel“, und man müsse „zum Schaum streben, wenn man nicht beim Bodensatz landen“ wolle. Ezéchiel, der Revolutionär aus dem Slum, ist auch Dichter, der die Revolte predigt und den Tod verhöhnt, ständig in Gefahr, „den Körper von Kugeln durchsiebt oder den Schädel eingeschlagen“ im Rinnstein zu enden. Er verkehrt auch mit Joubert aus dem gleichen Slum, der wie Cyprien die Seiten wechselt und für seinen Chef zum Auftragskiller wird. Und schließlich gibt es noch Brunes Onkel Pierre, schwul, todkrank, alt, „mit sechzig, fünfundsechzig Jahren ist man auf dieser Insel eine Leiche auf Abruf“, Schwager des Opfers, der seine Verbindungen spielen lässt, auf Aufklärung des Mordes besteht und so selbst in die Schusslinie der Mafia gerät. Er fungiert als Ruhepol des rührigen Freundeskreises, den er immer wieder um seinen Tisch versammelt. Er kennt die Verhältnisse in seiner Heimat bestens, obwohl er diese früh verlassen musste, damit er keine Schande über die Familie bringe, schließlich begriffen die Eltern bald, „dass ihr Sohn, dieser junge Mann aus kleinbürgerlicher Familie, Mädchen nur nach Hause einlud, weil ihre Brüder ihn interessierten.“

Das letzte Kapitel enttarnt schließlich die Mörder von Raymond Berthier und zeichnet die unmittelbare Zukunft der Romanfiguren: Brune, die den Sprung in die Ferne schafft, Cyprien, der nun „oben im Schaum schwimmt“, Joubert, der auf den nächsten Mordauftrag wartet, und Ezéchiel, der seinen revolutionären Elan zwar nicht verloren, der Gewalt aber abgeschworen hat und lieber Gedichte schreibt, Pierre, der Opfer eines Überfalls in seinem Haus wird, einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommt, „aber er will sich vom Tod keine Angst einjagen lassen.“ Das einzige, was er bedauert, ist, dass ihm Raymonds Tod durch die Finger geglitten sei und ihn „zu dieser schändlichen Kapitulation“ zwinge. Und Francis, dessen Reportagen und Interviews einen gewissen Erfolg bei Haitiliebhaber*innen haben. „Poesie, Gesänge, Malerei und das Bild eines resilienten Volkes haben viel mehr Aufmerksamkeit gefunden als der in einem Absatz kurz erwähnte Tod eines Richters.“

Was ist das für ein Bild, das Lahens von Haiti zeichnet? Francis nennt es die kleine, halbe Insel, „die von sich reden macht wie ein Kontinent. Unglück. Nichts als Unglück. Haiti, das verfluchte, elende, wilde, widerspenstige Land, Haiti, das für immer kaputte Land, das aber einfach nicht totzukriegen ist.“

Vor zehn Jahren fragte ich Yanick Lahens, wie es ihr in ihrer Chronik über das Beben vom 12. Januar 2010 (vgl. ila 346) gelungen sei, eine sensationalistische Schreibweise zu vermeiden. Seit langem werde über Haiti in übertriebener Weise berichtet, sagte sie. Und die Nachrichten, die nach dem Beben in Umlauf gebracht wurden, reproduzierten Klischees nach dem Motto, die Haitianer*innen seien resilient und besonders darauf getrimmt, Katastrophen zu meistern. Die Verbreitung von vorgeprägten Bildern funktioniere so effektiv, da wolle sie gegensteuern. Schon bei Recherchearbeiten zu ihren Romanen versuche sie, exotistische Sichtweisen zu vermeiden.

Auch in „Sanfte Debakel“ verfolgt Lahens diese Linie. Der Roman ist kein reißerischer Krimi oder Thriller, er ist vielmehr ein nicht immer leicht zu lesender poetisch-musikalischer Haiti-Roman, gespickt mit Bildern und Zitaten aus literarischen und musikalischen Werken, der die altbekannten Klischees von Gewalt und Elend nicht unter den Teppich kehrt, der aber vor allem ein anderes, ausgewogeneres Bild des Landes zeichnet, ein Land mit großer künstlerischer, kulinarischer und kämpferischer Tradition.