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Flucht nach Lateinamerika

Symposium in Mexico über das Exil deutschsprachiger Künstler während des NS-Faschismus
Ulrike Schätte

Vom 8. - 15. November 1993 fand ein internationales Symposium zu dem  weitgespannten  Thema „Deutschsprachige Immigranten und Exilierte in der Kunst und Kultur Mexicos und anderer lateinamerikanischer Staaten im 20. Jahrhundert“ in Mexico statt. Eingeladen hatte das „Instituto de Investigaciones Interculturales Germano-Mexicanas“ (Interkulturelles Forschungsinstitut Mexico-Deutschland), die UNAM (Nationale Autonome Universität Mexico) und das Goethe-Institut.

Aus Brasilien, Argentinien, Mexico, den USA, Österreich und der (alten) Bundesrepublik Deutschland kamen namhafte und (noch) weniger bekannte WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen. WissenschaftlerInnen aus der ehemaligen DDR konnten oder wollten den Einladungen nicht folgen. Das war sehr schade, weil damit zum Beispiel der Vortrag über eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen, Anna Seghers, entfiel.

Nach zwei Einführungsreferaten über „Die Schriftsteller deutscher Zungen im Exil“ (Guy Stern) und über „Migration, Exil und kulturelles Zusammenspiel“ (Judith Bokser) wurden Vorträge über die SchriftstellerInnen B. Traven, Wolfgang Cordes, Erich Arendt, Katja Hayck-Arendt, Paul Mayer, Leo Katz, Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Gustav Regler, Max Frisch und Stefan Zweig gehalten. Aber es ging nicht nur um die LiteratInnen, sondern es wurde auch über den Maler Wolfgang Paalen, den Musiker Hans Eisler, die Anthropologin Gertrude Duby-Blom, die Architekten Max Cetto und Hannes Meyer, den Theaterregisseur Michael Flürschein, den Kunstkritiker Paul Westheim und die Psychoanalytikerin Marie Langer referiert.

Auch der Blick zurück, der Blick von LateinamerikanerInnen auf Deutsche und Deutschland wurde thematisiert. So war ein Vortrag dem Deutschlandbild des nicaraguanischen Dichters Rubén Darío gewidmet. Ein anderer Vortrag mit dem Titel „Traven, ein mexicanischer Autor?“ skizzierte die mexicanische Rezeption des deutschstämmigen Autors, dessen Werk von den mexicanischen Indios, ihrer Ausbeutung und ihren Revolten handelt.

Einige der älteren Exilwissenschaftler des Symposiums, die heute in den USA leben (Guy Stern und Friedrich Katz), mußten in ihrer Jugend aus Deutschland fliehen. Die Verzahnung ihrer eigenen Biografie und ihres Forschungsgebietes sind bestimmt kein Zufall. Vielmehr kommt dadurch zum Ausdruck, daß die Auseinandersetzung mit dem Erlebten nicht nach 1945 beendet war, sondern manchmal ein Leben lang andauert.

Spurensuche

In diesem Zusammenhang verdient ein weiterer Beitrag besondere Erwähnung. Ein Beitrag, der deutlich gemacht hat, daß die Erfahrung von Vertreibung und Exil nicht nur ein Leben lang anhält, sondern sich auch in der nächsten Generation fortsetzt. Der Lyriker Richard Loebell (vgl. Interview in ila 166), Sohn einer katholischen Chilenin und eines jüdischen Deutschen, gehört der zweiten, dem Holocaust entgangenen Generation an. Er beschrieb die mühselige Arbeit der Spurensuche, die Weigerung seines Vaters und seiner Tante von Vergangenem zu erzählen und die Diskrepanz zwischen dem späteren eigenen Erleben von Deutschland und den Vorstellungen, die er sich in seiner Kindheit im fernen Chile gebildet hatte. Er schilderte die Zerrissenheit, die durch die unterschiedlichen religiösen Traditionen der katholischen Mutter und des jüdischen Vaters hervorgerufen wurden, und in die, vor dem Vater verheimlichten, Taufe, mündeten. Als er später mit seinen Eltern in Deutschland lebte, widerfuhr ihm die Absurdität angesichts seiner Geschichte, sich beim Kreiswehrersatzamt melden zu müssen, was er auch tat, da er seinen Aufenthalt in Deutschland nicht während der chilenischen Diktatur gefährden wollte. Mittels seiner lyrischen Arbeit spürt Richard Loebell die nur mittelbar erlebte Vergangenheit auf. Sein Vortrag trug den vielsagenden Titel „(Auf)lesen – Erinnern und Erlösung vom Gedächtnis durch poetische Sprache.“

Das akademische Programm war in erster Linie als Bestandsaufnahme gedacht. Das Symposium war das erste seiner Art in Lateinamerika, wodurch ihm besondere Bedeutung zukommt. Leider standen die einzelnen Beiträge oft etwas unvermittelt nebeneinander und vielleicht bedingte gerade die Vielfältigkeit, daß ein „roter Faden“ kaum zu erkennnen war. Das erscheint mir auch der Grund dafür gewesen zu sein, daß eine Zusammenfassung und eine Auswertung nicht möglich waren.

Über das akademische Programm hinaus, gab es ein kulturelles Rahmenprogramm. Es wurden insgesamt fünf Fotoausstellungen eröffnet, die entweder Auszüge aus den Werken von Exilierten und ImmigrantInnen zeigten (Walter Reuter, Ursula Bernath und Hans Gutmann) oder die deutschsprachigen Exilierten zum Thema hatten.

Ebenfalls im Rahmen des Symposiums fand ein sehr bemerkenswerter Abend statt. Im Museum „Leo Trotzki“, der letzten Wohnstätte des 1940 in Mexico ermordeten Leo Trotzkis, wurde eine Büste des legendären mexicanischen Generalkonsuls in Frankreich der Jahre 1939-42, Gilberto Bosques, enthüllt. Die Büste für den heute 101jährigen Bosques war ein nachträglicher Dank der deutschsprachigen Exilierten, unter denen viele KommunistInnen und SozialistInnen waren, für die rettenden Visa nach Mexico. Bemerkenswert fand ich an dem Abend auch, welche Menschen unterschiedlicher politischer Couleur zu diesem Anlaß an diesem Ort zusammengekommen waren. So waren als Gäste einige der in den dreißiger und vierziger Jahren linientreuen KommunistInnen vertreten, die zu Lebzeiten Trotzkis diesem wenig freundschaftlich gegenüberstanden; desweiteren auch eher undogmatische Linke jener Jahre und last not least wohnten auch der deutsche Botschafter und der Kulturattaché der Büstenenthüllung bei. Abgeschlossen wurde der Abend im Museum Trotzki mit einer literarischen Lesung, die die 95jährige Romanistin Mariana Frenke-Westheim, die 82jährige Schauspielerin Brigitte Alexander und der etwas jüngere Bruno Schwebel gestalteten.

Eine weitere, besondere Note gaben dem Symposium die ehemaligen Exilierten, die als Ehrengäste eingeladen worden waren. Die heute noch in Mexico lebenden, bereits erwähnten Brigitte Alexander, Mariana Frenk-Westheim und Walter Reuter trugen zur Gestaltung des kulturellen Rahmenprogramms bei. Die aus Prag kommende Lenka Reinerova und Charlotte und Walter Janka aus Berlin ergänzten mit ihren Erinnerungen das akademische Programm.

Zum Schluß bleibt noch zu erwähnen, daß dieses Symposium nicht ohne die Vorarbeit des 1987 gegründeten „Instituto de Investigaciones Interculturales Germano-Mexicanas“ möglich gewesen wäre. Die Leiterin, Renata von Hanffstengel, war die treibende Kraft bei der Konzeption und Organisation des Symposiums. Das Instituto (Calle 23 No 8, San Pedro de los Pinos, 03800 Mexico D.F.) publiziert übrigens alle zwei Jahre eine Zeitschrift, die über seine Aktivitäten und die neuesten, das mexicanische Exil betreffenden Bucherscheinungen Aufschluß gibt. Eine Dokumentation über das Symposium ist ebenfalls geplant.

Ulrike Schätte recherchiert z. Zt. mit einem Stipendium des „Förderprogramms Frauenforschung“ des Berliner Senats für eine Buchveröffentlichung zum Thema: „Deutschsprachige Frauen im antifaschistischen Exil in Mexico“.