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Aus eins wird vier

Eine Adoptionsgeschichte aus El Salvador

Menschen zu entführen und sie anschließend verschwinden zu lassen, gehört zum Instrumenta­rium des Staatsterrorismus. Es wurde während des Krieges in El Salvador von 1980 bis 1992 genauso systematisch eingesetzt wie Mord, Folter und die Taktik der verbrannten Erde. Die Vereinten Nationen und verschiedene Menschenrechtsorganisationen sprechen von 75 000 zivilen Opfern und ca. 8000 Verschwundenen. Darunter waren viele Kinder, nach denen ihre Familienangehörigen seit Kriegsende suchen – nicht ohne Erfolg. Hier ist eine Erfolgsgeschichte, die man gleichwohl nicht als glücklich bezeichnen kann. In einem ergänzenden Kasten werden die Unterschiede zur Suche nach den verschwundenen Kindern in Argentinien skizziert.

Ulf Baumgärtner

Als in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts im Herzen Chalatenangos im Norden El Salvadors die ersten Lager der noch jungen Guerilla Fuerzas Populares de Liberación (Volksbefreiungskräfte) entstanden, als die Streit- und Sicherheitskräfte mit immer größeren Kontingenten versuchten, „dem Fisch das Wasser abzugraben“, indem sie mordend und brandschatzend durch die Gebiete zogen, in denen die Menschen mit der Guerilla sympathisierten, da standen alle „wehrtüchtigen Männer“ vor der Wahl, sich der einen oder anderen Seite anzuschließen oder ins Ausland zu fliehen (der Guerilla schlossen sich damals auch „wehrtüchtige“ Frauen an). So auch der junge Bauer Teodoro, den heute alle ob seines Alters, seiner grauen Haare und seiner fehlenden Zähne Don Teo nennen. Er ging in die Berge zu den Volksbefreiungskräften. Deshalb konnte er im entscheidenden Augenblick, als die Armee über sein Dorf herfiel, nichts für seine Frau und seine vier kleinen Kinder tun. Sie versteckten sich in einer Höhle, wo sie jedoch entdeckt wurden. Die Soldaten brachten Teos Frau auf der Stelle um und verschleppten die vier Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und vier Jahren. Das war 1980. Weil Teo weitab vom Ort, in dem sein Haus gestanden und seine Frau und die vier Kinder gelebt hatten, im Einsatz war, erfuhr er erst Monate später, was geschehen war. Teo überlebte den zwölf Jahre dauernden Krieg zwischen der vereinigten Guerilla FMLN und den salvadorianischen Streitkräften. Er überlebte auch den Versuch seiner eigenen Leute, ihn umzubringen, weil er als mujeriego („Schürzenjäger“) ein Risiko für die Guerilla war. Heute lebt er mit einer neuen Familie wieder in Chalatenango, hat genügend Land, wenn auch ohne Eigentumstitel, um sich und seine Familie zu ernähren. Seine drei „neuen“ Kinder helfen mit, haben Abitur gemacht und zum Teil bereits angefangen zu studieren. Großvater ist er von dieser Seite aus schon geworden, von der anderen auch. Ebenso hat er – wenn auch dürftig – Kontakt mit seinen „alten“ Kindern.

Mike hat es über die Kombination von Staatsterrorismus und Adoptionshandel in die Vereinigten Staaten verschlagen. Die Soldaten brachten ihn nach dem Mord an seiner Mutter in jener Höhle in Chalatenango in ihre Kaserne, übergaben ihn schnell den ersten Helfershelfern, den „Freiwilligen Damen des Roten Kreuzes“, die ihn zu den nächsten Helfershelfern in ein privates Waisenhaus brachten. Das Waisenhaus wie­derum stand in Verbindung mit einschlägigen US-amerikanischen Adoptionsorganisationen, und so wurde Mike bald von einer Familie in Illinois adoptiert. Sie holten ihn in San Salvador ab und zahlten dem Anwalt, der für die nötigen Papiere sorgte, die damals stattliche Summe von 15 000 US-Dollar. Mike wuchs behütet auf, zusammen mit einem Adoptivkind aus Thailand und einem leiblichen Kind besagter Familie. Im Lauf der Jahre und in dem Maße, in dem immer mehr EinwanderInnen ohne Papiere aus El Salvador nach Illinois kamen, fiel er immer weniger auf. Mit den Neuankömmlingen unterhält er sich auf „Spanglish“, einer Mischung aus Spanisch und Englisch, denn Mike spricht nur Englisch, so wie man es in einer Kleinstadt in Illinois spricht, und die Neuen sprechen nur Spanisch. Zusammen Bier und Wodka trinken, das geht ohne Probleme. Mikes Adoptiveltern haben ihm eine gute Bildung zukommen lassen. Sie haben ihm auch erzählt, dass er adoptiert wurde und ursprünglich aus El Salvador stammt. Viel mehr konnten sie ihm nicht sagen, denn der salvadorianische Rechtsanwalt hatte behauptet, er sei ein Kriegswaisenkind, was die Adoptiveltern als gute Protestanten umso mehr motivierte. Eine Weile lang wollte er mehr wissen über seine leiblichen Eltern und über das Land, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte. Dort hatte sich Don Teo, der damals nicht wusste, ob seine Kinder aus erster Ehe noch am Leben waren und wo sie lebten, an den Verein zur Suche nach den im Krieg verschwundenen Kindern (Asociación Pro Búsqueda de Niñas y Niños Desaparecidos) gewandt. Mit Hilfe der wenigen vorhandenen Dokumente, Zeugenaussagen und schließlich eines DNS-Tests fanden sie Mike und später auch seine Geschwister. Mike flog nach El Salvador, traf dort auch seine aus der Schweiz angereiste Schwester Annegret und seine in San Salvador lebende Schwester Renata. Zusammen besuchten sie ihren leiblichen Vater, Don Teo, in den Bergen von Chalatenango. Das war es dann auch schon. Mike hat in­zwischen keinen Kontakt mehr mit Don Teo, und auch nicht mehr mit Annegret.

Annegret kam über dieselben Etappen wie Mike zu einer Familie, die in der Nähe von Zürich lebt. Sie ist dort aufgewachsen, ging dort zur Schule, ist Erzieherin geworden und arbeitet in derselben Kleinstadt, in der ihre Adoptiveltern wohnen, die sie regelmäßig besucht. Sie hat einen Musiklehrer geheiratet, der in der Freizeit in einer Rockband spielt, und die beiden haben vor einem halben Jahr ihr erstes Kind bekommen. Sie leben in einem schmucken Neubau, bei dessen Finanzierung noch die Adoptiveltern geholfen haben, und trinken Nespresso. Es geht ihnen gut. Annegrets (Adoptiv-)Muttersprache ist Schwyzerdütsch. Um sich mit ihrem leiblichen Vater in Verbindung zu setzen, was eher sporadisch passiert, schreibt sie mit Hilfe ihres Mannes und auf Englisch an Pro Búsqueda, wo man ihre kurzen Grüße, die manchmal von einem Scheck begleitet sind, übersetzt und in die Berge von Chalatenango bringt. Meist setzt sich dann Margarita, Don Teos Tochter aus zweiter Ehe, gleich hin und antwortet, wobei sie wegen des dürftigen Kontaktes und weil man auf dem Land in El Salvador, auch wenn man das Abitur hat, nicht gewohnt ist, Briefe zu schreiben, nie mehr als eine locker beschriebene Seite zusammenbringt. Die geht dann den umgekehrten Weg in die Kleinstadt bei Zürich. Zuletzt gefragt, ob sie nicht mal wieder Lust hätte, Don Teo und seiner Familie zu schreiben, hatte Annegret keine Lust. Mit ihren drei Geschwistern von damals, deren Namen und Adressen ihr mittlerweile bekannt sind, pflegt sie keinen Kontakt. So geht das Leben weiter – bei Zürich, zwischen Kindergarten, Musik, dem eigenen Baby und einer ruhigen Zukunft.

Von Alice weiß man nur wenig und Don Teo gar nichts. Sie wurde als letzte ausfindig gemacht, in Los Angeles. Über ihre näheren Lebensumstände ist nichts bekannt. Sie kommuniziert nicht mit ihren Geschwistern von damals, nicht einmal mit Mike, den sie, wenn es sie nur ein wenig interessierte, am ehesten besuchen könnte. Umgekehrt läuft aber auch nichts, nur Don Teo erinnert sich an sie, wenn er abends vor dem Haus sitzt und seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen lässt. Er ist Alice nicht böse, nur ein wenig traurig. Ob Alice zu sehr mit ihrem Alltag in Los Angeles beschäftigt ist, ob es ihr gleichgültig ist, dass sie aus El Salvador stammt und dass dort noch ihr leiblicher Vater lebt, ob Alice Angst vor der Vergangenheit hat, mit der sie plötzlich konfrontiert wurde, als sie erfuhr, dass sie noch Verwandte in El Salvador hat, Don Teo weiß es nicht. Auch er ist mit seinem jetzigen Leben beschäftigt: mit seiner Milpa (Maisfeld) und seinen Bohnen, mit der jährlich wiederkehrenden bangen Frage, ob es rechtzeitig im Mai regnen wird und ob zu Ende der Regenzeit nicht wieder ein Hurrikan seine Ernten zerstören wird, mit seiner derzeitigen Familie und dem Fortkommen seiner Kinder hier in El Salvador.

Don Teo ist ein bescheidener Mann. Nur manchmal geht ihm durch den Kopf, dass Renata, seine jüngste Tochter aus der Zeit zu Beginn des Krieges, ihn eigentlich wieder besuchen könnte, denn sie lebt ja nur drei Autostunden entfernt in der Hauptstadt San Salvador. Damals, als er an der Front war und seine erste Frau ermordet wurde, behielt der Leutnant, dessen Truppen die Höhle entdeckten, das kleinste Mädchen für sich. Er nahm die Kleine einfach mit zu sich nach Hause: in die Militärkolonie, in der er mit seiner Frau wohnte, mit anderen Offizieren als Nachbarn und mit Mauern, Stacheldraht, Straßenschwellen, Flutlicht und schwerbewaffneten Soldaten aufs Beste geschützt. So wuchs Renata auf, im Hause des Verantwortlichen für den Mord an ihrer leiblichen Mutter. Ob der Herr Leutnant sie als Kriegsbeute mitgenommen hatte, sie aus den Klauen des Kommunismus retten oder einfach nur ein guter Vater sein wollte, weiß sie nicht, denn als sie noch in den Kindergarten ging, trennten sich ihre Adoptiveltern. Sie bekam trotzdem eine erstklassige Ausbildung, hat Betriebswirtschaft studiert und leitet heute einen Supermarkt. Dass der Leutnant nicht ihr wirklicher Vater ist, hat sie erst kurz bevor Mike und Annegret nach El Salvador kamen, erfahren. Die beiden haben sie mitgenommen zu Don Teo in die Berge von Chalatenango. Die schlechten Straßen, die beschwerliche Anfahrt, die Hühner und Schweine um das schlichte Bauernhaus herum, die einfache zweite Frau von Don Teo, die provinziellen Stiefgeschwister, die von der eleganten Erscheinung aus der Hauptstadt eingeschüchtert wirkten – das alles war Renata aus der Militärkolonie in San Salvador ebenso fremd wie ihrem Bruder aus Illinois und ihrer Schwester aus der Deutschschweiz. Mit denen unterhielt sie sich auf Englisch, wie man es lernen kann, wenn man in El Salvador Betriebswirtschaft studiert, und übersetzte für Don Teo, den sie nicht immer gut verstand, weil er mit einem ländlichen Akzent spricht und wie gesagt nur noch wenige Zähne hat. Dann fuhren sie in die Hauptstadt zurück. Mike setzte sich in sein Flugzeug und Annegret in das ihre. Renata ist eine gute Supermarktmanagerin, sie hat den Laden im Griff, sie hat ein schönes Zuhause. Das Haus ihres leiblichen Vaters und seiner neuen Familie in den Bergen von Chalatenango findet sie nicht schön; alles ist ihr dort zu primitiv. Renata könnte sich bei ihrem Einkommen Schuhe kaufen, wie man sie in den Bergen braucht, wo man mit High Heels nicht sehr weit kommt, oder auch ein Allradfahrzeug, um auch in der Regenzeit nach Chalatenango zu fahren. Das weiß sie, aber sie hat keine Lust darauf, ist sie doch glücklich in ihrer Welt. So wie Annegret in der ihren, Mike, wenn er in der Kneipe sitzt, Alice, wenn sie was auch immer tut, und Don Teo, wenn die Feldarbeit getan ist und der alte Macho vor seinem Haus sitzt und sich von seiner Frau bedienen lässt.