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Mittelamerika

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Editorial

Richteten sich in den 80er Jahren die Blicke von linken und kritischen Menschen aus der ganzen Welt auf die revolutionären Bewegungen in Mittelamerika, schien es in den 90er Jahren in dieser Region keinerlei Hoffnungen auf politische Veränderungen mehr zu geben. Die gnadenlose US-Strategie des so genannten „Krieges niederer Intensität“ hatte viele Menschen zermürbt und ihnen ihre Hoffnungen auf gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse, insbesondere aber auf ein Ende des Machtmonopols „ihrer“ Oligarchie-Familien genommen. Auch als in Südamerika linke Bewegungen erstarkten und Wahlen gewinnen konnten, blieb in Mittelamerika alles wie es war: Die Parteien der Oligarchie bestimmten die Politik.

Die alten Eliten Mittelamerikas konnten zwar mit massiver US-Hilfe die revolutionären Bewegungen in El Salvador, Guatemala und Nicaragua zurückdrängen, waren aber weder willens noch fähig, stabile gesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Sie blieben bei ihrem simplen politischen Ansatz, sich den Staatsapparat zu greifen, um mit diesem Instrument ihren Reichtum zu mehren und all jene zu unterdrücken, die dagegen opponieren. Natürlich gab es Veränderungen, wo die internationalen Märkte dies einforderten: Die Großgrundbesitzerfamilien investierten „ihr“ Geld vermehrt in den Städten, im Finanzsektor, in Versicherungen, Supermarktketten, Security-Unternehmen, Telekommunikation, Fluglinien, Garnelenfarmen, aber die Strukturen veränderten sich dadurch nicht. Die extreme Konzentration von Reichtum und Macht sowie die Ausgrenzung breiter Bevölkerungsschichten blieb ein Kennzeichen der mittelamerikanischen Staaten.

Dass sich der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheiten mitunter dennoch verbesserte, war nicht das Ergebnis einer auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und auf sozialen Ausgleich zielenden Politik, schon gar nicht ein Erfolg der „neoliberalen Reformen“, sondern vor allem dem Fleiß der Hunderttausenden von Menschen zu verdanken, die in den letzten dreißig Jahren – oft ohne Papiere – aus Mittelamerika in die USA, nach Kanada und im geringeren Umfang auch nach Europa emigrierten. Von dem Geld, das sie dort als Putzfrauen, Pizzakuriere, Brief- und PaketbotInnen, auf dem Bau oder im geringeren Umfang auch als AkademikerInnen verdienen, sparen sie soviel wie möglich und überweisen es ihren Angehörigen in Mittelamerika. Natürlich grapschen die gierigen Eliten und internationalen Unternehmen auch danach, versuchen über die Gebühren für den Geldtransfer oder über ihre Supermärkte und Shopping-Center möglichst viel davon abzugreifen.

Die Unfähigkeit oder besser der Unwille der oligarchischen Parteien, politische Projekte umzusetzen, die breiteren Bevölkerungsschichten eine Perspektive bieten könnten, eröffnete der Linken neue politische Räume: In Nicaragua wurden Daniel Ortega und die FSLN im November 2006, 16 Jahre nach ihrer historischen Wahlniederlage, wieder in die Regierung gewählt, im März 2009 gelang das der FMLN mit dem parteilosen Mauricio Funes in El Salvador. Auch in Guatemala wurde Ende 2006 mit Álvaro Colom ein Politiker zum Präsidenten gewählt, der zwar kein Linker, aber auch kein Vertreter der traditionellen Oligarchie ist. Ein solcher war hingegen Manuel Zelaya in Honduras, der aber im Laufe seiner Amtszeit auf Distanz zur Geld- und Machtelite ging, was diese als ungeheuerlichen Klassenverrat empfand. Was dann im Juli 2009 mit dem Putsch in Honduras geschah, zeigt, dass die Oligarchien in Zentralamerika weiterhin nicht bereit sind, auch nur bescheidene gesellschaftliche Veränderungen zu akzeptieren. In Guatemala ist das Säbelrasseln schon seit dem Amtsantritt Coloms zu vernehmen und auch in El Salvador sind die Repressionsstrukturen weiterhin intakt und bereit „das Vaterland zu verteidigen“, sollte die Oligarchie ihre Interessen bedroht sehen.

Aber so stark die antidemokratischen Kräfte auch sind (und wie effektiv ihre internationalen Verbindungen – in der BRD zum Beispiel mit der Friedrich-Naumann-Stiftung – sein mögen) – in Zentralamerika ist einiges in Bewegung gekommen: Soziale Bewegungen gewinnen an Kraft, neue politische Allianzen formieren sich, sei es in Honduras, Costa Rica, Panama oder auch Nicaragua, wo politische Räume gegen einen autoritären Neosandinismus verteidigt werden müssen. Es gab also viele gute Gründe, Mittelamerika wieder einmal einen ila-Schwerpunkt zu widmen. Und da in der Region so viel passiert, ist dieser Themenblock mit 44 Seiten fast 50 Prozent umfangreicher geworden als ein üblicher Schwerpunkt. Genug Lektüre für unsere Leserinnen und Leser, um die ila-Winterpause zu überstehen. Wir melden uns Mitte Februar zurück. Bis dahin wünschen wir unseren LeserInnen eine gute Zeit und würden uns sehr freuen, wenn viele den beiliegenden Spendenbrief aufmerksam lesen und uns auf die eine oder andere Weise unterstützen würden.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4   Modernisierung oder Veränderung?
El Salvador zu Beginn der Phase des cambio  / von Eduard Fritsch

8  Die Ungewissheit ist wie eine Folter
El Salvador: Reina Portillo erzählt von der Suche nach ihren beiden Nichten / von Britt Weyde

10  Don Teo und seine Familie [1]
Auf der Suche nach den verschwundenen Kindern El Salvadors / von Eduard Fritsch

11   Kein Frühlingserwachen
Guatemala: Halbzeitbilanz der Regierung Colom  / von Barbara Müller

14   Wir wussten nichts von den Massakern
Eine Filmvorführung in der Deutschen Schule in Guatemala  / von Andreas Boueke

15  Wie ein Putsch am Ende abgenickt wurde
Der honduranische Staatsstreich, die Wahlen und die Menschenrechte
/ von Erika Harzer

17   Von sauberen Wahlen kann keine Rede sein [2]
Interview mit der honduranischen Journalistin Dina Meza  / von Ina Hilse 

19   Wir kämpfen für eine wirkliche Demokratie!
Interview mit Gilda Rivera, Direktorin der honduranischen Frauenrechtsorganisation CDM
/ von Ina Hilse

20   Menschenrechtsverletzungen an Frauen in Honduras [3]
Bericht an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS)

21  Zwischen Tradition und Transformation
Die Wirtschaftspolitik der Regierung Ortega in Nicaragua  / von Klaus Heß

23  Weiterhin politische Propaganda-Apparate
In der Medienpolitik steht Daniel Ortega in der Tradition seiner rechten VorgängerInnen
/ von Andreas Hetzer

25  Ach wie schön wär' Panama
Eindrücke aus einem zweigeteilten Land / von Gaby Küppers

29  Gerangel um Ressourcen [4]
Interview mit dem salvadorianischen Ökonom Raúl Moreno über das Assoziierungsabkommen  
EU-Zentralamerika  / von Britt Weyde

31  Da bewegt sich was!
In Costa Rica haben soziale Organisationen große Bedeutung  / von Torge Löding

34  Nicht nur Einheimische
StraßenkünstlerInnen in Costa Rica  / von Fabian Kern

36  Musik reißt alle Mauern nieder
Interview mit dem Maler und Musiker Pen Cayetano aus Belize  / von Gert Eisenbürger

38   Der Königssport
Fußball in Mittelamerika  / von Alan E. Melara

40   Einladung zu einer Entdeckungsreise
Die Literatur Zentralamerikas und ihre Rezeption im deutschen Sprachraum
/ von Klaus Küpper

45   Lieferbare Belletristik aus Zentralamerika

47  Prototyp des Diktatorenromans
„Der Herr Präsident“ von Miguel Angel Asturias neu aufgelegt  / von Klaus Jetz

Berichte & Hintergründe

48  Pepe hat's geschafft
Das Linksbündnis Frente Amplio stellt zum zweiten Mal die Regierung in Uruguay / von Ernesto Kroch

50  Die Rache der Provinzfürsten
Haitianischer Senat stürzt Regierungschefin Michèle Pierre-Louis  / von Hans-Ulrich Dillmann

51  Vergangenheitsbewältigung in Mexiko
Ein Gespräch mit Tita Radilla von AFADEM  / von Zeljko Crncic

53  Der Staat kann nicht alles regeln
Interview mit dem cubanischen Ökonomen Omar Everleny Pérez über die wirtschaftliche Situation der Insel
/ von Knut Henkel

55   Der neue Flugzeugträger der USA [5]
Militärabkommen zwischen USA und Kolumbien bedroht die Region / von Juan Manuael Bueno Soria

57  Lebensretter verurteilt
Skandalöses Verfahren gegen tunesische Fischer, die Flüchtlinge im Mittelmeer aufnahmen
/ von Sigrid Becker-Wirth

Kulturszene

58   Kolumbianische Elegien [6]
Buchbesprechung  / von Ute Evers

59  Sephardische Liebesgeschichte [7]
Buchbesprechung  / von Ute Evers

60  Ein Prosit unter Palmen
Das Oktoberfest im brasilianischen Blumenau  / von Dorothea Dentler und Leonie Herbers

Ländernachrichten / Poonal

62  Argentinien, Brasilien, Chile, BRD, Guatemala, Mexiko, Dominikan. Republik, Bolivien, Ecuador

Solidaritätsbewegung

66  Viele neue Gesichter [8]
Koordinationstreffen der El-Salvador-Solidarität vom 6. bis 8. November in Frankfurt/M.
/ von Lena Voigtländer

67  Notizen aus der Bewegung

Titelfoto: Erika Harzer


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Links:
[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/don-teo-und-seine-familie
[2] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/von-sauberen-wahlen-kann-keine-rede-sein
[3] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/menschenrechtsverletzungen-an-frauen-in-honduras
[4] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/gerangel-um-ressourcen
[5] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/der-neue-flugzeugtr%C3%A4ger-der-usa
[6] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/kolumbianische-elegien
[7] https://www.ila-web.de/seph
[8] https://www.ila-web.de/ausgaben/331/viele-neue-gesichter