ila

Ein ständiges Hin und Her

Berlin-Santiago-Bochum-Santiago. Lebensstationen des Chilenen Pedro C. Holz

In der Reihe „Lebenswege“ stellen wir diesmal den Chilenen Pedro C. Holz vor. Als 11-Jähriger kam er von Deutschland nach Chile, um  wie viele seiner Landsleute später als politischer Flüchtling in die Bundesrepublik zurückzukehren. Hier hat er sich sehr aktiv in der Chile-Solidaritätsbewegung engagiert, u.a. hat er des öfteren Beiträge zu Chile für die ila verfaßt. Während seiner Flucht – er war zunächst einige Monate als Asylbewerber in der deutschen Botschaft in Santiago – und später im bundesdeutschen Exil begann er, auch literarische Texte zu schreiben und hier zusammen mit anderen ausländischen AutorInnen zu publizieren. 1989 ist Pedro zusammen mit seiner Familie nach Chile zurückgekehrt, wo ihn Gert Eisenbürger im Dezember 1992 besucht und das folgende Gespräch mit ihm geführt hat.

Gert Eisenbürger

Du bist in Deinem Leben mehrmals zwischen Deutschland und Chile hin- und hergependelt. Kannst Du kurz die Stationen Deines Lebens schildern?

Ich bin 1938 als Sohn eines Chilenen in Berlin geboren. Ich bin immer Chilene gewesen, denn mein Vater hat mich sofort in der chilenischen Botschaft als chilenischen Staatsbürger eingetragen. Das erste, was mein Leben bestimmt hat, war der 2. Weltkrieg, den wir in Deutschland verbracht haben. 1949 sind wir dann wieder nach Chile gegangen. Ich bin in Chile groß geworden, habe dort studiert, später gearbeitet und mich auch politisch entwickelt. Dann kam der Putsch 1973. Da war ich zunächst einige Monate im Gefängnis, kam dann als Asylant in die deutsche Botschaft in Santiago und konnte nach verschiedenen Schwierigkeiten schließlich Mitte 1974 in die Bundesrepublik ausreisen. Dort habe ich mit meiner Familie fast 15 Jahre gelebt, bis wir Anfang 1989 wieder nach Chile zurückkehren konnten. Meine Frau und ich standen lange Zeit auf diesen sogenannten schwarzen Listen, wo die Leute draufstanden, die nicht nach Chile zurück durften. Erst Anfang 1987 bekam ich zum ersten Mal wieder eine Einreiseerlaubnis, und wir konnten zu einem kurzen Besuch nach Chile fliegen. Ich würde sagen, das ist so das Hin und Her zwischen Deutschland und Chile, das mein bisheriges Leben bestimmt hat. Dieses Hin und Her ist bei mir auch familiär bedingt. Mein Großvater ist aus Deutschland nach Chile ausgewandert. Mein Vater ist in Concepción in Chile geboren, aber er ist mehrmals zwischen Deutschland und Chile hin- und hergefahren. Er hat in Deutschland eine Deutsche geheiratet und ich in Chile eine Chilenin. Wir sind eine Familie, die – wie man so manchmal sagt – zwischen den beiden Welten lebt und gelebt hat.

Was hast Du eigentlich vor 1973 gemacht, weswegen wurdest Du verhaftet?

Ich war erstmal Mitglied der Sozialistischen Partei, war gewerkschaftlich aktiv und war auf der mittleren Ebene innerhalb der Regierung von Salvador Allende tätig. Jede einzelne dieser Aktivitäten war nach dem Putsch schon ein ausreichender Grund, jemanden ins Gefängnis zu bringen. Meine eigentliche Festnahme und die Dauer meines Gefängnisaufenthaltes hatte mehr oder weniger Zufallscharakter. Wir sind mit einer Gruppe von Genossen am 11. September, dem Tag des Putsches, verhältnismäßig früh bei einer Verkehrskontrolle festgenommen worden. Wir kamen zuerst in ein Polizeirevier und von da in der nächsten Nacht ins Gefängnis von Santiago. Aus den Dingen, die wir im Auto hatten, ging ziemlich eindeutig hervor, daß wir Leute waren, die zur Regierung von Allende gehörten. Wir waren fast alle Mitglieder der Sozialistischen Partei und waren auch als solche bekannt. Ich war dann im Gefängnis und wurde nach einigen Monaten mit sehr vielen Auflagen freigelassen. Ich mußte mich einmal in der Woche im Verteidigungsministerium melden. Das bedeutet, daß diese “Freiheit” in Anführungszeichen fast täglich gefährlicher wurde und ich damit rechnen mußte, eventuell wieder verhaftet zu werden. In dieser Situation bin ich dann in die deutsche Botschaft geflüchtet und habe um politisches Asyl gebeten. Die Flucht in eine ausländische Botschaft war damals für viele von uns eine Möglichkeit, sich der drohenden Verhaftung zu entziehen. Um aus den Botschaften wieder herauszukommen, brauchte man so eine Art Ausreiseerlaubnis der chilenischen Regierung, und auf die habe ich mehrere Monate in den Räumen der deutschen Botschaft warten müssen. Es waren fast sechs Monate in sehr kleinen Räumlichkeiten. Wir waren eine ganze Menge Leute, die allerdings immer weniger wurden. Ich gehörte zur vorletzten Gruppe, die ausreisen konnte.

Wie haben die MitarbeiterInnen der deutschen Botschaft auf die Asylsuchenden reagiert?

Sehr unterschiedlich. Es gab Menschen, die waren unwahrscheinlich solidarisch, zu denen gehörte z.B. der damalige Kulturattaché, der sich auch persönlich stark eingesetzt hat. Es gab andere, die sich neutral verhalten haben, Beamte, deren Bestreben es war, die Chilenen, die sie da sitzen hatten, irgendwie aus dieser Botschaft rauszubekommen und in die Bundesrepublik zu bringen, damit sie wieder normal arbeiten konnten. Schließlich gab es auch durchaus Leute – ich würde sagen, vor allem auf der Ebene des deutsch-chilenischen Personals – die absolut gegen diese Asylanten waren, die da auf einmal auftauchten. Insgesamt also sehr unterschiedlich, wobei ich betonen möchte, daß es Leute gab, die sehr solidarisch waren. Da war auch ein Mensch – ich weiß nicht mehr genau, welche Funktion in der Botschaft er hatte – der fing an, den Asylsuchenden Deutschunterricht zu geben. Eines Tages kam er auf mich zu und erzählte mir, daß die Leute von der deutschen Kolonie ihn alle nicht mehr grüßen würden und er sich nicht vorstellen könne, weshalb. Da habe ich zu ihm gesagt, daß es sich wohl rumgesprochen habe, daß er diesen Linken in der Botschaft Deutschunterricht gebe, und das sei in der deutschen Kolonie bei vielen sicherlich nicht gerne gesehen.

Du hast Dir ja sicherlich die Botschaft, in der Du Asyl gesucht hast, ausgesucht, Du hättest ja auch in eine andere Botschaft gehen können. War es für Dich von Deiner Geschichte her klar, daß Du in die deutsche Botschaft gehst?

Unter den Bedingungen, die unmittelbar nach dem Putsch in Chile herrschten, konnte man sich das nicht aussuchen. Mein Wunsch war eigentlich, in eine lateinamerikanische Botschaft zu fliehen, um in der Nähe von Chile zu bleiben. Daß ich in der deutschen Botschaft gelandet bin, das war wirklich der absolute Zufall und hatte überhaupt nichts mit meinen Vorfahren zu tun. Es war so, daß das über eine Freundin meiner Frau lief, die da irgendwelche Kontakte hatte.

War Isabel, Deine Lebensgefährtin, auch in der Botschaft?

Nein, bzw. sie ist nur ganz kurz dagewesen, weil sie dann ausreisen konnte. Wir dachten damals, daß sie weniger gefährdet sei als ich. Aber als sich zeigte, daß sich mein Aufenthalt in der Botschaft hinziehen würde, haben wir beschlossen, daß sie das Land zunächst alleine verlassen sollte. Als sie den Paß beantragte, stellte sich raus, daß das doch nicht so einfach war. Sie hat dann mit Unterstützung der deutschen Botschaft – als Frau eines Asylanten – die Ausreise bekommen und ist mit unserem kleinen Sohn, der geboren worden war, als ich im Gefängnis war, in die Bundesre­publik ausgereist.

In der Bundesrepublik habt Ihr euch in Bochum niedergelassen. War das Zufall, oder habt ihr euch diese Stadt ausgesucht?

Das war eigentlich alles Zufall. Wie ich schon erzählt habe, war Isabel vor mir ausgereist. Sie war zuerst in diesem Übergangslager in Unna-Massen, und da konnten sich dann die Leute “aussuchen”, wo sie hinwollten. Wenn man jemandem, der aus Chile kommt, sagt, er/sie hätte die Möglichkeit, nach Gelsenkirchen oder nach Oberhausen zu gehen, dann bedeutet das nicht allzu viel. Isabel hat sich ausgesucht, nach Oberhausen zu gehen, vor allem, weil sich in dem Durchgangslager eine Gruppe von ChilenInnen zusammengefunden hatte, die gerne zusammenbleiben wollten. Als sie sich entscheiden mußten, wo sie hingehen wollten, gab es für eine größere Gruppe nur noch die Möglichkeit, nach Oberhausen zu gehen. So ist sie nach Oberhausen gekommen. Als ich dann in die Bundesrepublik kam, das war so ungefähr sechs Monate später, war sie noch in Oberhausen. Aber in Oberhausen gab es keine Deutschkurse und auch keinen Platz in einem Kinderhort. Beides gab es aber in Bochum. Isabel machte dort ihren Deutschkurs, und irgendwann sind wir dann nach Bochum gezogen.

War es für Dich leichter als für andere ChilenInnen, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen?

Ich denke ja, denn ich konnte die Sprache, und das macht natürlich alles leichter, obwohl man sagen muß, daß Kommunika­tion nicht nur ein Sprachproblem ist. Ich glaube, daß der Kulturschock, den wir als Lateinamerikaner erleben, wenn wir nach Europa und in dem Fall in die Bundesre­publik kommen, für mich sehr ähnlich war wie für alle anderen auch. Aber ich hatte natürlich den Vorteil, daß ich verhältnismäßig gut Deutsch konnte, weil ich zweisprachig aufgewachsen war. Wegen dieser Sprachkenntnisse bot sich mir auch die Möglichkeit, relativ kurzfristig einen Lehrauftrag an der Universität in Duisburg zu bekommen. Es waren zwar nur ein paar Stunden, aber immerhin war das für mich der Anfang einer Eingliederung ins Berufsleben in der Bundesrepublik.

Du hast Dich, wie viele andere chilenische Flüchtlinge im deutschen Exil, auch politisch engagiert. Kannst Du darüber etwas erzählen?

Ich bin als politischer Flüchtling in die Bundesrepublik gekommen, nicht mit dem Ziel, dort zu studieren oder zu arbeiten, obwohl ich beides später gemacht habe, aber deswegen war ich nicht gekommen. Was mich bestimmte, war die Tatsache, daß ich politischer Flüchtling war. Das bedeutete, daß im Mittelpunkt unserer Arbeit die Solidarität mit Chile gestanden hat.

Ich gehörte einer Strömung der Sozialistischen Partei an, die sich immer unabhängig von den großen Blöcken der internationalen Linken verstanden hat und die immer davon ausgegangen war, daß der Sozialismus, für den wir uns in Chile eingesetzt haben, sich unter den konkreten Bedingungen Chiles entwickeln sollte. Und da habe ich mit Überraschung mitbekommen, daß die deutsche Linke damals ziemlich aufgespalten war zwischen denjenigen, die eher eine prochinesische Linie verfolgten, und denjenigen, die mehr prosowjetisch waren. Es ist mir sehr oft vorgekommen, daß es zu großem Erstaunen geführt hat, wenn ich in Solidaritätsveranstaltungen gesagt habe, daß wir uns mit keiner der beiden großen Tendenzen identifizieren. Die meisten der deutschen KollegInnen konnten damit überhaupt nichts anfangen, entweder mußte man für die Sowjetunion oder für China sein, und es gab relativ wenige Gruppen, die mit so einer Linie, wie wir sie vertraten, etwas anfangen konnten. Trotzdem war in der ersten Zeit nach dem Putsch die Solidaritätsbewegung mit Chile auf der ganzen Welt und auch in der Bundesrepublik sehr stark, aber andererseits gab es natürlich diese Unterschiede, die ich jetzt vielleicht ein bißchen sehr vereinfacht angesprochen habe. Sie waren immer gegenwärtig und sie gehörten meiner Ansicht nach zu den Elementen, die im Laufe der Zeit diese Solidaritätsbewegung geschwächt haben.

Wir in der ila haben chilenische GenossInnen immer als sehr gespalten und zerstritten erlebt. Glaubst Du, daß diese Zerrissenheit ein allgemeines Charakteristikum des Exils ist – wegen der Loslösung von der sozialen Basis und des Versuchs der Bewahrung der eigenen Identität – oder gab es dafür auch Ursachen, die schon in die Zeit vor 1973 zurückgehen?

Das gehört zu den Fragen, die damals immer wieder an uns herangetragen wurden, und ich erinnere mich sehr gut an eine Veranstaltung, wo ein deutscher Genosse fragte, warum die chilenische Linke so gespalten sei. Meine Antwort darauf war, das könne ich ihm genauso gut erklären, wie er mir erklären könne, warum die deutsche Linke so gespalten sei. Ich glaube, die Spaltung der Linken ist eine Tatsache, die weit über das Problem des Exils hinweggeht. Es hieß immer wieder, daß wir Exilchilenen besonders gespalten wären, aber ich glaube, das war nicht anders als bei der Linken überhaupt. Natürlich werden gewisse Elemente im Exil potenziert, da gibt es überhaupt keine Zweifel, aber ich glaube doch, daß hinter diesen unterschiedlichen Tendenzen ganz andere Dinge zu suchen sind als die Tatsache des Exils. Die deutsche Linke war mindestens so gespalten wie wir, und wir und die Deutschen waren in ihrem Land, und wir waren im Exil. Ein Problem unserer Spaltung war sicher die Verarbeitung des Militärputsches und seiner Gründe und der unterschiedlichen Erklärungen dafür, unabhängig davon, daß das Diskussionspunkte waren, die auch international innerhalb der Linken diskutiert wurden, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.

Glaubst Du, daß die deutschen GenossInnen, die damals in der Solidaritätsbewegung aktiv waren, die Spaltungen unter euch verstärkt haben bzw. mit dazu beigetragen haben, oder war das unabhängig voneinander?

Ich glaube nicht, daß sie dazu beigetragen haben, aber ich glaube natürlich, daß viele mehr oder weniger die Tendenzen gesucht haben, die ihnen näher standen, um mit ihnen enger zusammenzuarbeiten. Das ist für mich nur logisch und auch politisch und menschlich absolut zu verstehen, es war logisch, daß die GenossInnen von der DKP der chilenischen KP näher standen als anderen Organisationen, weil das die Bruderpartei war. Organisationen oder Tendenzen wie wir hatten es natürlich schwerer, wir hatten in der BRD nicht so etwas wie eine Bruder-, Onkel- oder Tantenpartei. Es gab zwar kleinere Gruppen, mit denen wir stärker zusammenarbeiten konnten, weil sie den ganzen Internationalismus ähnlich wie wir verstanden, aber zu größeren Organisationen wie SPD oder DKP hatten wir keine intensiven Kontakte. Ich weiß natürlich sehr gut, daß die DKP damals in der Bundesrepublik keine große Partei war, aber immerhin innerhalb des Spektrums hatte sie doch eine gewisse Bedeutung.

Auf jeden Fall wäre es ungerecht zu sagen, die deutsche Linke hätte zu unserer Spaltung beigetragen. Ich würde sagen, es war ein mehr oder weniger logischer und kohärenter Prozeß, daß jedeR mit denen zusammengearbeitet hat, die ihm/ihr politisch am nächsten standen.

Du hast während Deines Aufenthalts in der deutschen Botschaft bzw. später im bundesdeutschen Exil auch literarische Texte geschrieben. Wie fing das an, und was hat das für Dich bedeutet?

Ich hatte früher schon geschrieben, wie jeder Mensch irgendwann in seinem Leben mal schreibt, z.B. in einer gewissen Lebens­phase Liebesgedichte usw. Nach dem Putsch und nach dem Gefängnis, in der Zeit in der Botschaft, habe ich verstärkt angefangen zu schreiben. Das war für mich eine Form der Verarbeitung dieser Erfahrung, die einen ja sicherlich sehr tief getroffen hat, und in dem Sinne habe ich das erst mal gemacht, ohne daran zu denken, ob das irgendwann einmal veröffentlicht wird oder nicht. Die allererste Phase in der Bundesrepublik war dann von der Solidaritätsarbeit geprägt. Dann kam irgendwann der Moment, wo ich auch versucht habe, Exil literarisch zu verarbeiten. Ich habe wieder angefangen zu schreiben, hauptsächlich Kurzgeschichten. In dieser Zeit bekam ich Kontakt zu anderen AusländerInnen, die in der Bundesrepublik auf Deutsch schrieben und versuchten, etwas zu veröffentlichen. Das war eine sehr schöne Erfahrung. Innerhalb dieses ganzen Spektrums ausländischer AutorInnen in der Bundesrepublik gab es verschiedene Ebenen. Da gab es Autoren, die internationale Bedeutung hatten und wohl auch von ihrer schriftstellerischen Arbeit leben konnten. Dazu gehörte von den Chilenen z.B. Antonio Skármeta oder auch der Italiener Franco Biondi. Darunter gab es sowas wie einen Mittelbau von Leuten, die schrieben, aber nicht hauptberuflich Schriftsteller waren. Türkische Kollegen, italienische Kollegen, spanische Kollegen, jugoslawische Kollegen, die zusammenkamen, zusammen Lesungen machten und ihre Texte in Sammelbänden veröffentlichten. Die Zusammenarbeit mit diesem Kreis war für mich ein sehr positives Erlebnis. Ich verstehe mich nicht als Schriftsteller, sondern als jemand, der ab und zu einmal etwas schreibt. Wenn ich das quantifizieren soll, in drei oder vier Sammelbänden in der Bundesrepublik sind meine Kurzgeschichten erschienen, ich habe rund 35 oder 40 Lesungen in verschiedenen Städten gemacht. Irgendwann habe ich dann angefangen, Gedichte zu schreiben, diese Gedichte sind eigentlich auf Anregung von türkischen Kollegen entstanden, die immer wieder gefragt haben, warum ich denn keine Gedichte schriebe, ich schriebe doch sowieso so kurze Geschichten. Ich habe lange Zeit gesagt, ich könne überhaupt keine Gedichte schreiben, aber schließlich habe ich es doch versucht. Ein Teil dieser Gedichte ist 1991 in Bochum von einer Gruppe von Freunden publiziert worden, das Bändchen heißt “Exil und Rückkehr”. Die Gedichte aus der Zeit des Exils sind auf Deutsch, die aus der Zeit meiner Rückkehr nach Chile sind auf Deutsch und Spanisch. In der nächsten Zeit, wo man nicht so genau weiß, was man unter nächster Zeit verstehen soll, möchte ich hier in Chile einen Gedichtband veröffentlichen, der hauptsächlich die Rückkehrproblematik betrifft.

Du hast sowohl auf Deutsch als auch auf Spanisch geschrieben?

Das ist ein Teil dieses ganzen Widerspruchs. Ich habe zuerst auf spanisch geschrieben und dann angefangen, die Sachen ins Deutsche zu übersetzen. Ich habe sie selbst übersetzt, manchmal habe ich dabei auf die Unterstützung von Freunden gezählt – vor allem bei Satzzeichen –, und irgendwann habe ich angefangen, auf Deutsch zu schreiben. Jetzt bin ich dabei, die Sachen, die ich auf Deutsch geschrieben habe, wieder ins Spanische zu übersetzen, es ist ein Hin und Her in der Sprache.

Wie wurde Deine Literatur in der BRD aufgenommen, wie waren die Reaktionen bei Lesungen usw.?

Im allgemeinen sind die Sachen sehr gut aufgenommen worden, mit einer einzigen Ausnahme, an die ich mich noch sehr gut erinnere. Bei einer Lesung sagte eine Frau, nachdem ich einige Geschichten vorgelesen hatte, ich sei doch Chilene, warum ich nicht schriebe wie Isabel Allende. Das war eine Frage, die mich absolut sprachlos machte, in jeder Beziehung, aber sonst muß ich sagen, wurden die Sachen gut aufgenommen. Die Lesungen waren so gut oder schlecht besucht wie die Lesungen von mittelbekannten ausländischen Autoren in der Bundesrepublik eben sind bzw. waren, wie das inzwischen ist, weiß ich nicht.

Was ich besonders interessant fand, waren in den letzten Jahren die Reaktionen der zweiten Generation der Menschen aus Chile, die im Exil waren, die Söhne und Töchter von den Leuten, die mit uns ins Exil gegangen waren. Von denen habe ich öfter gehört, daß sie toll fänden, was ich schriebe, denn irgendjemand müsse diese Sachen doch mal festhalten.

War es für Dich und für Deine Familie immer klar, daß Ihr nach dem Ende der Diktatur oder bei einer Änderung der politischen Verhältnisse in Chile zurückgeht, oder wart Ihr euch im Laufe der Jahre eures Exils in der BRD irgendwann einmal nicht mehr so sicher?

Für meine Frau und mich stand immer fest, daß wir zurückgehen würden, sobald wir wieder zurückkehren könnten. Das Problem waren unsere beiden Söhne. Wir wollten natürlich unsere Kinder nicht zwingen, unser Schicksal zu teilen, die hatten ja schon genug mitgemacht aufgrund unserer Geschichte. Wir haben versucht, dieses Problem so demokratisch wie möglich zu lösen. Wir haben innerhalb der Familie diskutiert, letztlich kann man sagen, die Rückkehr wurde mit drei Stimmen gegen eine beschlossen. Unser jüngster Sohn, der 1975 in Bochum geboren wurde, wollte eigentlich lieber in der Bundesrepublik bleiben. Er fühlte sich absolut als Bochumer. Nebenbei, wir sind noch vor dem Ende der Diktatur zurückgekehrt.

Ist es Dir schwergefallen, wieder in Chile Fuß zu fassen, persönlich, beruflich und politisch?

Ich muß sagen, mir ist es leichter gefallen, als ich erwartet habe. Persönlich habe ich sehr wenig Probleme gehabt, ich höre auch jetzt immer wieder von Freunden und Freundinnen, die erzählen, daß sie Schwierigkeiten hätten, daß ihnen vorgeworfen würde, sie seien im Exil gewesen, wo es ihnen gut gegangen sei. Ich habe solche Erlebnisse eigentlich überhaupt nicht gehabt. Beruflich habe ich auch relativ gut den Einstieg geschafft. Wir sind ja noch in der letzten Phase der Diktatur zurückgekehrt, sie ging zwar zu Ende, war aber durchaus noch da. Im ersten Jahr hatte ich deshalb noch Schwierigkeiten, mich beruflich einzugliedern, aber nach dem Regierungswechsel habe ich dann relativ schnell eine Arbeit gefunden. Ich bin Diplomingenieur und habe in der Bundesrepublik noch ein Aufbaustudium in Sozialwissenschaften gemacht und hatte auch schon vorher hier in Chile ein Zusatzstudium in Wirtschaftswissenschaften absolviert, so daß ich beruflich ziemlich weit gefächert bin und eine ganze Menge Möglichkeiten hatte, etwas zu tun. Politisch ist es etwas komplizierter, aber das hat weniger mit dem Exil als vielmehr mit der weltweiten Krise der Linken zu tun. Die trifft uns natürlich alle und mich persönlich auch. Für mich war Politik immer sehr wichtig. Wie ich schon sagte, war ich nie jemand, der den real existierenden Sozialismus als besonders positiv bewertet hat, aber die Hintergründe umd Umstände seines Scheiterns bedeuten natürlich eine Krise linker Strategien und Konzepte. Ich war lange Jahre Mitglied der Sozialistischen Partei bzw. während der Spaltung der PS Mitglied eines Zweiges der Partei. Ich habe die Partei inzwischen verlassen, weil ich deren Kurs heute nicht mehr mittragen kann. Nachdem ich lange Jahre Politik im Rahmen einer Partei gemacht habe, bringt das natürlich eine ganze Menge politische Probleme mit sich, wenn man diesen Zusammenhang verliert bzw. verläßt.

Es gab einen Punkt, der verhältnismäßig wichtig ist und etwas mit den Anpassungsproblemen zu tun hat. Die Rückkehr nach Chile war mal wieder ein Kulturschock. Das Chile, das wir verlassen haben, war nicht das Chile von heute, und wir haben uns auch verändert. Viele Dinge, die wir in der Bundesrepublik kritisiert haben, die finden wir jetzt durchaus hier in Chile vor. Wir haben in der Bundesrepublik den Individualismus, den Konsumismus usw. kritisiert und erleben jetzt in Chile sehr ähnliche Dinge. Das zeigt letztlich, daß die Produktionsweise das Verhalten und das Bewußtsein der Menschen stärker bestimmt als andere Dinge, daß diese extrem liberale Marktwirtschaft, die unter der Diktatur eingeführt worden ist, das Verhalten der Menschen prägt. In der Beziehung gibt es für uns viele Dinge, die uns irgendwie fremd sind, etwa das Fehlen von Solidarität. Man muß immer vorsichtig sein mit solchen Aussagen, weil das nie hundertprozentig stimmt, es gibt natürlich positive Ausnahmen, aber ich würde sagen, es gibt heute weniger Solidarität in Chile als vor 20 Jahren, und das hat sicherlich auch was mit der Stärkung des Individualismus zu tun.

Waren diese Veränderungen für euch sehr überraschend, oder wart Ihr ein bißchen darauf eingestellt?

Also ich glaube, es gibt da zwei Ebenen. Auf der rationalen Ebene war man irgendwie vorbereitet, durch Berichte oder Erzählungen von Leuten, die schon diese Erfahrungen in Chile gemacht hatten. Aber wenn man es dann praktisch erlebt, dann ist es doch ganz anders. Selbst wenn man irgendwie über die Theorie da herankommt und sich klar macht, das hat alles seine Logik, ist es doch emotional nicht so einfach, wenn man es tagtäglich mitbekommt. Wenigstens für mich – ich will das jetzt nicht im Plural sagen – gibt es Dinge, die mich doch sehr überraschen. Das gilt auch für ganz einfache Aspekte, die vielleicht auch damit zu tun haben: Chile war früher ein Land, das sich unheimlich ausgezeichnet hat durch seinen Sinn für Humor. Ich habe das Gefühl, davon ist eine ganze Menge verlorengegangen. Wenn man heute in der Metro in Santiago fährt, sind die Leute eigentlich genauso stumm, und es besteht genauso wenig Kontakt untereinander wie in anderen Großstädten der Welt. Früher, wenn man mit einem normalen Bus durch Santiago fuhr, war immer irgendwie was los, und die Leute machten irgendeinen Spaß, man kam auch viel leichter mit den Nachbarn ins Gespräch. Ich glaube schon, daß sich auch da ein Wandel ergeben hat, zumindest empfinde ich es so.

Wie war das Eingewöhnen für eure Söhne, ist es ihnen auch verhältnismäßig leicht gefallen?

Ich denke, für sie war es am Anfang relativ schwierig. Sie waren in Bochum in einer Gesamtschule und kamen dann hier in eine Schule, die sicherlich sehr anders gehandhabt wird als dort. Sie hatten sicher eine erste Phase, wo es für sie nicht leicht war, aber dann, wie es ja so oft bei jungen Menschen der Fall ist, haben sie sich doch verhältnismäßig gut angepaßt. Mein älterer Sohn, der jetzt 19 ist, war voriges Jahr wieder in Deutschland in Ferien, eigentlich auch so ein bißchen im Rahmen einer Identitätssuche, denn er führt diese am Anfang angesprochene Geschichte meiner Familie ja weiter. Er ist in Chile geboren, kam aber praktisch als Baby in die Bundesrepublik, ist dann 1989 mit 16 Jahren wieder zurück. Nach seinem Besuch in der Bundesrepublik habe ich so das Gefühl, daß er sich mehr als Chilene fühlt. Er kam nach seiner Reise nach Deutschland gestärkt zurück, mit dem Wunsch, weiter hier in Chile zu bleiben und hier zu studieren. Ich möchte betonen, daß dieses “sich als Chilene fühlen”, was ich auch von mir sage, keine Ablehnung gegen andere Nationen bedeutet, sondern daß das einfach eine Frage der Identität ist. Leider wird einem in dieser Welt ja aufgezwungen, daß man irgendeine Identität dieser Art haben muß.

Ende der achtziger Jahre sind viele der chilenischen GenossInnen, die in Deutschland im Exil waren, zurückgegangen. Ihr habt in Deutschland bestimmte gemeinsame Erfahrungen gemacht, die euch vom Rest der Bevölkerung in Chile unterscheiden. Gibt es unter den ChilenInnen, die in Deutschland im Exil waren, einen besonderen organisatorischen Zusammenhang?

Den gibt es. Es gibt so etwas wie eine Organisation der RückkehrerInnen aus der Bundesrepublik und jetzt auch aus (stockt etwas) aus diesem neuen Deutschland da, wo auch die fünf östlichen Bundesländer dazu gehören. Ich finde es gut, daß es diese Organisation gibt und daß es Menschen gibt, die sich da einsetzen und darin arbeiten, ich selbst habe aber so ein bißchen das Gefühl, daß sich da eine Art von Ghetto reproduziert, das heißt also in Deutschland waren wir die ChilenInnen, die in Deutschland waren, und jetzt sind wir die RückkehrerInnen aus Deutschland, die in Chile sind. Ich war ein paar Mal auf den Sitzungen und muß sagen, obwohl ich die Arbeit, die die Leute da machen, absolut anerkenne, fühle ich mich da nicht so gut. Ich will eigentlich wieder wirklich als Chilene in Chile leben und nicht als Rückkehrer aus der Bundesrepublik.

Verfolgst Du die Entwicklung in Deutschland weiterhin, oder ist das mittlerweile sehr weit weg für Dich?

Ich versuche die Entwicklung so gut wie möglich weiterzuverfolgen. Obwohl ich im Moment keiner Partei mehr angehöre, em­pfinde ich mich natürlich weiterhin als politischen Menschen und in dieser Beziehung versuche ich nicht nur die Entwicklung in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt so gut wie möglich zu verfolgen. Es ist vielleicht auch einfacher, hier in Chile Informationen über Deutschland zu bekommen als heute in Deutschland Informationen über Chile. In der Beziehung denke ich, daß ich mehr oder weniger informiert bin, obwohl es natürlich viele Dinge gibt, von denen ich nichts mehr mitbekomme.

Ich danke Dir für das Gespräch.

Das Gespräch führte Gert Eisenbürger im Dezember 1992.