Veröffentlicht auf ila (https://www.ila-web.de)

Startseite > 218

218

Puerto Rico

Schwerpunkt Tabs

Editorial

„Was sind wir?“ Diese elementare Frage prägt die puertoricanische Politik ebenso wie die PuertoricanerInnen. Geht es um die schöne Insel und um deren Natur sind alle durch und durch puertoricanisch: Das schönste Meer, die grünsten Berge und der blaueste Himmel der Welt gehören zweifellos zu Borinquen, wie der vorspanische Name Puerto Ricos lautet. Ab hier aber wird es kompliziert: International existiert kein Land namens Puerto Rico. Einen puertoricanischen Paß gibt es nicht und auch keine puertoricanischen Auslandsvertretungen, weder eine Währung noch Briefmarken. Kommen PuertoricanerInnen mit ihrem US-Paß in andere Länder Lateinamerikas, müssen sie ihre politische Identität nur allzu oft mühsam erklären.

Noch komplizierter wird es, mit dem „Problem Puerto Rico“ in den USA konfrontiert zu werden. Wenige US-AmerikanerInnen haben eine klare Vorstellung davon, was Puerto Rico ist und in welchem Verhältnis sie zu den BewohnerInnen der Insel stehen. Dabei ist die Antwort einfach – und doch kompliziert. PuertoricanerInnen sind schlicht MitbürgerInnen. Aber: Puerto Rico ist weder Teil der USA noch ein unabhängiger Staat. Dieses Paradox hat mittlerweile Geschichte. Vor genau 100 Jahren hat die USA die Kolonie Puerto Rico von Spanien übernommen. Während des Kalten Krieges, vor allem nach der Eingliederung Cubas in den sozialistischen Block, wurde die Karibikinsel von den USA zum Militärstützpunkt und zum wirtschaftlichen Vorzeigeobjekt ausgebaut.

Der Kalte Krieg ist inzwischen vorbei, und in Zeiten der Globalisierung verliert Puerto Rico seine Bedeutung für die Kolonialmacht. Zwar wußten die USA noch nie so recht, was sie mit der Insel anfangen wollten, doch jetzt teilt Puerto Rico sein Schicksal als moderne Kolonie mit den französischen „territoires d’outre mer“: Die Kosten-Nutzen-Relation der Ausbeutung hat sich zu stark auf die Kostenseite hin verlagert. Zwar ist Puerto Rico für die USA militärisch noch immer attraktiv, die hohen Zuschüsse für die Kolonie aber sind den Finanzjongleuren in Washington zunehmend ein Dorn im Auge.

Wichtigste „Exportgüter“ der Kolonie sind nicht mehr Rohstoffe, sondern Menschen. Auf dem Festland der USA leben mittlerweile drei Millionen Menschen puertoricanischer Abstammung – oftmals Ziel rassistischer Anfeindungen. Puerto Ricos derzeitiger Gouverneur, der die Annexion der Insel zum 51. Bundesstaat der USA befürwortet, hat vor kurzem einen neuen Vorstoß gemacht, um sein Ziel zu erreichen: Bei den Feierlichkeiten am 25. Juli zum 100. Jahrestag der US-Invasion präsentierte er eine etwas barocke US-Flagge mit 51 Sternen (statt wie bisher 50). In konservativen US-Kreisen ist es schier unvorstellbar, den knapp vier Millionen spanischsprachigen Caribeñas/os einen eigenen Stern, geschweige denn einen eigenen Bundesstaat zuzugestehen. Sollen die Vereinigten Staaten etwa zweisprachig werden (was sie in weiten Teilen ohnehin schon sind)? Oder kommt gar eine „Balkanisierung“ über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten?

Am anderen politischen Ende steht die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung, die in den 70er und 80er Jahren mehr Sympathien im Ausland als im Inland erweckte. Schon lange fehlen ihr die Argumente gegenüber dem real existierenden ökonomischen Wohlstand. Ihr Hauptargument war und ist, daß Puerto Rico eine eigene Nation darstelle. Ideologische Argumente aber sind heute überholter denn je, und die Unabhängigkeitspartei hat große Schwierigkeiten, überhaupt ein Programm zu definieren. Um keine vollständige Bauchlandung zu erleiden, spricht man seit Jahren über eine Republik, die nach dem Modell der Marschall-Inseln in Mikronesien den USA assoziiert würde. Aber das reißt niemanden so recht vom Hocker.

Zudem fragten sich in der Vergangenheit viele auf Puerto Rico, wofür die Ehre nationaler Unabhängigkeit eigentlich gut sein soll, wenn diese von Armut und auch von Diktaturen begleitet wird, wie andernorts in Lateinamerika. Statt nationaler Identität und Unabhängigkeit haben die PuertoricanerInnen politische Stabilität und einen relativen Wohlstand genossen – wenn dies auch mit der Anpassung an die einseitigen Regelungen der USA erkauft wurden und sich hinter der hohen Kaufkraft wirtschaftliche Strukturprobleme versteckten, die stets mit Nahrungsmittelbons aus Washington gemildert wurden.

Wenngleich vieles auf Puerto Rico unklar ist, scheint eines sicher: Die Lage ist verzwickt. Und was machen PolitikerInnen in einer solchen Situation? Sie fragen manchmal die Bevölkerung. Auf Puerto Rico soll daher zum dritten Mal über die politische Zukunft der Insel abgestimmt werden. Bei den vorherigen Volksabstimmungen konnte sich das Volk allerdings nicht entscheiden. Auch gut. Dann wird eben weiter abgestimmt, werden lange Diskussionen geführt und Zeitungen gefüllt. Ganz egal aber, wie eine Entscheidung aussieht – wenn sie denn gefällt wird –, das letzte Wort dazu haben die Orakel von Capitol und Pentagon.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4    Frauke Gewecke
Hundert Jahre Zweisamkeit
Zwischen kolonialer Anpassung und nationaler Selbstbehauptung

6    Manuel de J. González
Mehr als ein Basketballspiel

9    Werner Lamottke
Die olivgrüne Insel
Die US-Militärpräsenz auf Puerto Rico

11    Werner Lamottke
Schnelle Wechsel
Die wirtschaftlichen Strategien für die Insel änderten sich ständig

14    Ramón Grosfoguel    
Wem nützt die »Unabhängigkeit«?
Querdenker kritisieren »Befreiungsnationalismus«

15    María Sagué
Nicht nur der Mittelstand will saubere Umwelt
Interview mit Neftalí García, Wissenschaftler und Umweltaktivist

18    Elidio La Torre Lagares
Mit gefesselter Zunge singen...
Portrait der puertoricanischen Generation X

20    Mayra Santos Febres
Das heilige Fieber der Worte
Reflexionen der schwarzen puertoricanischen Lyrikerin

22    Werner Lamottke
Am a Rícan
PuertoricanerInnen in den USA

25    Werner Lamottke
Spidertown
Ein Roman über puertoricanische Jugendliche in New York

Berichte & Hintergründe

26    Klaus Hart
Heute hier, morgen dort
40 Prozent der Abgeordneten in Brasilia wechselten während der laufenden Legislaturperiode die Partei

28    Klaus Hart
Brasilien: Personenkult

29    Gaby Küppers
Revolution am Amazonas
In Brasiliens nördlichstem Bundesstaat Amapá werden zukunftsfähige Politikmodelle entwickelt

33    Knut Henkel
Überraschendes Interview
Licht ins Dunkel des anticubanischen Terrors aus Miami

35    Gaby Weber
Die wilden Piraten von Santos
Lateinamerika-Klischees in deutschsprachigen Medien

37    Informationsbüro Nicaragua
Zwei langwierige Konflikte
Was der Rechtshilfefonds für Landkämpfe in Mittelamerika bisher in Nicaragua unterstützt hat

Eine Welt Wirtschaft

38    Eduard Fritsch
Was hat NAFTA den ArbeiterInnen gebracht?
Der Streik in der Han Young Maquiladora in Tijuana/Mexico

Ländernachrichten / Poonal

40    Argentinien, Mexico, Cuba, Grenada, El Salvador, Brasilien, Haiti, Kolumbien, Peru, Paraguay

Kulturszene

44    Gert Eisenbürger/Gaby Küppers
Das Vergessen existiert nicht [1]
Interview mit dem uruguayischen Autor Mauricio Rosencof

47    Gert Eisenbürger
Die Briefe, die nie angekommen sind [2]
Eine Erzählung von Mauricio Rosencof

54    Poesila: Pablo Neruda

Lebenswege

48    Ulrike Schätte
Ein Leben in zwei Kulturen [3]
Mariana Frenk-Westheim (Mexico) zum 100. Geburtstag

Aus-Sprache

51    AusSprache: Jani de Alencar

52    Jani de Alencar
Gedichte

Solidaritätsbewegung

55    500 000 Unterschriften gegen die Straflosigkeit
Solidaritätsaufruf aus Spanien

56    Gert Eisenbürger
So war das damals
Die blätter des iz3w werden 30, das Informationsbüro Nicaragua wird 20

58    Notizen aus der Bewegung

59    Termine, Zeitschriftenschau, Impressum

Titelfoto: Annelie Lichtenberger


Quell-URL: https://www.ila-web.de/node/318

Links:
[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/218/das-vergessen-existiert-nicht
[2] https://www.ila-web.de/ausgaben/218/die-briefe-die-nie-angekommen-sind
[3] https://www.ila-web.de/ausgaben/218/ein-leben-in-zwei-kulturen