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Zucker

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Editorial

Der Zucker ist ein Kolonialprodukt par excellence. Mit der Einführung der Zuckerproduktion durch portugiesische und spanische Kolonisatoren im 16. Jahrhundert in Brasilien und der Karibik begann der transatlantische SklavInnenhandel, mit dem über drei Jahrhunderte lang Millionen von AfrikanerInnen aus ihren Heimatregionen verschleppt und zur Zwangsarbeit auf den Zuckerplantagen gezwungen wurden. Erst die Produktion von Zucker aus Rüben in Europa beendete die Sklaverei in den lateinamerikanischen und karibischen Zuckeranbauregionen. Doch damit endeten längst nicht die elenden Arbeitsbedingungen in der Zuckerwirtschaft.

Das für die „New Economy“ konstatierte Phänomen der „Working Poor“, der Menschen, die schwer arbeiten und dennoch wegen ihrer niedrigen Einkommen unterhalb der Armutsgrenze leben, war in lateinamerikanischen und karibischen Zuckerregionen schon immer Realität. Der Nordosten Brasiliens, neben Cuba und Hispaniola (die Insel, auf der Haiti und die Dominikanische Republik liegen) über Jahrhunderte die wichtigste Zuckerregion Lateinamerikas, ist ebenso lange der Hungergürtel Brasiliens. Während Cuba im Zuge einer tiefgreifenden Reform seiner Landwirtschaft die Zuckeranbauflächen um die Hälfte reduzieren wird (vgl. dazu ila 263 [1]), könnte es in Brasilien eine neue Konjunktur des Zuckers geben.

Dabei setzt man auf zwei Entwicklungen. Da ist zunächst die Wiederbelebung des Zucker-Alkohol-Programms, das in den frühen achtziger Jahren gestartet wurde, um die Abhängigkeit Brasiliens von Rohölimporten zu reduzieren. Innerhalb weniger Jahre wurden große Teil des Auto-, Lkw- und Busverkehrs auf alkoholbetriebene Fahrzeuge umgestellt. Die niedrigen Rohölpreise in den neunziger Jahren ließen die Nachfrage nach Alkohol als Treibstoff deutlich zurückgehen. Doch angesichts der immer offensichtlicher werdenden Begrenztheit der Ölvorkommen könnten die Ölpreise bald wieder anziehen und die Nachfrage nach Alkoholtreibstoff und damit Zucker steigen lassen.

Ein weiterer Impuls für eine Ausweitung des Zuckerrohranbaus in Brasilien könnte von der Liberalisierung des Welthandels ausgehen. Damit steht auch der europäische Zuckermarkt zur Disposition. Bis zum Jahr 2006 ist er relativ abgeschottet und schützt die europäischen ZuckerrübenproduzentInnen und die ZuckerrohrproduzentInnen aus den ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, der Karibik und im Pazifik, den so genannten AKP-Staaten. Käme es zu einer Öffnung des europäischen Zuckermarktes, hätte der hiesige Rübenzucker kaum eine Chance, da der Rohrzucker in den meisten Anbaugebieten deutlich billiger produziert wird. Das heißt, die ZuckerrohrexporteurInnen hätten erweiterte Exportmöglichkeiten.

Doch ob dies den Menschen in den Zuckeranbaugebieten zu Gute käme, ob es nicht vielleicht sogar mehr Armut und Hunger bedeuten würde, wenn die Zuckerrohranbauflächen erweitert würden, ist eine ganz andere Frage. Aber genau um diese Frage, die bei Handelsrunden natürlich nie gestellt wird, weil da statt ZuckerrohrschneiderInnen die HändlerInnen oder ihre Lobbyisten aus der Politik an den Verhandlungstischen sitzen, soll es in dieser Ausgabe der ila gehen.

Was bedeutet die Zuckerproduktion für die Leute, die in ihr arbeiten und in den Zuckerrohrregionen leben? Wie könnte eine Zuckerpolitik aussehen, die nicht primär an den Interessen der Großkaufleute und Großgrundbesitzer ausgerichtet ist? Kann es überhaupt eine Alternative im Zuckeranbau geben oder muss – wie die Landlosenbewegung MST in Brasilien meint – überhaupt nach Alternativen jenseits des Zuckers gesucht werden? Was müsste geschehen, damit alle Beschäftigten im Zuckersektor genug verdienen, um menschenwürdig leben zu können? Natürlich können wir diese Fragen nicht abschließend beantworten, aber sie werden in den Beiträgen dieser Ausgabe thematisiert.

Und natürlich thematisieren wir auch die Politik jener, die seit jeher ihre Interessen rücksichtslos mit allen Mitteln durchsetzen, im konkreten Fall der Zuckerwasserproduzent Coca-Cola und der Zuckerschnapsproduzent Bacardi.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4  Wo bleiben Mensch und Umwelt?
Die Auswirkungen der Neuordnung des europäischen Zuckermarktes auf Brasilien
/ von Klemens Laschefski

8  Der Mythos der Monokultur
Fragen an die brasilianische Zuckerindustrie / von Ingo Melchers

12  Quotenpuderzucker
Der Zuckermarkt und die Agrarpolitik der EU / von Hannes Lorenzen und Gaby Küppers

14  Die andere Süße
Weltweit führt Kolumbien den Panela-Konsum an / von Bettina Reis

16  Feindliche Übernahme / von Aurelio Suárez Montoya

17  Erstmals Gewinne
Genossenschaftlicher Zuckerrohranbau in El Salvador / von Eduard Fritsch

18  Die salvadorianische Zuckerindustrie / von Eduard Fritsch

20  2,31 Dollar am Tag
Interview mit zwei Zuckerrohrschneidern in El Salvador / von Eduard Fritsch

23  Sklaven im Paradies
Haitianische Zuckerrohrschneider / von Ildefonso Olmedo

26  Coca-Cola eiskalt
Interview mit María Ermelina Mosquera Jaramillo von der kolumbianischen Lebensmittelgewerkschaft Sinaltrainal
/ von Björn Seyl

28  Brutal neoliberal / von Björn Seyl

28  Drei Monate bei Coca Cola-Kolumbien

29  Nie wieder Bacardi
Was die unter „Cuba Libre“ verstehen, ist zum Kotzen / von H. G. Aldenhoven

31  Die „novela de la caña“
Die Zuckerrohrthematik in der dominikanischen Literatur / von Klaus Jetz

Berichte & Hintergründe

33  Neue Regierung
Néstor Kirchner tritt sein Amt als argentinischer Präsident an / von Carlos Flaskamp

35  Aufgelesen: Klage für Claudia / von Esther Andradi

36  Von Schröder lernen?
Brasilien: Die PT-Führung will neoliberale Politik umsetzen und dabei stören linke KritikerInnen
/ von Gerhard Dilger

38  Folterkammer auf hoher See
Das chilenische Segelschulschiff „Esmeralda“ soll in deutschen Häfen anlegen
/ von Germán F. Westphal

39  Die Rückkehr des Schreckens
Unter Präsident Uribe eskaliert der Terror der Paramilitärs in Kolumbien / von Fernando Garavito

41  Amerika und die Amerikaner
Über Sprache, Kultur und Machtverhältnisse / von Günter Pohl

42  US-Militärinterventionen in Amerika
Eine unvollständige Auswahl / von Günter Pohl

44  Das Ende einer Hoffnung?
Indígena-Organisation CONAIE entzieht Ecuadors Präsident Gutiérrez die Unterstützung
/ von Marcelo Larrea

Kulturszene

45  Allerweltsguatemalteke
Interview mit dem Schriftsteller Rodrigo Rey Rosa  / von Jérôme Cholet

Ländernachrichten / Poonal

48  Ecuador, Mexico, Guatemala, Paraguay, Argentinien, Puerto Rico, Lateinamerika, Peru, Nicaragua

Solidaritätsbewegung

52  Weltordnungskrieg
Das neue Buch des Krisentheoretikers Robert Kurz  / von Werner Rätz

53  Tod eines Revolutionärs
Ex-Landwirtschaftsminister von Grenada gestorben  / von Gert Eisenbürger

54  Notizen aus der Bewegung


Quell-URL: https://www.ila-web.de/node/304

Links:
[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/263