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Ich fühle mich in erster Linie als Mensch

Interview mit Stefan Blass (Brasilien)

Der 1909 geborene Stefan Blass ist sicherlich der älteste Mitarbeiter dieser Zeitung. Seit Januar dieses Jahres berichtet er für die ila aus São Paulo. Nach Ernesto Kroch (ila 151) und Heinz Ostrower (ila 175) ist Stefan Blass bereits der dritte Emigrant aus der Gruppe der KPO (Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition) aus Breslau, den wir in den „Lebenswegen“ vorstellen. Die Mitglieder dieser Gruppe, die fast alle aus dem deutsch-jüdischen Jugendbund „Kameraden“ kamen, leisteten auch nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 illegale Widerstandsarbeit. 1934/35 wurden die meisten AktivistInnen verhaftet und zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Nach ihrer Haftentlassung kamen mehrere Gruppenmitglieder nach Lateinamerika (Brasilien, Bolivien und Uruguay), wo sie auch nach 1945 blieben. Alle, die diesen alten Kämpfern von der KPO begegnen, sind beeindruckt vom ihrem kritischen Geist und ihrer scharfen Analysefähigkeit, mit der sie weiterhin die Entwicklungen in Lateinamerika und weltweit verfolgen und reflektieren.

Gert Eisenbürger
Gaby Küppers

Sie gehören zur Vorkriegsgeneration – und zwar des Ersten Weltkriegs. Was  ist ihr Geburtsort?

Ich wurde 1909 in Breslau geboren. Meine Eltern waren gute Bürger, mein Vater war Kaufmann, Vertreter. In Breslau habe ich auch bis zum Abitur die Schule besucht und trat dann als Lehrling in eine Furnier- und Sperrholzfirma ein. Dort habe ich sechs Jahre lang gearbeitet. Durch meinen Bruder, der schon längere Zeit in der Kommunistischen Partei Deutschlands – Opposition (KPO – antistalinistische Abspaltung der KPD – die Red.) aktiv war, kam ich ebenfalls in diese Organisation.

Die KPO war ja eine vergleichsweise kleine Organisation in der Arbeiterbewegung...

...eine kleine Organisation, die wir aber als eine der wichtigsten betrachtet haben, weil sie zwischen KPD und SPD stand und versuchte, eine Einheitsfront zu schaffen, damit der Nazismus nicht weiter wächst.

War Ihre damalige Entscheidung für die KPO und gegen eine Mitarbeit in der KPD oder SPD ein bewußter politischer Schritt, oder kamen Sie mehr oder weniger zufällig – etwa weil Ihr Bruder darin Mitglied war – zur KPO?

Nun, zunächst war es keine klare Richtungsentscheidung, aber als ich politisch bewußter wurde, fand ich die Politik der KPO am überzeugendsten. Die KPO war die Organisation, die wohl am klarsten die Entwicklung in Richtung Faschismus sah und immer versuchte, in alle Massenorganisationen von den Gewerkschaften bis zu den Arbeitersportverbänden reinzukommen und Einfluß zu nehmen im Sinne der Schaffung einer Einheitsfront. Die Leiter der KPO, August Thalheimer und Heinrich Brandler, hatten die ganzen Jahre alle Anstrengungen unternommen, um die Einheitsfront zu schaffen. Sie hatten die wachsenden Kräfte der Nazis analysiert, die Rolle, die die SPD und die Gewerkschaften spielten, indem sie, anstatt auf die nazistische Bedrohung zu reagieren, vor allem die KPD bekämpften. Und die KPD machte es genauso, indem sie die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten bekämpfte und es damit unmöglich machte, zusammenzukommen, zumindest in einzelnen Fragen. Damit wuchsen für den Faschismus die Möglichkeiten, an die Macht zu kommen. Und zum Schluß machte Hitler es ja ganz schlau: erst schlug er die Kommunisten, dann die SAP (Sozialistische Arbeiterpartei – Linksabspaltung der SPD, die ebenfalls für eine antifaschistische Einheitsfront eintrat – die Red.), dann die SPD, dann die Gewerkschaften und schließlich die Bürgerlichen, die nicht zu ihnen gehörten.

Als die Nazis die Macht übernahmen, wurde es sofort ziemlich gefährlich für Sie. Was hat sich für Sie persönlich 1933 verändert?

Man hat ab da eben illegal gearbeitet. Wir kamen nur noch in kleinen Gruppen zusammen. Vor allen Dingen versuchten wir, weiter Material herauszugeben. Das kam in der ersten Zeit noch aus der Zentrale der KPO, später wurde auch das schwierig, weil die Zentrale in die Tschechei verlegt wurde. Wir haben also selber kleine Zeitschriften herausgegeben und versucht, die zu verbreiten und an die Arbeiter heranzukommen.
Hinzu kam, daß wir alle aus dem deutsch-jüdischen Wanderbund „Kameraden“ kamen und dort auch nach 1933 weiter aktiv waren. Über die Kameraden hatten wir Verbindung zu Jüngeren, zu denen auch Ernesto Kroch und Heinz Ostrower gehörten. Somit konnten wir solche Menschen weiter beeinflussen und in die Bewegung bringen. Praktisch sind später alle hochgegangen. Die meisten aus unserer Gruppe, unter anderem mein Bruder, wurden schon 1934 verhaftet. Auch ich wurde 1934 zum ersten Mal festgenommen, sie konnten mir da aber nichts nachweisen und ließen mich nach vier Wochen Haft bei der Polizei wieder laufen. 1935 wurde ich dann erneut – diesmal für länger – verhaftet.

Wußten die Nazis bzw. die Polizei, daß Sie vor 1933 politisch aktiv waren?

Nein.

Führten Sie demnach 1934/35 nach außen hin ein normales Leben, tagsüber in der Firma und abends dann die illegale Arbeit in der KPO?

Mais ou menos – mehr oder weniger. Ich ging natürlich jeden Tag in die Firma und machte dort meine Arbeit. Dort wußte man auch nichts über meine politische Tätigkeit. Nach meiner Verhaftung – das habe ich hinterher gehört – kam z. B. einer aus der Firma, der Nazi war, zum Polizeigefängnis und wollte mich besuchen. Ich hatte in der Firma einen guten Namen, und vielleicht dachte er, das alles sei ein Mißverständnis.

Wie waren genau die Umstände Ihrer Verhaftung?

Ich wurde beide Male in der Firma festgenommen. Sie kamen dorthin, verhafteten mich und brachten mich auf einem Wagen ins Polizeigefängnis. Das Polizeigefängnis war ein relativ neues Gebäude, was ganz vorteilhaft war, denn es war nicht so runtergekommen. Aber sonst waren die Haftbedingungen ziemlich hart. Sie gaben einem nichts zu lesen und gewährten auch keinerlei sonstige Vergünstigung, gar nichts. Sie wollten einen schwach machen. Auch bei der zweiten Verhaftung konnten sie mir nicht viel nachweisen. Ich erfuhr auch nicht, woher die Beschuldigung gekommen war. Ich nahm an, daß sie wegen meines Bruders, der schon verhaftet war und in Breslau eine führende Rolle in der KPO gespielt hatte, auf mich aufmerksam wurden. Daß sie nicht viel gegen mich in der Hand hatten, wurde mir allmählich klar. Sie brachten mich z. B. von einer Zelle in eine andere, in der schon jemand einsaß. Wir vertrieben uns die Zeit mit Schachspielen und machten uns dazu selber Figuren aus Brot. Erst viel später ging mir auf, daß oben an der Lampe irgendetwas Komisches war, zweifellos ein Abhörinstrument. Aber da wir schon eine gewisse Schulung hatten, habe ich nie mehr erzählt, als zu erzählen war, auch meinem Mitgefangenen nicht. Er war angeblich von der SPD, aber offenbar von der Polizei instruiert, irgendwas herauszubekommen. Aber ich sagte immer nur, ich sei wegen meines Bruders hier drin, was die Gestapo ohnehin wußte. Mehr nicht.

Wann wurden Sie vor Gericht gestellt?

Nach 11 Monaten Haft bei der Polizei wurde ich ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Das war ein altes Gebäude, und ich wurde mit Kriminellen zusammengelegt. Immer ein Politischer und ein Krimineller. Wir Politischen haben uns immer um ein gutes Verhältnis zu den Kriminellen bemüht, wir haben die anderen auch als Menschen behandelt. Zum Beispiel konnte man, solange man nicht verurteilt war, einmal in der Woche einkaufen. Wenn man von außen – also in unserem Fall von den Eltern – etwas Geld geschickt bekam, konnte man bestimmte Lebens- und Körperpflegemittel einkaufen. Wir haben immer alles mit den Kriminellen geteilt, die mit in der Zelle waren. Das schuf ein gutes Klima in der Zelle, und die kriminellen Mitgefangenen machten uns mit den Gepflogenheiten des Gefängnislebens ein bißchen mehr vertraut. Die hatten ja alle schon Erfahrung, waren fast immer schon öfter dagewesen. Einer meiner Zellengenossen z. B. war ein Berufsdieb, der schon x-mal verhaftet war. Ein anderer war ein Berufseinbrecher. Die haben sich alle gut verhalten und haben einem geholfen zurechtzukommen. Das war eine wichtige Erfahrung, die wir da machten.
Es kam schließlich zum Prozeß. Erst da kam heraus, weswegen sie mich eigentlich verhaftet hatten. Einer der führenden Leute der KJO, der Jugendorganisation der KPO, Robert Bialik, war schon lange im Untersuchungsgefängnis. Um aus ihm mehr herauszubekommen, hatte man ihm verschiedene Leute auf die Zelle gelegt. Sie sollten ihn im Auftrag der Gestapo bespitzeln, aber er hat nie etwas gesagt. Schließlich bot ihm einer, der bald entlassen werden sollte, an, Kassiber – also geheime Briefe – aus dem Gefängnis rauszubringen. Weil Robert lange mit ihm zusammen war, vertraute er ihm und ging auf das Angebot ein. Er schrieb also einen langen Kassiber an seine Mutter und erwähnte darin mich und eine andere Genossin, die noch draußen und nicht verhaftet seien. Wir sollten ihm mit Geld helfen, wenn er flüchten würde. Auf diese Geschichte hin stellte man ihn mir noch im Polizeigefängnis gegenüber. Wir sagten beide aus, wir würden uns nicht kennen. In Wirklichkeit kannte man sich natürlich, aber wir hatten nicht viel Verbindung untereinander, weil wir nicht direkt gemeinsam politisch gearbeitet hatten.
Nachdem ich also in dem Kassiber drinstand, hatte man schon mehr Unterlagen über mich. Die andere Genossin, deren Name auch erwähnt war, wurde ebenfalls verhaftet. Ab da hörte ich des öfteren jemand die Lieder singen und pfeifen, die wir immer zusammen gesungen und gepfiffen hatten. Ich wunderte mich, daß offenbar immer noch neue Leute von uns verhaftet wurden, weil ich glaubte, alle von uns seien längst im Gefängnis. Später habe ich erfahren, daß sie das war. Sie kam aber schnell wieder raus, denn sie stellte sich zum Schein der Gestapo zur Verfügung. Die fragten immer, ob man mit ihnen zusammenarbeiten wollte. Sie ist auf das Angebot der Gestapo eingegangen, daraufhin hat man sie rausgelassen. Sie tat eine Zeitlang so, als ob sie für sie arbeitete, und setzte sich bei der ersten Gelegenheit in die Tschechei ab.

Was wurde Ihnen im Prozeß konkret vorgeworfen?

Illegale politische Aktivität. Ich hatte Schulungen für die Mitglieder der KJO gemacht. In einem dieser Kurse war ein Spitzel dabeigewesen. Da wir zu der Zeit bereits wußten, um wen es sich handelte, sagte ich im Prozeß aus, dieser Typ habe die Kurse geleitet.
Mein Vater hatte mir einen Anwalt genommen. Ich wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Durch die Untersuchungshaft hatte ich schon elf Monate abgesessen. Nach der Verurteilung wurde ich ins Strafgefängnis verlegt. Dort wurde ich gleich von den anderen Genossen, die vor mir verhaftet und verurteilt worden waren, freudig begrüßt. Schon in der Garderobe, wo die Gefängniskleidung ausgegeben wurde, war einer von unseren Leuten. Er sagte mir, daß Heinz Ostrower auch dort sei.
Anders als im Untersuchungsgefängnis mußte man hier arbeiten. Netze stricken, große Netze, die zur Tarnung für die Kanonen und andere Objekte benutzt wurden. Das war keine leichte Arbeit, da sind einem natürlich erstmal die Hände kaputt gegangen, wenn man an diesen Dingern ziehen mußte. Aber man gewöhnte sich schließlich daran. Pro Tag mußte man ein Netz machen. Eine andere Arbeit war, große Haufen Haarnadeln zunächst auseinanderzusortieren und dann zu rollen.

Bestand im Gefängnis weiter eine Art politischer Organisation?

Nein, das würde ich nicht sagen. Man ist in Verbindung geblieben, aber nicht als Organisation. Wo man konnte, versuchte man, sich weiterzubilden. Im Untersuchungsgefängnis konnte man sich noch von draußen Bücher schicken lassen. Sie mußten jedoch alle durch die Kontrolle von Richtern. Im Prozeß gegen die Jüngeren von der KJO, Ernesto Kroch, Heinz Ostrower u. a., sagte der Richter, er habe noch nie Angeklagte gehabt, die so interessiert waren an Bildung, Kultur und Geschichte. Später, nach der Verurteilung, hatte man kaum noch Zeit zum Lesen, man mußte ja den ganzen Tag arbeiten.

Sie wurden 1937 aus der Haft entlassen und mußten Deutschland sofort verlassen?

Ja. In den letzten zwei Wochen war ich mit Heinz Ostrower zusammen in der Zelle. Heinz war zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden. Da er vor mir verhaftet worden war und ich zwei Jahre bekommen hatte, endete unsere Haft fast gleichzeitig. Weil wir beide politische Häftlinge und Juden waren, legte uns ein Gefängniswärter in den letzten beiden Wochen zusammen.
Schließlich kam der Tag der Entlassung. Sie brachten uns wieder auf die Polizei in Breslau. Dort sagten sie uns, wir hätten eine Woche Zeit, um uns fertig zu machen und Deutschland zu verlassen. Während meiner Haftzeit hatten sich meine Eltern um eine Übersee-Auswanderung gekümmert. „Übersee“ war Bedingung, man konnte nicht etwa nach Frankreich oder Italien ausreisen. Mit Beziehungen und Geld war es ihnen gelungen, für mich ein Visum für Brasilien zu beschaffen. Ich hatte großes Glück, denn kurze Zeit später stoppte die brasilianische Regierung die Einwanderung. Das traf auch meinen Bruder. Für ihn waren schon alle Formalitäten erledigt, sie brachten ihn nach Berlin, wo er alle Stempel und Spritzen bekommen sollte. Doch dann kam hier in Brasilien der Staatsstreich von Getulio Vargas, und er konnte nicht mehr ausreisen. Mein Bruder hat danach unheimlich viel durchgemacht. Weil sich seine Ausreise zerschlug, wurde er nach seiner Haftzeit nicht entlassen, sondern kam ins KZ. Er war in verschiedenen Konzentrationslagern – in Sachsenhausen, später in Auschwitz und dann ganz zum Schluß noch mal in einem anderen. Wir haben Berichte davon, die er nachher verfaßt hatte. Er hat überlebt. Offenbar ist er in den Lagern von den KPD-Leuten am Leben gehalten worden. Einmal wurde er von der SS fürchterlich mißhandelt, an den Armen aufgehängt. Danach waren die Arme ausgekugelt, und er konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen. Er konnte nicht mehr arbeiten, das hieß, er war reif, erledigt zu werden. Da haben die Leute von der KPD-Lagerorganisation ihn untergebracht und gepflegt. Ein anderes Mal war er völlig am Ende und wollte sich das Leben nehmen. Auch da haben sie sich um ihn gekümmert und ihn gerettet. Damals ist er dann auf die Linie der Partei übergegangen.

Was ist aus Ihren Eltern geworden?

Meine Eltern – ja – sie sind beide in Lagern umgekommen. Wenn ich viel Geld gehabt hätte, hätte ich sie noch hierher bringen können. Aber woher hätte ich das nehmen sollen? Ich konnte mich selbst kaum unterhalten, jahrelang. Meine Eltern sind nach Theresienstadt gekommen, der Vater war schwer zuckerkrank und ist dort umgekommen. Die Mutter ist noch nach Auschwitz deportiert worden und wurde dort umgebracht. Ich habe nie ganz überwunden, daß es mir nicht mehr gelungen ist, sie noch herzubringen. Aber auf welche Art, wo sollte ich die Mittel hernehmen? Mit viel Geld hätte ich es noch schaffen können. Das hat mir immer einen Stich gegeben, bis heute. Sie haben so viel für uns getan, auch für den Bruder im Lager, immer. Als mein Bruder verhaftet wurde, wurde wenig später auch seine Frau verhaftet. Ein Jahr später wurde ich verhaftet. Damit waren drei aus der Familie im Gefängnis, mein Vater war schwer zuckerkrank. Sie haben uns unterstützt, wo sie nur konnten. Daß sie so umkommen mußten, das ist tragisch

Wie waren Ihre Eltern auf Brasilien gekommen, als sie die Visa für Sie und Ihren Bruder besorgten?

Es gab keinen besonderen Grund, man mußte zugreifen, wo eine Möglichkeit existierte. Man konnte damals die Visa gewissermaßen noch kaufen. Es gab hier in Brasilien Leute, die ein Geschäft daraus machten, Einwanderungszertifikate aufgrund von angeblichem Landbesitz in Brasilien zu verkaufen. Der Landbesitz war natürlich gefälscht, er existierte gar nicht. Als wir Brasilien erreichten, kamen die Beamten in Rio gleich auf’s Schiff und fragten, wo denn das Land sei. Als wir antworteten, zwischen Rio und São Paulo, wußten sie schon Bescheid. Aber sie ließen einen dann doch rein. Wegen des falschen Landtitels machten sie einem jedoch später bei der Aufenthaltsberechtigung immer wieder alle möglichen Schwierigkeiten. Ich glaube, ich mußte mich noch zwei oder drei Mal hier legalisieren lassen. Das kostete natürlich immer Geld, was ich gar nicht hatte und mir borgen mußte.

Hatten Sie, als Sie in Brasilien ankamen, irgendwelche Anlaufpunkte?

Ein Schwager meines Bruders war eine Zeitlang vor mir hergekommen. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil ihm jemand in São Paulo eine Stellung als Chemiker bei einer guten Firma verschafft hatte. Der hat mich in der ersten Zeit hier aufgenommen. Das war eine große Hilfe, denn ich war bei meiner Ankunft ja mittellos. Man durfte bekanntlich nur 60 Mark aus Deutschland mitnehmen, also praktisch gar nichts. Das heißt, die erste Frage war: „Wovon leben?“ Der Schwager meines Bruders riet mir, mich an die jüdische Gemeinde zu wenden, wo es damals eine Stellenvermittlung gab. Das tat ich auch, und so fand ich eine Stelle bei einer Holzfirma in Santo André, bei der schon eine ganze Reihe von Emigranten beschäftigt waren. In der Möbelabteilung hatte der Chef einen Emigranten als Leiter eingesetzt, einen Onkel meiner späteren Frau. Der Meister in dieser Abteilung war ein Deutscher, ein Nazi. Unter diesem Meister war ein Unter-Meister, das war ein Spanier, ein Republikaner. In der Sägeabteilung war ein anderer Spanier, auch eher Republikaner. In der Furnierabteilung arbeiteten zwei deutsche Emigranten, in der Parkettabteilung ein Ungar, in der Leimabteilung noch ein deutscher Emigrant, und schließlich war auch in der Buchhaltung ein Emigrant aus Deutschland beschäftigt.
Ich fuhr anfangs jeden Tag mit dem Zug von São Paulo nach Santo André, später nahm ich mir dort ein Zimmer. Nach drei Jahren heiratete ich, und wir mieteten in Santo André ein Haus.

Ist Ihre Frau auch Emigrantin?

Sie war auch Emigrantin, aber keine politische Emigrantin. Sie war zehn Jahre jünger als ich, sie war mit ihren Eltern fast zur selben Zeit wie ich nach Brasilien gekommen. Ich habe sie über die Firma kennengelernt. Ihr Onkel war, wie gesagt, Leiter der Möbelabteilung, und mit dessen Sohn war ich befreundet. Er stellte mir eines Tages seine Cousine vor. Sie war politisch schon etwas vorgebildet, in Berlin war sie in einer jüdisch-politischen Organisation aktiv gewesen. 1937/38 begannen wir, mit den jüngeren Emigranten politische Schulungen zu machen, „cursinhos“ sagen wir hier in Brasilien. Politische Schulungen auf marxistischer Basis, vor allem in politischer Ökonomie.

Konnten Sie von hier aus wieder Kontakt zur KPO aufnehmen?

Kontakt ist zuviel gesagt. Die KPO schickte damals gelegentlich Material. Die Zentrale war zuerst in Paris, später konnten Thalheimer und Brandler gerade noch nach Cuba fliehen. Leider ist Thalheimer kurz nach dem Krieg gestorben.

In Argentinien bildete sich ab 1937 die von den linken Emigranten um August Siemsen gegründete Organisation „Das Andere Deutschland“. Gab es hier auch solche Exilorganisationen?

Ja, es gab zwei. Das Andere Deutschland und die Freien Deutschen, die in Verbindung mit der KP standen. Mit den Siemsen-Deutschen, also dem Anderen Deutschland, hatten wir Verbindung, wir unterstützten sie. Zu den Freien Deutschen bestanden auch Beziehungen, aber da wollte ich keineswegs rein. Sie verhielten sich genauso unpolitisch wie die KPD drüben. Aber beide Gruppen haben hier in Brasilien nicht so große Aktivitäten entfaltet wie etwa in Argentinien.

Das hing zum Teil wohl auch mit der Politik von Vargas zusammen...

Klar, es war im Grunde ein faschistisches Regime, es war alles verboten. Wir sind mit der größten Vorsicht zusammengekommen. Wenn wir uns trafen, haben wir immer irgendwie einen Tisch gedeckt mit Tee, ein bißchen Gebäck, um zu sagen, wir sitzen gemütlich zusammen. Jahrelang, ja jahrzehntelang ging das so. Im Grunde haben wir die meiste Zeit hier unter Diktaturen gelebt. Aber wir haben uns in all der Zeit immer getroffen, um Diskussionen zu führen und uns über die Situation hier und in der ganzen Welt zu informieren. Bis heute beziehe ich die linke theoretische Zeitschrift „Monthly Review“ aus den USA, lange Zeit hielt ich auch die „New Left Review“ aus London.

Dachten Sie während des Zweiten Weltkrieges, Sie würden so lange in Brasilien bleiben, bis das NS-Regime besiegt wäre, und dann nach Deutschland zurückkehren, oder entschieden Sie sich bald, hier bleiben zu wollen?

Ich habe nie Pläne gemacht. Zunächst habe ich hier geheiratet, dann bekamen wir zwei Kinder, die hier in die Schule gingen usw. Da gab es genug Beziehungen zu diesem Land. Und außerdem haben wir uns hier nicht schlecht gefühlt, abgesehen von den Diktaturen, die dauernd herrschten. Die Menschen sind hier überwiegend sehr sympathisch, zugänglich, offen usw. – alle, die Brasilien besuchen, bestätigen das. Und außerdem: womit hätte ich weggehen sollen? Ich habe hier schwer gekämpft, um wirtschaftlich überleben zu können, jahrelang, fast jahrzehntelang. Ich hätte nichts gehabt, womit ich in Deutschland hätte anfangen können.

Nach der Gründung der DDR hatte der sozialistische deutsche Staat für viele politische Emigranten eine große Anziehungskraft. War die DDR für Sie kein Thema?

Nein. Ich war zwei- oder dreimal dort, um meinen Bruder in Magdeburg zu besuchen. Er war im KZ zur KPD übergetreten. Einmal war ich mit meiner Frau da, ein anderes Mal mit meinem anderen Bruder, der in Frankfurt am Main lebt. Wir haben uns als Brüder unterhalten und verständigt. Mein Bruder war Abgeordneter im Stadtparlament von Magdeburg, er stand somit positiv zum Regime. Ich habe das nie so ganz verstanden. Wir haben keine kritischen Gespräche über die dortigen Verhältnisse geführt.
Es gab verschiedene Leute aus der KPO, Ex-KPO sagen wir, die in der DDR höhere Posten einnahmen. Einer war Robert Bialik aus Breslau, den ich eben erwähnt hatte. Er war insgesamt fünf Jahre im Zuchthaus, überlebte – ich weiß nicht genau wo und wie – und kam nach dem Krieg in die DDR. Dort gaben sie ihm zuerst hohe Posten. Aber als er sah, was für eine Korruption und Mißwirtschaft herrschte, ging er immer mehr auf Distanz. Daraufhin versetzte man ihn auf niedrigere Posten, und schließlich haute er ab. Zuerst schickte er seine Frau nach Westberlin – das war vor dem Mauerbau –, und irgendwann ging er auch. Die Westdeutschen empfingen ihn natürlich mit offenen Armen und benutzten ihn als Propaganda gegen die DDR. Er machte aktiv mit, trat im Radio und Fernsehen auf und kritisierte die Zustände in der DDR. Das ging so lange, bis es denen in der DDR zu bunt wurde. Sie schnappten ihn irgendwann und brachten ihn wieder ‘rüber in die DDR. Danach hat man nie mehr von ihm gehört.

Sie erwähnten eben, daß Sie in politischen Zirkeln zusammenkamen. Bestanden diese Zirkel überwiegend aus Brasilianern, oder waren darin immer noch die alten Emigranten?

Es waren die Emigranten. Für Emigranten war es immer ein bißchen schwierig, sich in hiesige Organisationen zu integrieren. Aber wir hatten Verbindungen zu brasilianischen politischen Organisationen, ohne bei ihnen direkt aktiv zu sein. Wir hatten eine Zeitlang auch Verbindungen zu emigrierten Portugiesen. Als in Portugal noch das Regime von Salazar existierte, gab es hier portugiesische Emigranten.

Die Kontakte zu den KPO-GenossInnen in der ganzen Welt haben Sie immer aufrecht erhalten?

Ja, immer, und ich bekam auch immer Material geschickt.

Fühlten Sie sich immer als Emigrant, oder gab es irgendwann einen Moment, an dem Sie begannen, sich als Brasilianer zu fühlen?

Ich kann nicht sagen, ob ich mich als Brasilianer fühle oder nicht. Dieser Tage fragte mich im Fahrstuhl des Hauses, wo ich wohne, eine junge Frau, ob ich nicht Deutscher sei. Ich sagte ihr, ich sei Deutscher gewesen, heute sei ich Brasilianer, denn ich sei ja schon sechzig Jahre hier. Wenn mich einer fragt, ob ich Deutscher bin, sage ich nein. Aber was ist der Unterschied? Ich fühle mich in erster Linie als Mensch, fühle mich im großen und ganzen hier wohl und bin froh, daß wir im Moment keine Diktatur haben, die wir soviele Jahrzehnte hatten.

Seit wann haben Sie einen brasilianischen Paß?

Nach dem Krieg haben wir uns einbürgern lassen. Ich habe keinen deutschen Paß mehr. Man muß ja seine Staatsbürgerschaft ablegen, um die neue zu bekommen. Es gibt viele, die beide Pässe haben, aber dafür muß man schwindeln und den Deutschen sagen, man sei nicht Brasilianer. Das habe ich jedoch nicht nötig, dann reise ich eben als Brasilianer.

Vielleicht noch eine Frage zur politischen Entwicklung hier in Brasilien. Es gibt seit 15 Jahren die PT, die Arbeiterpartei, eine linke sozialistische Partei, die aber keine orthodoxe KP ist. Ist die PT für Sie eine neue politische Heimat geworden, oder sehen Sie sie eher mit Sympathie von außen?

An sich ist es natürlich äußerst erfreulich, daß sich eine solche Partei gebildet hat. Die PT ist praktisch die einzige Partei, die von unten entstanden ist, während die anderen Parteien Gründungen von oben sind. Allein daß die PT eine Partei von unten ist, ist allerhand. In ihr haben sich eine Menge Leute entwickelt, sie haben viele gute Mitarbeiter. Natürlich ist die Linie sozialdemokratisch. Von Marxismus ist nicht viel übrig geblieben. Das stört mich etwas. Praktisch wird davon ausgegangen, daß der Kapitalismus immer existiert hat und immer existieren wird. Der Kampf gegen den Kapitalismus und sein eventuelles Ende werden sehr wenig betont. Das gesamte Denken spielt sich innerhalb des Kapitalismus ab. Es wird alles Mögliche kritisiert, aber nur innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse. Das kritisiere ich still und leise, denn wem will man das sagen? Entweder einer weiß es und macht mit – oder nicht. Aber auch so ist es allerhand, daß sich hier, in diesem Riesenreich, eine Arbeiterpartei entwickelt hat und sie so stark geworden ist, das ist äußerst positiv.

Das Gespräch führten Gert Eisenbürger und Gaby Küppers im Januar 1996 in São Paulo.