ila

Der weitsichtige Blick des Herrn Engels

Buch mit den Beiträgen einer Tagung zu linken Utopien und emanzipatorischer Praxis in Lateinamerika
Werner Rätz

Der Band „Von Engels gelernt?“ dokumentiert eine Tagung, die am 10. und 11. September 2020 im Rahmen des Programms „ENGELS 2020 Denker Macher Wuppertaler“ von der Bergischen Universität Wuppertal und dem Informationsbüro Nicaragua e.V. organisiert wurde.

Die Herausgeber Matei Chihaia, Klaus Heß und Peter Imbusch konstatieren in ihrem Einleitungsbeitrag, es gelte, „die Diversität des marxistischen/engelsistischen Denkens in Lateinamerika anzuerkennen und die unterschiedlichen theoretischen Positionen nicht zu sehr als kohäsive Einheit zu betrachten“, und erklären, es bleibe „interessant, nach den verschlungenen Pfaden des Marxismus/Engelsismus in Lateinamerika zu fragen und den Wirkungen des Denkens der beiden Autoren – hier vor allem Engels – nachzugehen“ (S. 9f). Wenn die Leser*in sich nicht zu sehr auf die Ankündigung in der Parenthese verlässt (die Spuren von Engels im Buch sind schwächer als die von Marx), dann wird sie diese Ankündigung eingelöst finden.

In drei Kapiteln sind außer der Einführung 17 Beiträge unterschiedlichen Zuschnitts und verschiedenen Anspruchs versammelt, in denen 15 Autoren und sechs Autorinnen den „Spuren von Engels in Lateinamerika“ folgen, über die „Praxis des Sozialismus zwischen Partizipation und Emanzipation“ berichten und das mögliche „Scheitern des Sozialismus“ diskutieren. Der reine Textkorpus umfasst ohne Literaturverzeichnisse, Bebilderung, Inhaltsverzeichnis etc. immer noch 150 Seiten und man kann sich vorstellen, dass die als mündlich vorgetragenes Programm eine zweitägige Tagung extrem dicht und herausfordernd gemacht hatten, wie es auch die teilnehmenden ila-Genossinnen berichtet haben. Für Leser*innen, die nicht dabei waren, bleiben aber Unklarheiten und Fragen nach Einordnung und Reichweite mancher Beiträge. Das ist bei Tagungsbänden wahrscheinlich unvermeidlich.

Trotzdem bekommt man auch als Außenstehend*er eine ganze Reihe interessante und spannende Einblicke in aktuelle Geschehnisse und Debatten in der lateinamerikanischen marxistischen Linken. Ohne andere Texte damit herabzusetzen, möchte ich erwähnen

– den Überblick von Nikolaus Werz über den „Marxismus-Engelsismus in Lateinamerika“ (S. 18-43), der schwerpunktmäßig darauf schaut, wie das Denken von Marx und Engels in Lateinamerika rezipiert wurde,

– Maristella Svampas Darstellung des „ökosozialen, wirtschaftlichen und interkulturellen Paktes des Südens“ (S. 140-149), der ein Versuch ist, weltweite Interventionsfähigkeit der Linken ausdrücklich von den arm gemachten Ländern des Südens aus zu denken und zu gestalten, und

– Detlev Noltes Diskussion der Frage, ob der neue „Sozialismus (des 21. Jahrhunderts)“ (S. 157-170) überhaupt ein Sozialismus war und ob er primär an der Reaktion, an Staatsstreichen oder Vergleichbarem, gescheitert ist oder doch eher an Widersprüchen in den Gesellschaften und in der Linken selbst.

Von Brisanz auch für die Linke hierzulande ist Klaus Meschkats Beitrag, der dem „Erbe des Staatssozialismus“ nachspürt. Es mag verwundern, dass er dem in Lateinamerika eine größere Bedeutung beimisst, ist im traditionellen Verständnis des „real existierenden Sozialismus“ in der Hemisphäre doch höchstens Kuba ein solches Land. Aber nicht nur europäische Einwander*innen und nach der Oktoberrevolution auch einige Kommunistische Parteien hielten die Sichtweise der Komintern hoch, auch in „selbstherrlichen Vorstellungen von der Allmacht einer Staatsführung, die vorgibt, weitgespannte revolutionäre Ziele in kurzer Zeit durchsetzen zu können“. Darin weht für Meschkat der Geist „der Staatsreligion des ,Marxismus-Leninismus‘“, der auch noch „in den Proklamationen des ,Foro de São Paulo‘“ zu spüren sei (S. 184f). Und hier gilt es jetzt wirklich, Engels zu lesen: „Die siegreiche Arbeiterklasse müsse“, zitiert Meschkat ihn, „,um nicht ihrer eigenen erst eben eroberten Herrschaft verlustig zu gehen, einerseits die alte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseitigen, andererseits aber sich sichern … gegen ihre eigenen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese ohne alle Ausnahme für jederzeit absetzbar erklärte‘.“ (S. 185)

Dem ist gewiss nicht zu widersprechen und daraus ergibt sich die im Buch leider undiskutiert gebliebene Frage, ob nicht auch die Hoffnung infrage zu stellen ist, mit der Teile der Solidaritätsbewegung immer wieder auf den Süden schauen, damit dort endlich die Blaupause für „die Revolution“ geliefert werde.