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...ein ständiges Suchen

Militärpfarrer, Studentenpfarrer, Befreiungstheologe – Stationen im Leben des Martin Huthmann

Mit dem 1931 geborenen Martin Huthmann stellen wir in den „Lebenswegen“ jemanden vor, der der ila seit ihren Anfangstagen verbunden ist. In den siebziger Jahren war er Studentenpfarrer in der katholischen Studentengemeinde (KSG) Bonn, die zu dieser Zeit ein Ort war, wo Solidaritätsarbeit mit Lateinamerika eine wichtige Rolle spielte. Sein konsequentes Christentum, das keine Unterwerfung unter die Mächtigen in Kirche und Gesellschaft akzeptiert und das den Blick auf die „unten“ lenkt, hat mehrere ila-MitarbeiterInnen geprägt, auch wenn sie später andere Kategorien zur Analyse gesellschaftlicher Prozesse übernahmen bzw. entwickelten. Martin hat aber nicht nur den Politisierungsprozeß einzelner ila-MitstreiterInnen gefördert, auch der Aufbau des Oscar-Romero-Hauses, in dem die ila und andere Infostellen ihre Büros haben, ist untrennbar mit seinem Namen und seinem Engagement verbunden. Seit 1983 lebt Martin nicht mehr in der BRD, sondern arbeitet als Pfarrer in Jaciara im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso. 1993 war er wieder einmal zu Besuch in der ila, wo Gert Eisenbürger folgendes Gespräch mit ihm führte.

Gert Eisenbürger

In deinem Buch „Der Gott, der uns vorangeht“ schreibst du, du hättest dich mit 9 oder 10 Jahren entschlossen, Priester zu werden. Warum beschließt ein Kind, Priester zu werden, und setzt diesen Entschluß später auch um?

(lacht) Thomas Aquin hat einmal gesagt, daß ein Mensch mit sechs oder sieben Jahren seine religiöse Grundentscheidung fällt. Ob das falsch oder richtig ist, weiß ich nicht. Für mich war die erste Kommunion ein wahnsinnig wichtiges Ereignis. Das lag auch am Katechismus-Unterricht, an der religiösen Erziehung, daß man da Jesus die Treue schwor usw. Ich habe das nicht thematisiert, etwa in Gesprächen mit meinen Eltern, es war eher eine Entscheidung, die im Untergrund heranreifte. Ich erinnere mich noch gut, daß ich nach der vierten Klasse, bei meinem Wechsel aufs Gymnasium, meinen Eltern sagte, ich wolle Latein und Griechisch lernen. Ich habe ihnen nicht erklärt warum, aber da stand für mich eindeutig fest, ich will den Weg zum Priestertum gehen.

Aber da muß es doch tiefere Gründe gegeben haben, der Kommunionunterricht allein kann es doch nicht gewesen sein?

Ich glaube, daß der Faktor der Nazis in Berlin entscheidend wichtig war. Unsere Pfarrkirche „Heilige Familie“ lag direkt neben der SS-Kaserne in Lichterfelde, und da war das Hauptzentrum der SS. Wir waren auf dem Weg zur Kirche immer mit der Kaserne konfrontiert. Nazis und Kirche, das waren so gegenüberliegende Pole. Die Nazis als Machtfaktor, die Kirche – ja, was war die Kirche für uns? – ein Ort der Freiheit, des Schutzes, und von daher hatte ich immer eine starke kirchliche Bindung.

Ich habe mich nie mit der Frage auseinandergesetzt: Wirst du Priester oder nicht? Das war immer klar. Nach dem Abitur habe ich meinen Eltern vor den Latz geknallt, ich studiere jetzt Theologie. Meine Eltern reagierten sehr skeptisch und meinten, ich solle erst mal einen Tanzkurz machen. Also machte ich einen Tanzkurs. Aber das war alles Spielerei für mich, mein Entschluß stand fest.

Du hast dann Theologie studiert und beschreibst es so, daß dich das Studium teilweise interessiert hat, aber du die Zeit im Priesterseminar als dunkel, restriktiv und repressiv erlebt hast. Warum bist du trotzdem dageblieben?

Ich habe zuerst ein Jahr in München studiert, Philosophie, das war phantastisch, da hatte ich Riesenspaß dran. Dann kam ich nach Bonn, da war die Philosophie stinklangweilig, lieferte keine Auseinandersetzung, sondern bestand im Einbläuen einer aristotelischen Ideologie. Das ganze Leben im Kasten (Priesterseminar, wo die Priesteramtskandidaten wohnen und geistig-ideologisch betreut werden – die Red.) war tödlich. Ich hatte zuerst frei studiert, d.h. hatte ein Zimmer in der Stadt, weil ich in den Kasten nicht rein wollte. Aber schließlich mußte ich doch eintreten, weil ich sonst nicht hätte Priester werden können. Aber diese ganze Atmosphäre im Seminar hat mir die Lust an der Theologie genommen. Ich habe im Seminar auch gemotzt und Kritik geübt, aber nur innerhalb des Systems. Grundsätzlich stimmte für uns das System, da gab es nichts dran zu rütteln. Eine andere Art von Kirche war für uns damals – es war ja noch vor dem Konzil – nicht vorstellbar (das Zweite Vatikanische Konzil 1962-65 brachte eine gewisse Reform und Öffnung innerhalb der kath. Kirche – die Red.).

Du bist 1958 der Priestergemeinschaft „Jesus Caritas“ beigetreten. Kannst du darüber etwas erzählen?

Ich dachte damals, wir brauchen irgendwie einen neuen Orden, nicht wie die alten Orden, wo man im Kloster lebt, sondern mitten unter Menschen. Genau das war der Ansatz der „Kleinen Brüder Jesu“, die 1930 in Frankreich gegründet worden waren, und zwar in der Tradition von Charles de Foucauld, einem franz. Missionspriester, der 1916 in Afrika erschossen worden war. Die Kleinen Brüder lebten und arbeiteten dort, wo die Leute waren: in den Fabriken, in den armen Vierteln oder im „Milieu“. Sie wollen präsent sein bei denen, die am Rand leben, am Rand der Gesellschaft und vor allem am Rand der Kirche – aber nicht im Sinne einer primär politischen Orientierung, sondern als theologische Orientierung, als christlicher Anspruch.

Nach deiner Priesterweihe hast du in Bonn als Kaplan gearbeit und warst dann – was für mich sehr überraschend klingt – 10 Jahre Militärseelsorger bei der Marine. Warum ausgerechnet Militärpfarrer?

Ich war hier in Bonn-Duisdorf Kaplan in einer heilen Welt. Äußerlich zeigte sich das z.B. darin, daß ich Weihnachten 12 Stunden im Beichtstuhl saß, daß wir sonntags sechs volle Messen hatten, daneben Meßdienergruppen, Jugendarbeit, Schule... Ein volles Programm in einem Milieu, wo die Herrschaft der Kirche völlig ungebrochen war. Dann kam ein Anruf vom Personalchef des Bistums und die Frage: „Wollen Sie zur Militärseelsorge?“ Darauf sagte ich spontan, nein, dort könne man keine Seelsorge betreiben. Aus eigener Erfahrung wisse er, daß man sehr wohl unter Soldaten Seelsorge treiben könne, war seine Antwort. Also sagte ich zu, ohne weitere Überlegungen. Man sieht, wie gut wir erzogen waren: Gehorsam; was von oben kommt, kommt von Gott. Ich wurde dann zum Generalvikar des Militärbischofsamtes in Bonn gerufen. Prälat Werthmann sagte, für ihn käme es darauf an, daß die Kirche auch unter den Leuten präsent sei, die ihr fern ständen. Die Leute von der Marine seien protestantisch oder hätten keine kirchlichen Bindungen und außerdem Seeleute, also ganz weit draußen. Und er wolle, daß einfach einer aus der Kirche da sei, auch wenn der nicht viel ausrichten könne. Damit faßte er mich natürlich genau bei meinem Anspruch bzw. dem unserer Priestergemeinschaft. Das war der Grund, warum ich – ohne groß zu überlegen – hingegangen bin.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, was es heißt, Pfarrer auf einem Kriegsschiff zu sein. Was hast du den ganzen Tag gemacht?

Nichts. Ich hatte in Kiel eine Dienststelle und war zuständig für mehr als zwölf Zerstörer. Jeder hatte ungefähr 240 Mann Besatzung. Mein Auftrag war, mit denen rauszufahren. Das tat ich dann auch, ich fuhr mit zur See, normalerweise vier Wochen. Da kämpft man erst mal gegen Wind und Wellen, und es werden Mnnöver gefahren, da bleibt keine Zeit übrig. Tagsüber ging ich durchs Schiff, klönte mit den Unteroffizieren und Soldaten, aber eigentlich nie über Religion, es sei denn, jemand fing damit an. Ich sprach das meinerseits nie an. Ich war einfach nur anwesend.

Ich habe bei der Marine überhaupt erst das Leben der Menschen kennengelernt. Während des Studiums und meiner Zeit als Kaplan erfuhr ich nichts über das wirkliche Leben, da galten nur System, Moral und Gesetz. Der Mensch hatte wenig Eigenwert. Ich erinnere mich noch 1963 an eine Diskussion mit Unteroffizieren, die katholisch waren, aber nach dem damaligen Kirchenrecht in Sünde lebten, weil sie z.B. als Katholen evangelisch verheiratet waren – das war damals ein großes Problem. Die waren so geladen, so wütend auf die Kirche, auf die Macht der Kirche, die das Gewissen vergewaltigt. Da habe ich als Repräsentant der Kirche erst mal ganz schwer einen auf den Deckel bekommen. Ich habe mir da geschworen, daß Kirche und Macht nichts miteinander zu tun haben dürfen und ich gegen Macht in der Kirche kämpfen muß.

Warum hast du als Militärpfarrer aufgehört?

Unsere Priestergemeinschaft wählte mich als neuen Verantwortlichen für Deutschland. Die Wahl war der Anlaß, von der Marine wegzugehen und in die Kölner Diözese zurückzukehren. In Köln schlug mir der gleiche Mann, der mich zur Militärseelsorge gerufen hatte, vor, ich solle Kaplan am Bonner Münster (Hauptkirche in Bonn – die Red.) mit dem Titel „Pfarrer“ werden. Ich nahm an, aber das war eine katastrophale Zeit. Nach zehn Jahren Militärseelsorge wieder in einer so frommen Kirche, ich dachte, hier sei die Zeit stehengeblieben. Ich hatte eine Wohnung von sechs Zimmern, da konntest du mit Rollschuhen durchfahren. Da wohnten dann bald ein Strafentlassener, ein Tippelbruder, Studenten, direkt gegenüber der feinen Wohnung des Stadtdechanten, der einmal sagte: „Sie sind ein Kommunist.“ Nach einem Jahr wurde ich dann befreit und kam als Pfarrer zur KSG, zur Katholischen Studentengemeinde.

Gab es in der Bonner KSG keinen Widerstand gegen einen ehemaligen Militärpfarrer als Studentenpfarrer?

Als ich mich bei der KSG bewarb, nahmen die mich im Gemeinderat ziemlich auseinander. Es stand auf der Kippe, ob sie mich nehmen wollten oder nicht. Die Studenten hatten damals immerhin noch ein kleines Mitspracherecht über die Person des Studentenpfarrers. Es wurde argumentiert, der ist Militärpfarrer gewesen, der paßt doch nicht in die Studentengemeinde. Es war ein harter Abend. Ich bin – glaube ich – gerade so reingekommen.

Kritische politisierte Studenten, die dich massiv in Frage stellten, waren doch auch für dich ein anderes Milieu als die Marinesoldaten oder die Leute im Bonner Münster?

In der Studentengemeinde hatte ich zum ersten Mal das Erlebnis von Gemeinde. Beim Militär gab es keine Gemeinde. Im Bonner Münster ging man zwar in die Kirche, aber das ist noch nicht Gemeinde. In der KSG erfuhr ich zum ersten Mal, daß Kirche Gemeinschaft ist. In der Militärseelsorge und im Münster war die Gestaltung der Gottesdienste genau festgelegt. In der KSG haben wir frei Gottesdienst gemacht. Das war ein großes Erlebnis.
Im Gemeinderat gab es eine lebhafte politische Diskussion, wo man eben sagte, die Gemeinde ist politisch und muß deshalb auch eingreifen. Ein Schwerpunkt der Gemeindearbeit waren die Arbeitskreise zu Strafgefangenen, Behinderten, Dritte Welt. Ich versuchte, mit allen Kontakt zu halten. Ich war auch öfter auf deren Treffen und habe später im Arbeitskreis „Kirche in der BRD – Kirche in der Dritten Welt“ intensiv mitgemacht. In diesem AK versuchten wir, die theologischen Impulse aus Lateinamerika aufzunehmen und in unsere kirchlich-politische Praxis zu integrieren.

Die KSG Bonn war in den siebziger und frühen achtziger Jahren bekannt als ein Ort kritischen kirchlichen und gesellschaftspolitischen Engagements. Wie ergaben sich diese Schwerpunkte. Welche Rolle spielte der Pfarrer dabei?

Ich versuchte, in den Arbeitskreisen präsent zu sein und die Themen der Ak’s in die Gottesdienste ‘reinzubringen. Aber es gab natürlich auch Vorbehalte gegen den Pfarrer. Logisch, viele Arbeitskreise waren sozialpolitische Arbeitskreise, und es bestand immer die Angst, die Kirche mit ihrem karitativen Verständnis, die macht uns die Arbeit kaputt. Deshalb war ich da vorsichtig, stand eigentlich mehr in der Rolle des Lernenden, um die Ansätze und Probleme zu verstehen.

Ende der siebziger Jahre begann die Friedensarbeit in der KSG mit der ersten Bonner Friedenswoche. Die ging vom linken Spektrum aus. V.a. die DKP klinkte sich stark ein. Wir beteiligten uns an der Friedenswoche und wurden deshalb stark kritisiert, weil wir uns von Kommunisten lenken lassen würden. Darauf antworteten wir immer, was soll das, wir haben unsere eigenen Positionen, hatten ein Gemeindewochenende zum Thema Frieden, haben diese Diskussionen im Gemeinderat fortgeführt und schließlich die Friedenswoche mitgestaltet. So stiegen wir langsam in die Friedenspolitik ein und machten dann auch viele Aktionen. Die meisten haben wir selber organisiert. Am NATO-Tag gingen wir z.B. in einer Prozession duch die Bonner Innenstadt. Ich war immer der Meinung, es sei richtig und wichtig, bei politischen Aktionen die katholischen Motive von Prozession und Kreuztragen beizubehalten. Das gehörte für mich zusammen.

Du hast eben erzählt, im Arbeitskreis „Kirche in der BRD – Kirche in der Dritten Welt“, seien für euer Engagement die Impulse aus Lateinamerika, sprich der Befreiungstheologie, sehr wichtig gewesen. Welche Impulse waren das konkret, und wie habt ihr euch damit auseinandergesetzt?

Die Impulse kamen von verschiedenen Seiten: über die Zeitschrift „Orientierung“, über die Auseinandersetzung mit Ernesto Cardenal. Sonntags im Gottesdienst lasen wir Texte aus dem Evangelium der Bauern von Solentiname. Wir verfolgten den Prozeß in El Salvador, das Engagement der Christen und die Repression, von der sie immer mehr betroffen waren, die Ermordung der Priester und Laienkatecheten und das konsequente Engagement von Oscar Romero, des damaligen Bischofs von San Salvador. Da wurde Oscar Romero schon ganz wichtig für unsere Arbeit: sein Engagement und seine Theologie. In dieser Zeit luden wir einmal den Kleinen Bruder Michael aus Duisburg ein, der 17 Jahre bei der Müllabfuhr gewirkt hat. Wir haben uns auf einem Gemeindewochenende gefragt: „Wie müssen wir als Kirche heute leben?“ Wir sind Akademiker, gehören also nicht zur unterdrückten Klasse. Unsere „Berufung“ muß sein, für die Unterdrückten zu arbeiten. Das war ein sehr fruchtbares, gutes Wochenende, das uns geistig und ideologisch stark prägte.

Du hast als Pfarrer nicht im Pfarrhaus, sondern im heutigen Oscar-Romero-Haus in einer WG gewohnt. Kannst du darüber etwas erzählen?

Ich hatte während meiner Zeit am Bonner Münster einen Familienkreis, die einzige Gruppe, in der ich mich unter Menschen fühlte. Ein Mitglied der Gruppe, Paul Epping, war Baudirektor der Stadt. Als ich dann bei der KSG war, schrieb ich dem Stadtdirektor, ich möchte mit Studenten zusammenleben und suche ein geeignetes Haus, ob er nicht ‘was wüßte. Im November ’72 gingen Paul Epping und ich in die Victoriastr. 27 (heute: Heerstraße 205). Das Haus dort war völlig runtergekommen, ein paar Tippelbrüder hatten sich einquartiert. Paul Epping sagte zu mir, ich könne das Haus für unser Projekt haben. Ich war mir eigentlich nicht bewußt, was auf mich zukam. Am 29. März 1973 bestellte ich einen Möbelwagen und ließ meine ganzen Bücher oben auf die oberste Etage auf den Flur knallen. Eine Frau aus dem Familienkreis und eine Studentin halfen mir. Dann haben wir oben sauber gemacht, d.h. den alten Scheiß rausgeschmissen, die Lokusse waren alle zugesperrt, vollgekackt. Ich habe an dem Tag ein Schloß besorgt, um wenigstens die Eingangstür abschließen zu können, abends Papier vor die Fenster geklebt, einen Stuhl vor die Tür gestellt und gesagt: „So, jetzt bist du in deinem neuen Haus.“ Hier haben wir dann mit ein paar Studenten angefangen, in der ersten Zeit nachts bis drei, vier Uhr gearbeitet, um das Haus in einen bewohnbaren Zustand zu bringen. Ich könnte Bände füllen, was ich damals so alles gelernt habe: tischlern, glasern, verputzen, Elektrizität, Installation und die Hände kaputtklopfen...

1981/82 kam es mit dem Erzbistum Köln zum Konflikt um die KSG Bonn, ein kirchlicher Repressionsakt, der bundesweit Aufsehen erregte. Was waren die Hintergründe dieses Konflikts?

Ich schätze, der unmittelbare Anlaß war unser Engagement in der Friedensbewegung. Ob das direkt in Köln Anstoß erregt hat, weiß ich nicht, ich schätze, daß das mehr über Bonner CDU-Kreise kam. Die Kritik von Kardinal Höffner, dem damaligen Erzbischof von Köln, entzündete sich aber nicht an unseren politischen Aktivitäten, sondern an unserer Art, die Gottesdienste zu gestalten. Außerdem war ein zentraler Streitpunkt die Gemeindeleitung in der KSG. Wir hatten ein Gemeindeprinzip, wo der Pfarrer die Gemeinde begleitet, nicht drübersteht.

Wir hatten mehrere Diskussionen mit dem Kardinal. Er war auch bei uns in Bonn. Manchmal gab es Diskussionen mit 300 Leuten im Saal. Wir stellten unseren politischen Anspruch von Gemeinde dar und begründeten, daß man die Liturgie ändern müsse, weil heute die Menschen anders sprächen. Der Kardinal merkte bei den Diskussionen, daß das nicht in seinem Sinne lief, daß wir nicht zu Kreuze krochen, und damit war klar, irgendwann kommt der Brief, ab dem soundsovielten sind sie nicht mehr Studentenpfarrer. Als meine Absetzung bevorstand, war für uns ein Knackpunkt, daß die Gemeinde mitreden durfte, wer der nächste Pfarrer wird. Dies lehnte der Kardinal ab und warf uns in einem Brief vor, wir seien nicht mehr katholisch, wir propagierten calvinistische Theologie. In der katholischen Kirche bestimme der Bischof, wer Pfarrer wird. In einer Diskussion – das werde ich nie vergessen – begründete der Kardinal das so: wenn er Priester haben wolle, die nicht heiraten könnten und damit einen Liebesverlust hinnehmen müßten, dann müsse er denen Macht geben, dann könne nicht die Gemeinde bestimmen, wer Pfarrer werden darf. Ich dachte nur, das ist doch wahnsinnig, wie kann der Kardinal vor aufgeklärten Studenten so den Zölibat begründen. Na ja, es kam, wie es kommen mußte: Er diktierte, ich wurde wegen mangelnden Vertrauens abberufen, und es kam ein anderer Pfarrer. Da der noch nicht da war, mußte ich notgedrungen die Gemeinde noch ein halbes Jahr kommissarisch leiten, während der Stadtdechant beauftragt wurde, die Oberaufsicht über die Gemeinde zu übernehmen. Der letzte Konflikt waren die Homosexuellen. Prinzip bei uns in der Gemeinde war, hier kann tagen, wer will. Wir sind offen für alle. Da kam also eine Homosexuellen-Initiative und wollte eine Diskussion führen. Wir, d.h. der Gemeinderat, sagten zu, kündigten die Veranstaltung an, druckten die Plakate usw. Der Generalvikar bekam das mit und schrieb mir, er verböte diese Veranstaltung. Also überklebten wir die Plakate mit dem Vermerk „Vom Generalvikar verboten, die Veranstaltung findet in der ESG statt“. Mit der ESG, der Evangelischen Studentengemeinde, arbeiteten wir ohnehin sehr eng zusammen. Darauf bekam ich wieder einen Brief vom Generalvikar, in dem er mir Nichtbeachtung seiner Weisung vorwarf und mich aufforderte, ich solle mich persönlich von der Veranstaltung distanzieren. Ich habe damals lange nachgedacht, was das bedeutet, wenn ich mich persönlich von den Homosexuellen distanzieren solle, und dachte unwillkürlich an die Nazizeit und die Diskriminierung der Juden. „Ich werde mich persönlich nicht von der Veranstaltung distanzieren“, schrieb ich zurück, „auch wenn sie mich vom Amt entfernen würden“. Das war für mich ein Punkt, wo das Ende der Fahnenstange erreicht war. Nach meiner Entlassung ging der Kampf in der KSG natürlich weiter, jetzt gegen die Gemeinde, die sich noch immer nicht unterwerfen wollte. Schließlich wurde die Studentengemeinde zeitweilig geschlossen und später als Kath. Hochschulgemeinde wieder eröffnet. Seit 1978 gab es schon parallel zur KSG eine Basisgemeinde, zu der viele der aktiven KSG-Mitglieder gehörten. Viele dieser Leute aus der Basisgemeinde zogen dann später hier ins Romero-Haus.

Zeitgleich mit der Schließung der KSG bzw. kurz danach wurde die Initiative gestartet, das Haus Heerstraße 205, das ihr renoviert und hergerichtet hattet, zu kaufen. Wie entstand diese Initiative, und wie habt ihr es tatsächlich geschafft, das Haus zu kaufen?

Als wir 1973 in das Haus einzogen, übernahm der „eingetragene Verein“ der KSG die Verantwortung, mit der Stadt den Nutzungsvertrag abzuschließen. Ich garantierte, daß dem Verein keine finanziellen Forderungen entstehen würden. In diesem Verein waren die Repräsentanten des Bonner Katholizismus – Stadtdechant Stumpe, Rechtsanwalt Daniels usw., insgesamt sieben oder acht Leute – vertreten. Stadtdechant Stumpe war übrigens der erste, der mir damals zu diesem Unternehmen gratulierte, das werde ich nicht vergessen.

Dann kam meine Absetzung, und ich schwor mir, dieses Haus kriegt Köln nicht, weil über die Herrn vom e.V. letztlich Köln bestimmte. Da war für mich die einzige Alternative, das Haus zu kaufen. Ich las gerade den Propheten Jeremias, wo Jahwe zu Jeremias sprach: „Kaufe einen Acker in Anatot als Zeichen der Hoffnung in dieser Zeit“. Darauf schrieb ich einen Brief „Kaufe einen Acker in Anatot“ und schickte den los an Leute, die ich kannte. Ich schrieb darin, wir bräuchten 250 000 DM, um das Haus zu kaufen. Der Brief ging in ganz Deutschland ‘rum, wir waren durch den ganzen Krach ein bißchen bekannt geworden. Kurz und gut, wir bekamen das Geld zusammen, gründeten einen Verein, gaben uns eine Struktur mit einem Vorstand, zuständig vor allem für die finanziellen Dinge, und einem Beirat, der für die sozialen Belange des Hauses zuständig sein sollte.

Ihr habt das Haus „Oscar Romero Haus“ genannt. Wie fiel die Entscheidung, das Haus nach Oscar Romero zu benennen?

Da gab es kein Gremium, das das entschied, das habe ich mehr oder weniger alleine entschieden. Natürlich waren die Basisgemeinde und die Leute im Verein gleicher Meinung, aber es gab keine Diskussion, es war eigentlich immer klar, daß es Oscar Romero Haus heißen sollte. Hier sollen Leute wohnen und arbeiten, die sich im Geiste Oscar Romeros für die Unterdrückten und Armen in der Welt einsetzen.

Als das Haus dann soweit funktionierte, hast du die Fliege gemacht und bist nach Brasilien gegangen. Was waren die Gründe. Was hat dich dahin gezogen?

Ich hatte mir nach meiner Absetzung vom Bistum ein halbes Jahr Urlaub ausgebeten. Das war im Februar 1982. Im Juli oder August war die Generalversammlung unserer Priestergemeinschaft in Algerien, um einen neuen Generalverantwortlichen für die ganze Welt zu wählen. Und da lag in der Luft, erstmals einen Kollegen aus der Dritten Welt zu wählen. Zur Debatte stand ein Günther Lendbradl aus der Diözese Rondonópolis im Mato Grosso. Deutscher, aber seit seiner Priesterweihe in Brasilien tätig. Er rief seinen Bischof an, ob der mit der Kandidatur einverstanden sei. Der Bischof sagte, er erlaube das nur, wenn wir einen Ersatzmann für Günter schicken würden, er hätte zu wenig Priester. Da saßen wir nun. Ich war seelisch ziemlich aufgewühlt. Die Sache reizte mich schon, aber ich hatte meine Zweifel. In der KSG hatte Werner Rätz – der war eine Zeitlang so etwas wie der Chefideologe – immer vertreten, was sollen wir in der Dritten Welt. Wir müssen hier arbeiten. Das war auch die Meinung eines Brasilianers, der auf einem Treffen des Priesterclubs gesprochen hatte, „Kämpft bei Euch gegen Euren Kapitalismus, dann helft Ihr uns am besten. Eure Arbeit ist bei Euch und nicht in der Dritten Welt.“ Nun stellte sich plötzlich konkret die Frage, und ich kämpfte mit mir. Nach zwei oder drei Stunden meldete ich mich und sagte: „Leute, ich bin bereit, ´rüberzugehen, wir können Günters Bischof Bescheid sagen.”

Ich hatte dann wahnsinnige Schwierigkeiten, ein Visum zu bekommen. Ich schätze, die in der brasilianischen Botschaft in Bonn wußten etwas von meiner Tätigkeit in der KSG. Es war noch die auslaufende Militärdiktatur in Brasilien, da waren gerade zwei französische Priester im Knast gewesen und schließlich ausgewiesen worden, weil sie sich in Landkonflikten engagiert hatten. Ich habe über ein Jahr hier gewartet und in dieser Zeit eigentlich nur Friedensbewegung gemacht. Köln wurde schon nervös. Nach einem Jahr wurde es mir zu bunt. Da hat Günter zum Glück geschrieben, ich solle ‘rüberkommen, sie hätten demnächst ein Treffen, und ich solle ihn einfach besuchen. Ich habe dann noch die große Friedensdemo im Oktober ’83 und die Blockierung des Verteidigungsministeriums mitgemacht. Die Blockade war freitags, die Demo samstags, und sonntags ging mein Flugzeug. Bei der Blockade dachte ich noch: „Hoffentlich nehmen sie mich nicht fest, sonst kriege ich das Flugzeug nicht.“ Ich hatte ein Touristenvisum für 90 Tage. Kurz vor Ablauf der Frist fuhr ich von Brasilien nach Paraguay, ließ das Visum um 90 Tage verlängern. Danach mußte ich nach Deutschland zurück, fuhr wieder nach Brasilien, nach 90 Tagen wieder nach Paraguay. Zweimal ging das hin und her, und als ich das dritte Mal drüben war, kam ein Anruf von Brasilia, ich bekäme jetzt mein Visum. Aber bis ich eine Dauer-Aufenthaltserlaubnis kriegte, dauerte es noch bis zum August 1989.

Ihr hattet in eurem Arbeitskreis „Kirche in der BRD – Kirche in der Dritten Welt“ sicher Vorstellungen von gelebter Befreiungstheologie und Basisgemeinden. Haben sich derartige Vorstellungen bestätigt, oder sah die Praxis doch anders aus?

Erstmal habe ich die Sprache gelernt, jahrelang, das war eine Katastrophe. Da habe ich gemerkt, daß ich alt bin. Ich mußte wie ein kleines Kind langsam alles lernen, und das war eigentlich gar nicht das Schlechteste. Da kriegte ich psychisch mit, wie das geht, wie langsam die Leute sind. Das war ein wichtiger Punkt. Befreiungstheologie wächst mehr im Leben mit den Leuten, im Gottesdienst, in Bibelkursen. Mein Ansatz ist einfach, zu fragen, trägt dies oder jenes zur Unterdrückung der Leute bei, oder hilft es zu ihrer Befreiung. Und immer wieder in der Bibel nachschauen und forschen, das ist ein Zusammenspiel von Leben und Bibel. Befreiungstheologie ist nicht irgendein fertiges Programm, sondern ein ständiges Suchen. Das sind ganz kleine, arme Leute, die nicht viel im Kopf haben, die nur von ihrem persönlichen Leben her denken und fühlen und überhaupt kein geschichtliches Bewußtsein haben. Das war anfangs schon frustrierend.

Auf der anderen Seite versteht man die Leute die 500 Jahre Sklaverei hinter sich haben. Wie wollen sie aus diesem Denken so schnell ‘rauskommen? Das können sie gar nicht. Bei uns in Mato Grosso ist die Sklaverei erst seit 50 Jahren abgeschafft. Ich kann schon einen Beitrag in dieser Situation leisten und zwar auf theologischer Ebene. Die Religion liefert ja immer die nötige Ideologie, um der herrschenden Elite Akzeptanz beim Volk zu verschaffen. Bei einem Kurs für Basisgemeinden sagte eine Afrobrasileira: „Wir wollen leiden, Gott will es ja.“ Wenn sie leiden, fühlen sie sich identisch mit Gott. Aber die Bibel denkt so nicht, sie denkt nicht von den Eliten her, sondern vom unterdrückten Volk. Ich hoffe also, die falschen Götter zu entlarven und den Gott der Befreiung zu entdecken.

Die ländlichen Gebiete in Brasilien sind – regional sehr unterschiedlich – von Landkonflikten geprägt. Großgrundbesitzer vertreiben Kleinbauern von ihrem Land, oft mit Pistoleiros und Gewalt. Gibt es die Konflikte auch bei euch, und was könnt ihr als Gemeinde tun?

Der riesige Mato Grosso ist praktisch unter latifundários (Großgrundbesitzer – die Red.) vermessen und verteilt. Es gibt viele Landlose, die auf der Suche nach einem Stückchen Land sind. Wir hatten einmal eine Kampagne der „Fradernidade“ (Brüderlichkeit), „Land Gottes – Land den Menschen“. Auch in Jaciara bildete sich eine Gruppe des „Movimento Sem Terra“ (Bewegung der Landlosen). Mit 70 landlosen Familien sind wir nach Cujabá gegangen, das sind 150 km, und forderten von der Regierung Land. In Cujabá haben die Leute drei Monate in der Jesuitenkirche gehaust. Es war kurz vor der Wahl, und da die Regierung Propaganda machen wollte, hat sie ihnen Land gegeben, 1000 km nördlich. Sie zogen dann dorthin und begannen, das Land zu bearbeiten. Wir haben sie lange betreut und unterstützt. Leider ist die Hälfte weg, die haben ihr Land wieder verhökert. 30 Familien sind noch da, denen geht es wirtschaftlich gut. „Gut“ heißt, sie können ihre Nahrungsmittel anbauen und haben ein paar Kühe für Milch und Käse. Wir haben viel nachgeholfen, ein Landwirtschaftsexperte hat sie drei Jahre lang begleitet. Die Produktion läuft einigermaßen, aber ihr Problem ist die Vermarktung. Mato Grosso hat nur drei Millionen Einwohner.

Um z. B. Tomaten zu verkaufen, müßten sie 800 km fahren nach Cujabá. Das ist nicht drin, d.h. sie können ihre Produkte nicht verkaufen. Selbst zur nächsten Kleinstadt sind es 40 km Landweg, der im Februar unter Wasser steht. Dann können sie keinen Arzt und nichts erreichen. Schule haben sie inzwischen, aber die Infrastruktur (Elektrizität, Gesundheitsversorgung) fehlt. Zu essen haben sie, können sich aber nichts kaufen, sie haben kein Geld.
Da haben wir uns ziemlich engagiert. Als allerdings die Hälfte der Leute in den ersten Jahren aufgab, waren wir schon etwas frustriert. Es gründen sich immer wieder Vereinigungen von Landlosen. Es ist aber, wie das gerade erzählte Beispiel zeigt, nicht nur das Problem, daß Land fehlt. Vor dreißig Jahren gab es im Mato Grosso noch viele Kleinbauern. Die geben alle auf. Ich betreue noch einige Gemeinden, wo Leute auf dem Land leben. Dann kommt ein Bauer nach dreißig Jahren und sagt, „ich habe mein Land verkauft, ich kann nicht mehr“.

Wenn jemand krank ist oder Produkte verkaufen will, zwanzig Kilometer bergauf zu Fuß, das ist hart, irgendwann passen die. Viele, viele geben auf. Im Süden gibt es immer noch große Bewegungen von Landlosen, wo sie drei, vier Jahre in Zelten wohnen und Land fordern. Aber die Menschen im Süden sind besser organisiert, da ist ein bißchen deutsch-italienisch-polnische Mentalität, die organisieren ihre Arbeit.

Ein ganz wesentlicher politischer Verdienst von befreiender Kirche ist für mich, daß sie die Organisation der Leute fördert bzw. zum Teil erst ermöglicht.  Wie versucht ihr, Organisierung zu unterstützen, welche Erfolge, welche Rückschläge erlebt ihr dabei?

Zunächst mal ist die Kirche auf dem Land der einzige Ort, wo Leute sich organisieren und zusammenhalten. Wenn die Kirche etwas macht, dann kommen sie. Wenn du ihnen sagst, sie müßten in die Gewerkschaft gehen, hört es schon auf. Also geht es nur immer wieder über die Kirche. Wir machen von den Basisgemeinden natürlich auch politische Arbeit. Im vorigen Jahr war bei uns dran: „Gewerkschaft, Partei, Glaube und Politik“. Alle aktiven Basisgemeindemitglieder sind in der PT. Zum Teil kandidieren sie auch für die Arbeiterpartei. Bei den Wahlen selber ist es dann immer enttäuschend. Dann kommen die Großen und versprechen alles Mögliche, und die Leute fallen immer wieder darauf herein. Die echten PT-Wähler sind alle katholische Aktivisten. Klar, in der PT sind natürlich viele Leute, die nichts mit der Kirche zu tun haben, aber auch die interessieren sich für unsere Arbeit, weil sie merken, daß da viel Durchhaltevermögen ist, was den anderen irgendwie fehlt.

Du bist inzwischen fast 10 Jahre in Brasilien und sagst, du fühlst dich mittlerweile dort wohler als hier. Wie kam es dazu?

Man kann wahrscheinlich gar nicht viel machen, aber hier verändert man ja auch nichts. Vielleicht denkt man immer, in Lateinamerika verändert sich die Gesellschaft, da wird alles besser, weil die kämpfen. Aber das ist oft ein Kampf gegen Windmühlen. Aber trotzdem darf man nicht aufgeben, einfach die Scheiße durchstehen, mit den Leuten leben. Emotional sind die Leute unheimlich gut drauf. Das kannst du überhaupt nicht bezahlen. Ich habe schon überlegt: „Was machst du im Alter? Du kannst mit den Leuten nicht richtig diskutieren, dazu fehlt ihnen die Bildung, dann vereinsamst du total.“

Aber andererseits wäre ich da aufgehoben. Ich müßte mir keine Gedanken machen, wer mich pflegen würde, wenn es mir schlecht ginge. Wenn da einer stirbt, dann ist die Familie Tag und Nacht bei dem Kranken. Da ist kein Augenblick, wo sie nicht gucken, was macht er jetzt? Geht es ihm gut? Es ist unheimlich, wie die Menschen sozial zusammenhängen. Dann merkst du schon, daß du da eigentlich gut aufgehoben bist.

Du kommst alle ein bis zwei Jahre in die Bundesrepublik und hast jetzt natürlich einen ganz anderen Blick. Wahrscheinlich ist dieses Land auch anders als früher. Wie nimmst du die BRD heute wahr?

In den ersten Jahren war ich schockiert, welcher Reichtum in diesem Land herrscht. Das geht mir immer noch so, wenn du die Läden siehst, wie die Leute kaufen. Wenn bei uns in Brasilien Weihnachten ist, kauft doch kein Mensch ‘was, die kaufen keinen Kaffee mehr, die können keine Brötchen kaufen, man kauft das Notwendigste. Diese Kaufgesellschaft hier schockiert mich immer wieder. Ein Auto steht hier ungefähr über dem anderen.
Wenn ich mir die Kirche anschaue, man geht hier sonntags morgens eine Stunde in den Gottesdienst, kauft sich wie im Supermarkt den Seelentröster für eine Woche, und dann ist die Sache erledigt. Drüben ist Kirche eingebettet in Gesellschaft, ins soziale Leben, das gehört irgendwie alles zusammen. Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt hier keine sozialen Beziehungen mehr, jeder lebt in seiner Wohnung, macht seine Ferien für sich, macht seine Arbeit für sich, klebt vorm Fernseher. Klar, in Brasilien kleben die Leute auch vorm Fernseher, so ist das auch wieder nicht. Aber hier, das ist eine atomisierte Gesellschaft. Vollkaskoversichert. Ich glaube, es ist hier ganz schwer zu leben, wirklich zu leben.

Ich danke dir für das Gespräch und wünsche dir weiterhin alles Gute.